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Kritisches Denken für Führungskräfte – Ein Gastbeitrag

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Wer den Nutzen von “kritischem Denken” betonen oder dieses sogar anderen ans Herz legen und näher bringen möchte, hat zunächst das Problem, dass die meisten von uns davon ausgehen, sie seien sowieso schon sehr gut darin. Zumindest besser als der Durchschnitt. Das zweite Problem besteht darin, dass unklar ist, was es überhaupt bedeutet, kritisch zu denken. Sogar in Bildungskontexten, wo zumindest der englische Begriff des Critical Thinking seit Jahrzehnten eine wichtige Rolle spielt, herrscht noch lange kein Konsens zu den Fragen, was das nun genau sei und wie es am besten gefördert werden könne.

Diese Unklarheit mag sich weiter verstärken, wenn wir uns fragen, was es für Führungskräfte bedeutet, kritisch zu denken; was deren spezifischer Nutzen davon ist, ob und wann sie es (nicht) tun und wie sie ihre Fähigkeit und Motivation, kritisch zu denken, fördern können.

Ich möchte in diesem Beitrag eine wichtige Ergänzung von mittlerweile verbreitet gewordenen Auffassungen von kritischem Denken für Führungskräfte vorschlagen. Die grundsätzlichsten und damit nachhaltigsten Vorteile von kritischem Denken erwachsen nicht daraus, dass wir Listen von Fehlschlüssen mit lateinischen, und Denkfehlern mit englischen, Namen kennenlernen – auch wenn es selbstverständlich seinen Nutzen und Reiz haben mag, anderen eine “ignoratio elenchii” (Argumentationsfehler) nachzuweisen oder sich selbst bei einem “confirmation bias” zu ertappen. Auch ist eine kritische Denkerin im von mir vertretenen Sinn nicht in erster Linie ein cleverer Champion für logische Rätsel, obwohl dieser Eindruck von Critical Thinking-Tests, wie sie durchaus auch in Einstellungsverfahren für Führungspositionen eingesetzt werden, erweckt werden kann. Außerdem triumphieren kritische Denker, wie ich sie hier skizzieren werde, auch nicht unbedingt beim Debattieren.

Was macht eine Führungskraft richtig, wenn sie motiviert und fähig ist, kritisch zu denken?

1910, am Anfang der heutigen Critical Thinking-Tradition, definierte der US-amerikanische Philosoph John Dewey sogenanntes “reflektierendes Denken” als die

“aktive, hartnäckige und sorgfältige Auseinandersetzung mit jeglichem Wissensanspruch im Licht der Gründe, die ihn stützen, und dem, was daraus folgt”.

Dewey 1910: 6; 1933: 9

Deweys Schwerpunkt auf Begründungsbeziehungen ist nicht verwunderlich: Ein rationaler Mensch hält nichts unbegründet für wahr oder falsch, sondern arbeitet im Gegenteil kontinuierlich an seinen eigenen Standards dafür, was für ihn als gute Begründung zählt. 50 Jahre nach Dewey sieht der Philosoph Wilfrid Sellars unseren Sprachgebrauch wesentlich als ein game of giving and asking for reasons – ein Spiel mit den zwei grundlegenden Spielzügen, eigene Meinungen und Aussagen zu begründen und von anderen Belege für deren Aussagen zu fordern. Jürgen Habermas macht solche Begründungsbeziehungen in der Form des “zwanglosen Zwang des besseren Argumentes” zur Grundlage des öffentlichen Diskurses.

Die auf Wittgenstein und Sellars (z. B. 1954) zurückgehende Spiel-Metapher könnte uns dazu verleiten, das Fordern und Liefern von Begründungen als einen Wettbewerb zu sehen, und es ist denkbar, dass tief sitzende Auffassungen des freien Marktes als ein letztlich für alle nützlicher Wettbewerb dieses Modell zusätzlich stützen. Die verbreitete Redeweise von einem marketplace of ideas, wo sich Ideen im Wettstreit gegen andere Ideen bewähren müssen, so dass sichergestellt wird, dass sich letztlich die beste Idee durchsetzt, ist eine Variante dieses Gedankens.

