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Partizipationserfordernisse in aktuellen Führungskonzepten – Führungskräfte verlieren ihre Definitionsmacht

Die Auffassungen darüber, wer (ebenso: warum, wie und inwieweit) bei Entscheidungen beteiligt werden soll, gehen deutlich auseinander. Diese Frage wird in aller Regel unter dem Label »Partizipation« verhandelt. Und damit ist zweifellos eine Kernfrage der Führung aufgegriffen, bei der es wie so oft um nicht weniger als eine erfolgreiche Führung geht.  Viel wird gerade im Rahmen der New Work-Diskussion über Partizipation gesprochen. Ist dies ein Beitrag zur Humanisierung der Arbeit oder einer zur Festigung der Hierarchie mit anderen Mitteln? Leadership Insiders reflektiert über diese Frage.

Einordnung der Partizipation

Gorodenkoff / Shutterstock

Partizipation am Führungsgeschehen wurde traditionell immer so gedacht, dass eine Person, die die Entscheidungsgewalt hat, berechtigt ist, vor deren Ausübung andere Personen oder ein Team daran zu beteiligen, die Entscheidung aber am Ende ganz allein selbst trifft oder die Rahmenbedingungen definiert, unter denen andere diese Entscheidung – ausnahmsweise – autonom treffen können. In Organisationen wird diese Person den anderen durch eine höhere Instanz regelmäßig vorgesetzt, das heißt, die anderen haben auf die Besetzung derjenigen Person, die ihnen Beteiligung gewähren kann, keinen Einfluss – sehen wir hier von einigen Entwicklungen bei alternativen Organisations- und Führungsformen ab (z. B. Wahl der Vorgesetzten) und vernachlässigen rechtliche Bestimmungen zur institutionalisierten Mitbestimmung, die sich auf einer anderen Ebene manifestiert (z. B. bei managementbezogenen Entscheidungen wie Kündigungen).

Diese Beteiligung ist im Grunde bei jeder Entscheidung neu zu überdenken und jederzeit auch wieder aufhebbar – und zugestandene Macht damit grundsätzlich rückholbar. Dies bedeutet gleichsam, dass bestehende hierarchische Regelungen in Organisationen, zumindest was die Führungsbeziehung angeht, durch Partizipationszugeständnisse nicht verwässert werden. Die Machtposition bleibt erhalten, auch wenn Macht abgegeben wird. Faktisch wird sie sogar durch ein Mehr an Akzeptanz gefestigt, sofern mitarbeiterseitig die Erwartung der Beteiligung besteht.

Aktuelle Führungskonzepte

In den letzten Jahren sehen wir jedoch Führungskonzepte, die sich weder auf die Individualentscheidung der Führungsperson verlassen möchten, Partizipation zu gewähren, noch auf die zufällige Kraft von Regeln (Führungsgrundsätzen) oder Soll-Werten (Führungskultur) vertrauen möchten. Vielmehr nehmen sie den Führenden von vornherein Entscheidungsmacht ab. Diese verlieren dann ihre Definitionsmacht über die Beteiligung anderer bei ihren eigenen Entscheidungen. Hierzu wählen sie entweder ein Arbeitssetting, das, wie etwa bei der agilen Führung, allen eine Rolle zuweist, die weitgehend, aber definierten Dispositionsspielraum gewährt, oder sie halten für die Umsetzung der Führungsaufgabe mehrere Möglichkeiten (parallel) vor, wie es bei der pluralen Führung der Fall ist. Beide Konzepte sind in ihrer praktischen Nachfrage zunächst weniger durch veränderte Wertvorstellungen zur Ausgestaltung von Führungsbeziehungen getrieben, sondern sind vielmehr als Ausfluss (teils) veränderter Organisationslogiken (in Reaktion auf Umweltdynamiken) zu verstehen, die schlicht in der Folge veränderte Führungslogiken bedingen. Schauen wir uns das einmal genauer an.

