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Dyadentheorie der Führung – Sind Sie in der Ingroup oder in der Outgroup?

Dieser Beitrag ist Teil der Serie Teamstruktur

Dieser Beitrag ist Teil der Serie Führungstheorien

Dieser Beitrag ist Teil der Serie Beziehungsqualität

Führende sortieren ihre Mitarbeitenden schnell, aber unbewusst, in zwei Gruppen ein: In eine, die sie als leistungsstark und loyal sehen (Ingroup) und in eine, in denen sie durchschnittliche oder unterdurchschnittliche Performer sehen, von denen sie auch nicht sicher sein können, wie sie sich in schwierigen Situationen verhalten (Outgroup). Nachfolgend wird dieser Prozess beschrieben und es werden die Folgen für die Mitarbeitenden veranschaulicht.

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Bekommen andere im Team mehr Zeit für einen persönlichen Austausch mit Ihrer Vorgesetzten als Sie? Erhalten Sie mehrheitlich die anstrengenden, aber wenig prestigeträchtigen Aufgaben? Dann aufgepasst! Die einflussreiche Dyadentheorie der Führung sieht die Art und Weise der Beziehungsqualität zwischen Führendem und Geführten als Schlüssel für Zufriedenheit und Aufstiegschancen. Diese ist im Team aber nicht gleichverteilt. Anlass ist die Beobachtung, dass Führungskräfte sich in der Regel offensichtlich unterschiedlich gegenüber ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern verhalten. Auch verhalten sich Mitarbeiter einer Arbeitsgruppe wiederum unterschiedlich gegenüber Vorgesetzten. Damit bildet die Dyadentheorie, die heute als Leader-Member-Exchange Theory firmiert (LMX-Theorie), einen Gegenpool zu den Führungstheorien, die davon ausgehen, dass Vorgesetzte beständig und undifferenziert ein relativ gleiches Führungsverhalten an den Tag legen – auch wenn dies in vielen Organisationen gefordert wird. Leadership Insiders erklärt diese Theorie und weist höchst brisante praktische Folgen für die eigene Entwicklung aus.

Die Grundidee

Die Grundidee der LMX-Theorie hat ihren Ursprung in der Beobachtung, dass Führende sich nicht gegenüber allen ihren Mitarbeitern gleich verhalten, sondern die stets begrenzten Ressourcen selektiv auf ihre Mitarbeitern verteilen. Damit gehen sie qualitativ unterschiedliche Austauschbeziehungen mit ihren Mitarbeitern ein, d. h. die Führer-Geführten-Beziehung wird hinsichtlich ihrer Qualität weder über alle Geführten hinweg als homogen (gleichartig) angenommen noch wird ursprünglich davon ausgegangen, dass dies überhaupt erstrebenswert sei. Vielmehr gebe es so viele unterschiedliche Führungsbeziehungen wie eine Arbeitsgruppe Mitarbeiter hat.

So wird angenommen, dass die einzelnen Führungsbeziehungen auf einem gedachten Kontinuum zwischen den Polen „low-quality exchange relationships“ und „high-quality exchange relationships“ (Graen/Uhl-Bien 1995) variieren. Die Qualität der Führungsbeziehungen ist auf diesem Kontinuum jedoch nicht normalverteilt. Hochqualitative, soziale Austauschbeziehungen bestehen nur mit wenigen Mitarbeitenden. Bei der Mehrheit gilt hingegen: Leistung gegen Gegenleistung auf eher formaler Basis, durchaus in sich fair, aber das wars.

Der Prozess der differenzierenden Gruppenbildung

Wie kommt es dazu? Dieser in der frühen Phase der Theoriebildung im Vordergrund stehende Prozess  der  Differenzierung (differentiation) in unterschiedliche Beziehungsqualitäten können wir uns so vorstellen: Mit dem Eintritt eines Mitarbeiters in eine Organisation beginnt eine Folge von Rollenepisoden, die sich jedoch im Laufe der Zeit verändern. In einer ersten Phase, der Rollenübernahme (role-taking), treffen Führender und Geführte erstmalig aufeinander (Vorgesetztenwechsel, Neueinstellung). Ihre Interaktion ist aufgrund einer eingeschränkten Informationsbasis durch organisational festgelegte Rollen geprägt. Noch übergreifend ist die Beziehungsqualität eher niedrig und gleicht im Grunde einem ökonomischen Austausch. In der zweiten Phase, der Rollenbildung (role-making), tauschen die Akteure gegenseitige Erwartungshaltungen aus (v. a. zu den Aufgabenanforderungen bzw. zur Güte der Aufgabenerledigung) und gewinnen dabei ein besseres Verständnis voneinander. Dieser Austausch ist immer noch begrenzt, bildet jedoch eine Art „Testphase“. Nach einiger Zeit der Zusammenarbeit tritt die dritte Phase, die der Rollenstabilisierung (role-routinization), ein, d. h. jeder der beiden Interaktionspartner weiß, was er vom anderen erwarten kann – oder eben auch nicht. Die Führungskraft ordnet im Regelfall implizit daraufhin seine Mitarbeiter zwei Gruppen zu:

