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Führungsmedien – oder: Wenn die Situation führt

Peter Stuckings / Shutterstock

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Führung im Sinne einer Verhaltensbeeinflussung von anderen assoziieren wir üblicherweise mit entsprechend agierenden Personen: einem CEO, einem Teamleiter oder, wenn es sich um eine laterale Führung handelt, einer Kollegin. Dies ist jedoch nur die eine Seite der Führungsmedaille. Führung erfolgt prinzipiell nämlich auch auf grundlegend andere Art und Weise, sprich: indirekt, entpersonalisiert, über nicht immer sofort erkennbare, gleichsam durchaus im Verborgenen wirkende „Führungs-Kräfte“. Leadership Insiders liefert Grundlagenwissen zu dieser bedeutsamen zweiten Dimension der Führung.

Die Verhaltensformel und das Experiment

Führung zielt am Ende auf eine akzeptierte Beeinflussung des Verhaltens anderer (Weibler 2016). Jemand soll etwas tun oder unterlassen. Gleichermaßen sind dem Verhalten vorgelagerte Größen Gegenstand der Beeinflussung: Werte, Einstellungen, Erwartungen, Motive, Wissen und mehr. Wer führen will, sollte also verstehen, wie menschliches Verhalten sich allgemein erklärt – sei es das Verhalten der anderen, sei es aber auch das eigene Verhalten.

Den vielleicht wichtigsten Beitrag zum Verständnis des Verhaltens lieferte der Sozialpsychologe Kurt Lewin (1890-1947), der im Rahmen seiner Feldtheorie folgende, ebenso einfache wie grundlegende Verhaltensformel aufstellte:

V = f (P, S)

Die Legende dieser Formel liest sich unkompliziert: V bedeutet Verhalten und ist eine Funktion der Person (P) und der Situation (S). Kurzum: Unser Verhalten resultiert aus dem, wer wir sind und was wir wollen (Persönlichkeit und Identität, Werte und Motive), aber grundsätzlich auch aus der Situation, in der wir uns befinden. Gerade in unserer heutigen Zeit, in der Individualität, Authentizität, Werte und deren Wandel u. ä. groß geschrieben werden, neigen wir dazu, Verhalten überwiegend als Funktion der Person zu interpretieren. Der Situationseinfluss wird dann marginalisiert. Beobachte ich, dass sich jemand freundlich verhält, ist er anscheinend ein freundlicher Charakter, verhält sich jemand aggressiv, wird es auf die Natur dieses Menschen zurückgeführt. In der Wissenschaft spricht man, wenn man die Überbetonung des Personalen als Verhaltensverursachung wertend beschreiben möchte, gar von einem fundamentalen Attributionsfehler, dem wir alle prinzipiell unterliegen. Wir tendieren so gesehen potenziell zu einer Verkürzung der Verhaltensformel im Sinne von: V = f (P).

LaCameraChiara / Shutterstock

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Darauf, dass dies fehlgehen dürfte, verweist archetypisch das vielleicht berühmteste sozialwissenschaftliche Experiment – das vom US-Psychologen Philip Zimbardo im Jahre 1971 durchgeführte Stanford-Prison-Experiment (SPE), welches viele als „Das Experiment“ (mit Moritz Bleibtreu in der Hauptrolle) zumindest von seiner filmischen Adaption her kennen.

Worum ging es dabei?

20 durch und durch normale männliche Probanden wurden per Losentscheid in zwei Gruppen eingeteilt: 10 übernahmen die Rolle des „Wärters“, 10 übernahmen die Rolle des „Inhaftierten“ in einem fiktiven Gefängnisnachbau im Keller der Stanford University. Was dann geschah, bezeichnete Zimbardo (2008) im Nachhinein als „Macht der Situation“ und als „Luzifer Effekt“. Die „Wärter“ entwickelten zunehmend sadistische und menschenverachtende Verhaltensweisen, die „Gefangenen“ wurden allmählich gebrochen und zeigten mitunter Symptome extremer Depression. Das Experiment musste schließlich vorzeitig abgebrochen werden, da man um Leib und Leben der Teilnehmer fürchten musste. Abgesehen vom hier nicht näher betrachteten „Luzifer Effekt“ stehen die Ergebnisse des SPE bis heute exponiert für die These, dass menschliches Verhalten auch außerhalb von Zwang und Gewalt häufig weit weniger von der Person bzw. der Persönlichkeit des Einzelnen geprägt wird, als vielmehr von der Situation, in der der Einzelne sich befindet. Im Extrem kann dann sogar gelten: V = f (S).