Agiles Führen

Das Führungskonzept der agilen Führung entspringt dem Agilitätsgedanken der Organisation. Dieser wurde dort zur Beschleunigung von Innovationen entwickelt, die im bürokratischen Dickicht, in einer Nabelschau, durch Machtspiele oder in einer  Verantwortungsdiffusion zu versanden drohten. Mit einfachen Leitgedanken wie

»Individuen und Interaktionen höher als Prozesse und Werkzeuge gewichten«,

»funktionierende Regeln und Programme gegenüber umfassender Dokumentation priorisieren«,

»die Zusammenarbeit mit dem Kunden suchen und schätzen und sich nicht dauernd auf Vertragsverhandlungen stützen« oder

»Reaktion auf Veränderung statt Befolgen eines Plans zu priorisieren«

wurden Verhaltensweisen als erwünscht ausgewiesen, die auf Dezentralität, Schnelligkeit, Flexibilität und Unkonventionalität setzten. Dynamische Arbeitsumgebungen gehen hier damit einher, dass sie durch weitgehend selbstständige Teams ausgefüllt werden, die keine:n formale:n Vorgesetzte:n mehr benötigen, sondern stattdessen eine Führungsperson, die sich nur noch flankierend in einer funktionalen (!) Rolle wiederfindet, beispielsweise in der Erwartung,  übergeordnete Interessen einzubringen. Strukturelle Regelungen übernehmen weitgehend frühere persönliche Entscheidungen der Vorgesetzten, sodass der an die Führungsperson gekoppelte Partizipationsbegriff hier zugunsten eines organisatorisch gerahmten Autonomiebegriffs aufgegeben werden muss. Der Umfang der Autonomie hängt von vorgesteuerten Entscheidungen derjenigen ab, die die Einführung neuer Organisationskonzepte zu verantworten haben, in der Regel also den Top-Führungskräften. Dort werden durch strategische Wahl wie die einer Digitalisierung von Geschäftsprozessen daraus entspringende Leitvorstellungen zur Art und Weise der Teamarbeit oder zu zentralen Prinzipien (z. B. zur Zusammenarbeit der Instanzen) und Methoden (z. b. Scrum) festgelegt, wie viel Partizipation Mitarbeitenden und Führungskräften (!) bei der Definition und Ausübung ihrer Aufgaben, orientiert an strategischen Anforderungen der Organisation, gewährt wird – allerdings auch, für wie viele das zutrifft. Die Entscheidung darüber wird wiederum aus vorwiegend instrumentellen Gründen getroffen. So erfolgt beispielsweise die Entscheidung, dem direkten Vorgesetzten die Kontrolle im Tagesgeschäft zugunsten des Teams zu entziehen, aus einer Notwendigkeit heraus, das Agilitätskonzept konsequent umzusetzen. Das agile Führen, wozu viel geschrieben, aber wenig gesagt wird, kann am besten als eine Annahme derjenigen Anforderungen verstanden werden, die sich aus dem jeweiligen agilen Organisationskonzept ergeben.

Plurales Führen

Anders verhält es sich, wenn die Führung von vornherein vielfältig gedacht wird. Dafür steht das Konzept der pluralen Führung, welches verschiedenste Ausdifferenzierungen kennt. Hier wird Führung sowieso nicht mehr positionsgebunden definiert, sondern als Prozess aufgefasst, der sich durch ein dynamisches Interaktions- und Beziehungsgeschehen auszeichnet. Führung entwickelt sich erst in diesem Geschehen durch kommunikatives Handeln. Die Frage der Führung wird also auf die intersubjektive Ebene gezogen, das heißt: Nur wenn sich das Team oder das Team und der oder die Vorgesetzte darüber verständigen, wer Führungsaufgaben wie wahrnimmt, ist wird Führung manifest. Diese Sicht öffnet den Blick dafür, dass Führung in einer Einheit verteilt oder gar in einer Einheit gemeinschaftlich wahrgenommen werden kann.