Führungskräfte, so könnte er fortgespinnt werden, müssen sich behaupten; beim Argumentieren geht es darum, Gegenpositionen “anzugreifen”, die eigene Position “zu verteidigen”, so dass sie sich letztlich “durchsetzen” kann. Sie sind nicht zuletzt deshalb Führungskräfte geworden, weil sie gut sind im Spiel des Forderns und Lieferns von Begründungen. Und tatsächlich: Eine Institution, in der sich die besten Ideen durchsetzen (statt dogmatisch von einer Autorität vertretenen) und in der wichtige Entscheidungen von den argumentativ stärksten Personen getroffen werden (statt von den Golfpartnern des Verwaltungsrats), wäre gewiss nicht die schlechteste.

So ist denn das Modell des Forderns und Lieferns von Begründungen als ein kompetitives Spiel nicht falsch, aber einseitig, und diese tief im allgemeinen Verständnis solcher Praxis eingebaute Schlagseite führt zu stärkeren und schädlicheren Verzerrungen dessen, was wir von der Förderung von kritischem Denken erwarten. Debatten-Machos auf Twitter sind nicht das Paradigma von kritischen Denkern, und spätestens seit Sokrates reibt sich die Geschichte der Philosophie an den sogenannten “Sophisten”, die mit Hilfe von Rhetorik und emotionalen Appellen darauf abzielten, “Gegner” zu besiegen. Philosophie hingegen, um ihr traditionelles Selbstverständnis auf Sellars’ Metapher anzuwenden, ist ein kooperatives Spiel, in dem es darum geht, gemeinsam argumentativ zu ermitteln, was wahr und was falsch ist und wie rational gehandelt werden soll.

Selbstverständlich gleicht nicht jeder Streit im Sitzungszimmer einem dialektischen Paartanz. Manchmal geht es einfach darum, die eigene Sicht durchzusetzen. Aber dennoch hilft uns das Modell des grundsätzlich kooperativen Spiels des Gebens und Forderns von Begründungen dabei, das Potential des kritischen Denkens für unübersichtliche Entscheidungssituationen herauszuarbeiten.

Die Rekonstruktion von Argumenten als Herz des Critical Thinking

Im Herzen eines heutigen argumentativ ausgerichteten Critical Thinking steht oft die Argumentrekonstruktion oder -analyse. Dabei handelt es sich um ein Interpretationsverfahren mit klaren, expliziten Regeln. Das Ziel besteht in der Identifikation (und übersichtlichen Darstellung) genau des Arguments, das von einer Sprecherin oder einem Text beansprucht wird,, um eine Aussage (These, Überzeugung, Meinung usw.) zu stützen.

Hier ein einfaches Beispiel: Nachdem ich auf die aktuellen Verkaufszahlen starre und murmle, die Inflation werde uns ruinieren, identifiziert meine Arbeitskollegin, sofern sie Zeit und Lust hat, meine Aussage als Konklusion eines impliziten Arguments. Sie rekonstruiert dann dieses Argument, indem sie unausgesprochene, “implizite” Prämissen rekonstruiert und diese, falls sie noch mehr Zeit und wirklich gar keine anderen Hobbys hat, visuell darstellt.

Dieses Produkt einer Argumentrekonstruktion wird heute “Argumentkarte” oder “Argumentdiagramm” genannt. Aktuelle Studien zur Effektivität der Förderung von Critical Thinking deuten darauf hin, dass die Förderung der Fähigkeit, die argumentativen Aspekte von Sachtexten mit solchen Karten zu repräsentieren, eine ganze Reihe von kognitiven Vorteilen mit sich bringt (z. B. van Gelder 2015, Cullen 2018).

Was aber sind die konkreten Arbeitsschritte meiner Arbeitskollegin? Nun, zunächst muss entscheiden, ob mein seufzender Sprechakt überhaupt ein Spielzug im Spiel des Gebens und Nehmens von Begründungen ist – ob ich mit meiner Aussage überhaupt begründenden Anspruch erhebe. Würde ich aus dem Fenster sehen und einfach “Scheißwetter” murmeln, so wäre damit meine schlechte Laune ebenso effizient ausgedrückt, aber ich würde keinen argumentativen Anspruch erheben.

Danach überlegt sich meine Kollegin, welche Art von Begründung ich plausiblerweise beanspruche. Mit meiner elliptischen Ausdrucksweise mache ich ihr diesen Job nicht leicht, aber geleitet vom zentralen Interpretationsprinzip der Argumentrekonstruktion, das wir, inspiriert vom US-amerikanischen Philosophen Donald Davidson (1984), “principle of charity”, das “Prinzip des Wohlwollens”, nennen, schreibt mir meine Kollegin das stärkstmögliche Argument zu. Sie versucht also, wie es für eine Argumentrekonstruktion vorgeschrieben ist, wohlwollend und nach bestem Wissen und Gewissen aufgrund der von mir geäußerten Wörter zu ermitteln, auf welchen Begründungstyp ich Anspruch erhebe.