Von der Bedeutung der Führungssituation zum Einsatz der Führungsmedien

Überträgt man die Erkenntnis, dass die Situation das Verhalten machtvoll beeinflussen kann, auf den Führungskontext, dann kommen wir zu dem, was in der Führungsforschung von Wunderer (1975) früh als indirekte Führung bezeichnet und von Türk (1995) später unter dem Signum der Führungsmedien differenzierend bedacht wurde. Der Begriff verweist dabei auf mehrere grundlegende Führungsmethoden, die – verglichen mit der direkten (face-to-face-)Führung durch Führungskräfte – wesentlich anonymer, unmerklicher und tendenziell „entpersonalisiert“ ablaufen. M.a.W.: Hier wirken keine sichtbaren Führungskräfte, sondern mehr oder minder „unsichtbare Führungs-Kräfte“ auf die Mitarbeitenden und deren Verhalten ein. Konkret erachtet Türk dabei die Technologie, die Bürokratie, die Differenzierung und die Kultur als wichtigste Führungsmedien. Die Art und Weise, wie diese Medien jeweils im Konkreten Führungsfunktionen erfüllen, lässt sich übersichtsartig verdeutlichen:

  • Führung durch Technologie

Die anschaulichste und historisch besehen auch bedeutsamste Ausdrucksform dieses Führungsmediums ist die Fließbandarbeit. Bei dieser Führungsweise wird die Verhaltenserwartung an den Geführten durch die technologische Gestaltung der Arbeitssituation völlig unpersönlich artikuliert und zudem unmittelbar kontrolliert. Führung erfolgt hier effizient durch den (verhaltenssteuernden) Takt des Fließbandes. Selbstverständlich lassen sich auch weitere Ausformungen der Technologie in diesem Sinne interpretieren: Arbeitszeiterfassungssysteme fordern die Mitarbeiter automatisch zu einem, in der Regel gewisse Freiheiten beinhaltenden korrekten Umgang mit dem arbeitsvertraglich festgelegten Zeitbudget auf. Eine diesbezügliche Kontrolle des Vorgesetzten entfällt. Die zunehmende Nutzung von PCs im Außendienst ist ein weiteres Beispiel: Durch die gesteuerte Menüabfolge sowie vordefinierte Feldbelegungen wird sichergestellt, dass die sachliche Bearbeitung eines Vorgangs auch ohne Anwesenheit von Vorgesetzten fehlerfrei vollzogen werden kann. Gleichzeitig wird die Produktivität des Mitarbeiters zeitnah erfasst, da seine „Arbeitsresultate“ einer zentralen Organisationseinheit überspielt werden. Analoge Praktiken finden sich bei Tätigkeiten, wo standardisiert und computerisiert Kundenaufträge (teilweise) abgearbeitet werden können (z.B. Banken, Autovermietungen, Aufnahme in Krankenhäusern, Antragsbearbeitung in Verwaltungen etc.). Manche Apps begreifen Verhalten bereits umfassender, hier im Sinne des Erhaltens der Leistungsfähigkeit: Sie sind smarte Führungs-Kräfte, die beispielsweise davor warnen, sich zu wenig zu bewegen oder selbstdiagnostisch biophysiologische Daten einspielen.

Die Technologie ist damit offensichtlich eine Form von nicht-personalisierter Führung, welche die personale Führung vor allem hinsichtlich ihrer sachlich-fachlichen Aufgaben weitgehend ersetzen bzw. gänzlich überflüssig machen bzw. die Selbstführung erleichtern kann.