Diese Argumentation folgt aber eher als bei der agilen Führung der Fall ist, nicht zwingend einer reinen funktionalen Logik, die sich natürlich auch dort feststellen lässt (z. B. Verringerung der Arbeitsbelastung; Förderung der Entscheidungsqualität, Minimierung eines Missbrauchs von Führung), sondern ist auch mit einem kritisch emanzipatorischen Anliegen verbunden, was der Partizipation, kommend aus dem politischen Bereich, seit jeher anhaftet. Dieses Bestreben nach der Teilung von Macht zwischen Personen wendet sich dagegen, dass sich immer nur wenige Individuen in Führungspositionen befinden (und damit Macht über andere haben), während die meisten anderen von Führungsprozessen ausgeschlossen sind. Gemeinsam ist den verschiedenen Ausprägungen einer pluralen Führung, dass es angesichts vielfältiger Aufgaben und Verantwortungen nicht nur eine Person geben sollte, die in einer Einheit führt oder diesen Anspruch erhebt (Soloführung). Je nach Problemsituation ergeben sich dafür diverse Lösungen (duale Führung, Führungsdual, Distributed Leadership, Shared Leadership), abhängig von der Frage, wer überhaupt führt und von wem und wie diese Person bestimmt wird (vom Vorgesetzten, vom Team selbst; durch Benennung, durch Wahl, durch Los …) und wie lange diese Person führt (beispielsweise bis zur Übernahme einer neuen Aufgabe, bis zum Ausscheiden aus der Organisation oder von vornherein zeitlich begrenzt, wie es aus Projekten bekannt ist).

Fazit

Die Tatsache, dass Organisationsmitglieder an Entscheidungen der Führungskraft partizipieren, sagt noch nichts über den Beweggrund der Partizipation aus. Dieser kann rein instrumentell sein (bessere Entscheidungsqualität, erhöhte Bindung an die Organisation) und damit allein auf die Verbesserung der Zahlen abzielen, oder sich Humanisierungsüberlegungen verpflichtet fühlen. Letzteres kommt im Übrigen aber ohne eine Zusatzannahme nicht aus: Menschen möchten an der Gestaltung der für sie relevanten Umwelt mitwirken. Und das Arbeitsumfeld ist eine solche relevante Umgebung. Ein Mitentscheid (einfacher Rat, gezählte Stimme oder Vetoposition) wäre hiernach dem Menschen gemäß und eine Förderung dieses Einflusses wäre somit ein Beitrag zur Humanisierung der Organisation (inklusive der individuellen Freiheit, auf Beteiligung verzichten zu wollen). Diese Unterscheidung im Beweggrund zu kennen, sagt wiederum viel über die Organisation selbst aus.

Aber reicht es heute noch aus, festzustellen, ob und wie stark sich Organisationsmitglieder an Entscheidungen beteiligen können? Ich denke nicht. Angesichts des Vorwurfs einer schwindenden Solidarisierung des Managements mit sozialökologischen Anliegen und Vorstellungen der Zivilgesellschaft einerseits und der sehr fragwürdig gewordenen einseitigen Orientierung an rein ökonomischen Zielen andererseits erscheint eine Beteiligung nur dann von übergeordnetem Wert, wenn die Eingebundenheit des wirtschaftlichen Handelns in die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft dadurch deutlicher betont und gelebt wird. Partizipation  kann somit im Unternehmenskontext nun nicht mehr einfach als normative Forderung verstanden werden, an irgendwelchen Entscheidungen beteiligt zu werden, sondern muss, um ernst genommen werden zu können, als eine Partizipation verstanden werden, die ethisch legitime Entscheidungen anstrebt. Dann trägt sie dazu bei, dass Führung das wird, was sie ursprünglich sein wollte: eine genuin generative Kraft zur Entwicklung der Gemeinschaft in eine bessere Welt.

Anmerkung: Dies ist eine leicht veränderte und deutlich gekürzte Fassung einer Abhandlung von mir, die im nachfolgenden Werk erschienen ist. Dort finden sich auch alle verwendeten Quellen.

Weibler, J. (2021): Zur Rolle von Partizipation in Führungskonzepten früher und heute, in Reinhard-Mohn-Institut für Unternehmensführung (Hrsg.): Was heißt unternehmerische Verantwortung heute? Reflexionen zum 100. Geburtstag Reinhard Mohns, Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh, 56-75