  • Die eine Gruppe zeichnet sich durch eine hohe Qualifikation und Motivation aus. Die Geführten verhalten sich ihrem Führer gegenüber loyal und sind bereit, über das arbeitsvertraglich erwartbare Maß hinaus Leistung zu erbringen. Sie bilden die sogenannte In-Group. Zwischen Führer und Geführten besteht eine respektvolle, vertrauensorientierte Beziehung. Der Führer gewährt diesen Geführten besondere Handlungsspielräume, unterstützt sie fachlich und engagiert und sorgt dafür, dass sie von Belohnungen besonders profitieren. Sehr viele empirische Studien, auch Metastudien, weisen positive Effekte auf Einstellungen und andere organisationsrelevante Größen nach. Es existieren klare, positive Zusammenhänge reifer LMX-Beziehungen zu Leistung, Commitment und Arbeitszufriedenheit. Auch geht eine gute Beziehungsqualität mit der Wahrnehmung von prozeduraler und distributiver Gerechtigkeit
  • Die andere Gruppe setzt sich aus Geführten zusammen, deren Leistungsvermögen bestenfalls den üblichen Standards entspricht. Diesen Geführten gelingt es nicht, eine intensive Beziehung zur Führungskraft zu entwickeln und sie werden demnach bei der Vergabe von Chancen und Belohnungen nur am Rande berücksichtigt. Austauschtheoretisch bedeutet dies, dass ihre in den Augen des Führers geringeren Investments nur mit vergleichbar geringen Erträgen abgegolten werden. Diese Geführten bilden die Out-Group.

Folgen für die eigene Entwicklung

Wir alle sehen, dass sich Vorgesetzten gegenüber Mitarbeitenden nicht gleich verhalten. Dies kann verschiedene Ursachen haben bis hin zur Missgunst. Diese Führungstheorie erklärt den Vorgang aber rational. Die Ressourcen der Führenden sind begrenzt (v. a. aufgrund von Zeit, Kraft, Umstände) und das Leistungsvermögen, also Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft der Mitarbeitenden, sind im Team unterschiedlich.

Da stellt sich natürlich schon aus Vorgesetztensicht die praktische Frage, wie damit umzugehen ist. Normativ könnte mit Recht formuliert werden, dass eine vornehme Führungsaufgabe darin bestünde, alle in einem Team besser zu machen und dort mehr zu investieren, wo der erwünschte Zustand noch nicht erreicht ist. Aber wie soll man sich verhalten, wenn die eigenen Ressourcen selbst begrenzt sind und der Erfolg der eigenen Anstrengung ungewiss ist? Die Leader-Member-Exchange Theorie findet hier eine Antwort: Pflege alle Beziehungen, aber investiere dort mehr, wo der Ertrag für die Gruppe und die Sicherung der eigenen Position höher ist. Die unfreiwillige „Mitgliedschaft“ in einer Ingroup oder Outgroup ist übrigens zwar im Zeitablauf recht stabil, aber nicht fix.

Dabei wird von Alltagsgruppen ausgegangen, die leistungsbezogen in sich recht heterogen sind. In Hochleistungsteams besteht diese Problematik kaum. Da sind alle aus Führungssicht top, damit praktisch in der Ingroup, und ein differenziertes Führungsverhalten ist in dieser Hinsicht nicht notwendig. Wäre es notwendig, würde man sich nach kürzester Zeit von dem Betreffenden trennen, um den Erfolg nicht zu gefährden. Auch wenn Ingroup und Outgroup in der Führungspraxis nur gedankliche Konstrukte sind, sind die Folgen höchst real. Die eigene Entwicklung wird zweifach gefördert oder gehemmt. Erstens dadurch, dass man die Aufgaben (nicht) erhält, die einen selbst weiterbringen (Lernchancen!) und die einen besonders wertvolle Beiträge für die Gruppe ausweisen lassen (Beurteilung! Ansehen!) und zweitens formale Empfehlungen der Führenden für begehrte Positionen nur an die gehen, die in den Augen der Führenden besonders Leistungsstarke und loyale Mitarbeitende sind. Mitarbeitende tun gut daran, ihre eigene Wahrnehmung, in welcher Gruppe sie sich befinden, abzusichern, denn empirisch klaffen hier nicht selten Lücken. Eine schöne Testfrage für Sie, die ich aus einem etablierten Messinstrument mitgebracht habe (vgl. Schyns/Paul 2014), lautetete hier:

Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass Ihre Vorgesetzte Ihnen auf ihre Kosten aus der Patsche hilft

Beantworten Sie dies eindeutig positiv, am besten gestützt durch einige Indizien, sieht es erst einmal nicht schlecht aus. Fällt die Antwort negativ oder unsicher aus, gilt es in der nächsten Zeit, die Beziehungsqualität zu ihrer Führungskraft genauer und vergleichend zu beobachten.

Erdogan, B.; Bauer, T.N. (2016): Leader-member exchange theory: A glimpse into the future. In: Bauer, T.N.; Erdogan, B. (Hrsg.): The Oxford Handbook of Leader-Member Exchange. Oxford/New York, S. 413–423

Graen, G.B.; Uhl-Bien, M. (1995): Relationship-based approach to leadership: Development of leader-member exchange (LMX) theory of leadership over 25 years: Applying multi-level multi-domain perspective. In: The Leadership Quarterly 6(2), S. 219–247

Schyns, B., & Paul, T. (2014). Skala zur Erfassung des Leader-Member Exchange (LMX 7 nach Graen & Uhl-Bien,   1995). Übersetzung.   In   D.   Danner   &   A.   Glöckner-Rist   (Eds.), Zusammenstellung sozialwissenschaftlicher Items und Skalen . ZIS Version 16.00. doi: 10.6102/zis2

Weibler, J. (2016): Personalführung, 3. Auflage, München (4. Auflage erscheint Ende 2022)