  • Führung durch Bürokratie

Ein anderes – historisch gesehen ebenfalls sehr bedeutsames – Medium zur entpersonalisierten Führung ist die Bürokratie, die insbesondere im (technologisch schwieriger erschließbaren) Bereich der Verwaltungstätigkeiten breite Anwendung gefunden hat. Das Wesen der Bürokratie besteht darin, alle möglichen Arbeitsgänge durch generelle Regeln, Verfahren, Formulare u. ä. m. vorab so zu strukturieren, dass dem Einzelnen damit unmissverständlich bedeutet wird, wie er sich zur ordnungsgemäßen Erledigung seiner Aufgaben zu verhalten hat. Hier sind es also – an Stelle der Führungskraft – die geltenden Regeln, der einzuhaltende Instanzenweg oder die auszufüllenden Formulare, welche dem Mitarbeiter „sagen“, was er jeweils zu tun (oder zu unterlassen) hat.

  • Führung durch Differenzierung

Ein weiteres Medium zur entpersonalisierten Führung besteht in der sogenannten Differenzierung. Dies ist eine abstrakte Sammelbezeichnung für eine status- und positionsbezogene Unterscheidung der Mitarbeitenden in einer Organisation hinsichtlich verschiedener Kriterien. Von Bedeutung ist hier etwa die gezielte Herausbildung der Hierarchie, deren Positionen mit jeweils unterschiedlichem Einkommen, Einfluss und Ansehen verbunden sind, wodurch das Verhalten elementar beeinflusst wird. Denn die hierarchische  Differenzierung „sagt“ uns allen sehr deutlich, dass wir unseren materiellen ebenso wie unseren (beruflichen und privaten) sozialen Status stetig steigern können – kontinuierlicher Aufstieg in der Hierarchie vorausgesetzt. Der Kreis schließt sich nun insofern, als ein solches berufliches Fortkommen in aller Regel an ein erwartungsgemäßes Leistungsverhalten gekoppelt ist. Die (von den Führenden vorgenommene) Differenzierung durch Hierarchisierung bewirkt damit, dass die Geführten im Wettbewerb um die knappen Aufstiegspositionen stehen. Um diese Positionen zu erreichen, richten sie ihr Verhalten selbst so aus, wie es aus Sicht der Führenden bzw. der Organisation erwünscht ist.

  • Führung über Kultur

Das vierte Medium der entpersonalisierten Führung ist schließlich die Organisationskultur. Hierunter versteht man jene Werthaltungen und daraus abgeleiteten Handlungsweisen, die die Organisationsprozesse in charakteristischer Weise prägen. Der Begriff verweist auf den Umstand, dass jede Organisation (bzw. jeder ihrer Teilbereiche) eine bestimmte Kultur hat, die für das konkrete Leistungsverhalten der Organisationsmitglieder insofern maßgeblich ist, als sie wie ein ungeschriebener Verhaltenskodex auf die Mitarbeitenden einwirkt. Die führende, sprich: das Verhalten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beeinflussende Kraft sind hier also die gemeinsamen Werte. Diese gemeinsamen Werte können von Organisation zu Organisation sehr unterschiedlich ausgeprägt sein. Durch ein gezieltes Kultur-Management wird gewissermaßen von den Führenden der Versuch unternommen,  die (Arbeits- und Leistungs-)Werte der Geführten so zu beeinflussen bzw. zu verändern, dass Letztere sich schließlich von sich aus im Sinne der Ersteren verhalten.

Situationsframing im neuen Gewand: Nudging

Die angeführten Führungsmedien sind alles andere als neu, aber dennoch weiterhin praxisrelevant. Stärker als früher erkennt man allerdings die dysfunktionalen Wirkungen einer situativen Verhaltenslenkung, wenn sie veränderten Anforderungen nicht hinreichend angepasst werden kann: Wer sich sklavisch nach Maschinenvorgaben richtet und in Standardprozessen automatisiert agiert, denkt zu selten über Verbesserungen nach, die möglich sind und verliert seine Experimentierfreude. Wer zu sehr als Kulturtechnokrat daherkommt, verkennt das Subversive und Ko-Gestalterische einer jeden Kultur und wer auf konformistische Leiterkletterer in Organisationen setzt, verschließt sich der Frische des Unbefangenen und fördert die Verzweiflung an der starren, zu oft innovationsfeindlichen Macht der Hierarchie. Wie fast immer kommt es auf das Maß der Dosierung an.