Aufgrund einer wohlwollenden Rekonstruktion kommt die Kollegin, wie im Diagramm dargestellt, zum Schluss, dass ich normativ beurteilte empirische Evidenz (linker Strang des Arguments) kausal zu erklären beanspruche (rechter Strang des Arguments). Weil ich nur die Konklusion explizit ausspreche, repräsentiert meine Kollegin alle anderen Prämissen mit unterbrochenen Kästchenlinien als implizit. Implizite Prämissen sind demnach Sätze, die eine Person nicht ausgesprochen hat, aber auf die sie sich festgelegt hat, indem sie sich mit einem spezifischen begründenden Anspruch äußert. Gemäß den Regeln des Spiels des Gebens und Forderns von Begründungen sind wir epistemisch haftbar für unsere impliziten Prämissen, sofern sie das Ergebnis einer texttreuen und wohlwollenden Argumentrekonstruktion sind. Wir können dafür verantwortlich gemacht werden und müssen, wiederum gemäß den Regeln der diskursiven Praxis, dafür Rechenschaft ablegen können.

Selbstverständlich behauptet niemand, dass es hier keine Abkürzungen gebe. Wir sind schnell und oft zuverlässig in der Identifikation und Beurteilung von Argumenten und Argumenttypen. Viele von uns sehen bzw. hören auf den ersten Blick, ob Aussagen von empirischer Evidenz gestützt sein müssten, ob und wo wir explizit oder implizit normative Beurteilungen vornehmen, was ein Kausalschluss und dessen spezifische Tücken sind (Korrelation vs. Kausalität, Confounders usw.). Und tatsächlich ist es natürlich ein Ziel der Förderung von kritischem Denken, dass wir nicht nach jedem dritten Satz im Büro Argumentdiagramme zeichnen müssen.

Aber der genaue Status von impliziten Prämissen als Resultat wohlwollender, sorgfältiger (zeitraubender!) Argumentrekonstruktion erlaubt uns nun eine Menge Rückschlüsse auf den Kern und Nutzen von kritischem Denken, um den es mir in diesem Beitrag geht.

Kern und Nutzen kritischen Denkens

Zunächst sind die Dinge fast immer komplizierter, als sie scheinen: Eine kritische Denkerin zu sein, bedeutet erstens sicherzustellen, dass wir epistemisch bescheiden an die Dinge herangehen. Die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie weist uns mit einer fast schon lästigen Hartnäckigkeit darauf hin, dass auch scheinbar einfache kausale Aussagen nur sehr schwierig (David Hume würde insistieren: wenn überhaupt ;-)) zu belegen sind. Wem Spielzüge im Spiel des Gebens und Nehmens von Begründungen bzw. deren Beurteilung als Schiedsrichterin leichtfallen, dem dürfte die epistemische Bescheidenheit abgehen, um als wahrhaft kritische Denkerin zu gelten.

Zweitens zeigt der Fokus auf die Identifikation von impliziten Prämissen, dass die Argumentrekonstruktion (und damit kritisches Denken) potentiell voraussetzungsreich ist. Mit einem Bestseller auf dem Nachttisch ist hier nicht viel zu holen; Listen von Fehlschlüssen und/oder kognitiven Verzerrungen oder Meisterschaft in Sudokus reichen einfach nicht aus. Wer ein Argument wohlwollend rekonstruieren möchte, muss den Unterschied zwischen deduktiven und nichtdeduktiven Argumenten kennen; muss bei deduktiven Argumente entscheiden können, ob der Gültigkeitsanspruch aufgrund von logischen Satzverknüpfungen (“und”, “oder”, “wenn… dann”) oder Mengenverhältnissen erhoben wird, und bei nichtdeduktiven, ob das Argument induktiv, kausal oder als Schluss auf die beste Erklärung gemeint ist.