Subtiler versucht dies eine neue Form der Verhaltensbeeinflussung, das Nudging. Unter einem Nudge (deutsch: Stups, Schubser, Rippenstoß) versteht man alle Maßnahmen, mit denen Entscheidungsarchitekten über die Situationsgestaltung

  • das Verhalten von Menschen in voraussagbarer Weise verändern wollen,
  • ohne zwangsweise Alternativen auszuschließen und
  • ohne ökonomische Anreize (stark) verändern zu müssen.

Die Nudging-Protagonisten, Richard Thaler, Wirtschaftswissenschaftlicher, und Cass Sunstein, Rechtswissenschaftler, halten es ebenfalls für erforderlich, dass die Verhaltensbeeinflussung zum Wohle des Individuums geschieht, also beispielsweise seine ökonomische oder gesundheitliche Situation verbessert (2011). Nun ja, dies liegt am Ende im Auge des Betrachters oder der Organisation und wird im günstigen Fall von den Betroffenen geteilt. Ein typischer Nudge ist beispielsweise die änderbare Voreinstellung einer Option (z.B. Organspender „ja“ ist voreingestellt und für „nein“ muss votiert werden – damit erreicht man empirisch eine erhebliche Erhöhung der Organspender) oder die Positionierung eines Gegenstandes in einem leichter erreichbaren Bereich (z.B. wenn man Obst in einer Kantine gut greifbar platziert und Süßigkeiten hingegen mit einem etwas längeren Gehweg verbindet, steigt der Obstkonsum an).

Um als Führungsmedium eingestuft zu werden, muss die Organisation einen Nudge bewusst für ein Führungsziel der Führungskraft einsetzen. Hier kommen vor allem Informations-Nudges infrage. Da empirische Daten zeigen, dass sich Menschen in ihrem Verhalten an dem Verhalten anderer orientieren, würde die zutreffende Angabe, dass 85% der Projektleiterinnen ihren Bericht termingetreu an ihre Vorgesetzte abgeben, bei den etwas entspannteren Projektleiterinnen ein verstärktes Augenmerk auf die Termintreue lenken. Oder die Information, dass 95% der gerade beförderten Führungskräfte in den letzten drei Jahren einen ihrer Mitarbeiter erfolgreich für ein Assessment-Center vorgeschlagen haben, würde die Neigung, eben solches zu tun, auch bei denjenigen erhöhen, die gerne die Besten in ihrem Wachstum behindern.

Führungsmedien sind mächtig, aber nicht allmächtig

Wie zu zeigen war, sind strukturelle Formen der Führung mächtig, auch wenn sie sich erst bei der Reflexion als solche erschließen. An sie sind im Übrigen dieselben Kriterien in der Beurteilung ihrer führungsbezogenen Auswirkungen zu stellen, wie es bei der Führung durch Personen gang und gäbe ist. Und wer ist mächtiger? Die Person oder die Umwelt? Zur Umwelt einer Person gehört natürlich mehr als das, was hier besprochen wurde. Wie so oft bedürfte es einer Einzelfallanalyse im Konkreten, aber wer dabei im Bewusstsein einer extremen Schwankungsbreite von einer 50:50-Verteilung ausgeht, hat alles in allem eine handlungsfähige Arbeitshypothese.

Thaler, R.H. /Sunstein, C.R. (2011):  Nudging. Wie man kluge Entscheidungen anstößt, Berlin

Türk, K. (1995): Entpersonalisierte Führung. In: Kieser, A./Reber, G./Wunderer, R. (Hrsg.): Handwörterbuch der Führung, 2. Aufl., Stuttgart, Sp. 328-340

Weibler, J. (2016): Personalführung, 3. Auflage, München

Wunderer, R. (1975): Personalwesen als Wissenschaft. In: Personal, Heft 8, S. 33-36

Zimbardo, P. (2008): Der Luzifer-Effekt: Die Macht der Umstände und die Psychologie des Böse, Heidelberg