Die gute Nachricht ist, dass die vorausgesetzten Kenntnisse graduell sind: Jedes bisschen zählt und viele Unterscheidungen und Prozesse, die ich in diesem Beitrag explizit benenne, beherrschen wir implizit. Man muss natürlich nicht alles, was man beherrscht und versteht, korrekt etikettieren können – aber, und damit kommen wir zum nächsten wichtigen Aspekt der Argumentrekonstruktion, ein geeignetes Vokabular und eine eingeübte Methode der transparenten Darstellung helfen bei der kritischen (Selbst-) Reflexion und der eigenen Metakognition. Argumentdiagramme zwingen uns dazu, sprachliche Aspekte, die relevant für Begründungsansprüche sind, von allem anderen, was gesagt und angedeutet wird, zu trennen. In der Tradition Sokrates’: den wahrheitsorientierten Weizen vom sophistisch-rhetorischen Spreu.

Drittens verweist die Argumentrekonstruktion mit ihrer faszinierenden Kombination von Wohlwollen (“ich suche das stärkste Argument, das hier gemeint sein könnte…”) und Texttreue (“… solange es mit dem tatsächlich Gesagten vereinbar ist”) stetig auf die potentiell kooperativen Dimensionen des game of giving and asking for reasons. Selbstverständlich ist es möglich, implizite Prämissen der Gegenposition zu identifizieren, um sie als falsch nachzuweisen, und der Spaß, den wir haben, wenn uns das gelingt, ist als Motivator nicht zu unterschätzen. Aber gleichzeitig verdeutlichen diese Aspekte der Argumentrekonstruktion immer das der diskursiven Praxis zugrundeliegende Potential, die von allen partikularen Interessen abgesehen objektiv besten Argumente zu ermitteln – am besten kooperativ – und unsere Meinung danach auszurichten.

Letztlich zwingt uns die Argumentrekonstruktion zu größter sprachlicher und logischer Sorgfalt und Genauigkeit. Trivial gesagt: In die von unterbrochenen Linien gezeichneten Kästchen gehörten ganze, wahrheitsfähige Aussagesätze, und jedes einzelne Wort zählt. Diese Anforderung wiederum stellt sicher, dass kritisches Denken langsam und bedächtig ist. Auch hier gibt es Abstufungen, aber zumindest garantiert die Praxis der Argumentrekonstruktion, dass aktuelle Modelle von Debatten-Triumphen, Twitter-Cleverness und argumentatives “Zerstören” von Gegenpositionen auf YouTube nichts mit kritischem Denken zu tun haben.

Kritisch denkende Führungskräfte setzen auf den Austausch von Argumenten

Mir ist keine schnelle, einprägsame und richtige Antwort auf die Frage bekannt, was es für Führungskräfte bedeutet, kritisch zu denken. Das in diesem Beitrag skizzierte Modell legt aber nahe, dass gerade auch anspruchsvolle Entscheidungen von Führungskräften Spielzüge im Spiel des Gebens und Forderns von Begründungen sind: Besonders für so folgenreiche Spielzüge, wie sie Führungskräfte machen, müssen Begründungen gefordert und geliefert werden. Eine kritisch denkende Führungskraft verfügt über die Motivation und Kompetenz, diese diskursive Verantwortung wahrzunehmen. Sie achtet in ihrem Entscheiden, Denken, Lesen und Kommunizieren aufmerksam, sorgfältig und systematisch darauf, wo Begründungsansprüche auftauchen und ob und wie sie eingelöst werden. Sie ist sich bewusst, dass die Identifikation und Beurteilung solcher Begründungsansprüche eine anspruchsvolle, potentiell aufwendige, schlussendlich eine an Wahrheit orientierte und notwendigerweise konstruktive wie kooperative Praxis ist.

Cullen, Simon et al (2018) “Improving analytical reasoning and argument understanding: a quasi-experimental field study of argument visualization”, in npj Science of Learning 3(1), S. 1–6.

Davidson, Donald (1984/1974). “On the Very Idea of a Conceptual Scheme”, in Inquiries into Truth and Interpretation. Oxford (Clarendon Press), Kp. 3.

Dewey, John (1933/1910) How We Think: A Restatement of the Relation of Reflective Thinking to the Educative Process (revised edition). Boston (D. C. Heath and Company).

Sellars, Wilfrid (1954) “Some Reflections on Language Games”, in Philosophy of Science 21(3), S. 204–228.

van Gelder, T. J. (2015) “Using argument mapping to improve critical thinking skills”, in M. Davies & R. Barnett (Hg.), The Palgrave Handbook of Critical Thinking in Higher Education. Basingstoke U.K.: Palgrave Macmillan, S. 183–192.