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Tugenden – Führungswissen zum Mitreden und Handeln

Dieser Beitrag ist Teil der Serie Führungsperson

Andere Beiträge in dieser Serie:

  1. Führungskompetenz – Wie uns Gesichtskonturen beeinflussen
  2. Tugenden – Führungswissen zum Mitreden und Handeln
  3. Wie Führungskräfte informelle Codes entschlüsseln – Lernen von der Ethnografie
  4. Wie „verrückt“ sind Entrepreneure? Studien zur Persönlichkeit einer Ausnahmespezies
  5. Langeweile. Kreativitätsschub für die Führungsetage.
  6. Die Last der Führung  – Demotivation durch Mitarbeitende
Leonard Zhukovsky / Shutterstock

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Tugenden werden zunehmend eingefordert. Aber was ist damit eigentlich gemeint? Was sind Tugenden und welche Bedeutung haben sie für unser Handeln? Wer als Führungskraft wirklich mitreden, gar sein Handeln prüfen möchte, muss nun einen Moment innehalten. Leadership Insiders mit Führungswissen jenseits des „to-do“, aber verweisend auf ein „to-be“.

Dieser Beitrag ist Teil der Serie Führungsperson

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  6. Die Last der Führung  – Demotivation durch Mitarbeitende

Tugenden führen zum Guten

Die Diskussion über Tugenden ist im Grunde nur unter drei Annahmen sinnvoll:

  1. Menschen können zwischen dem Guten und dem Schlechten unterscheiden.
  2. Menschen haben im Prinzip die Wahl, dies zu tun und jenes zu unterlassen.
  3. Menschen wollen durch ihr Tun das Gute verwirklichen, zumindest anstreben.

Der Frankfurter Philosoph Martin Seel, auf dessen empfehlenswertes Werk (2011) ich nachfolgend immer wieder zurückgreife, sieht die Tugenden als charaktergebundene Eigenschaften von Personen an, die sich auf die Lebensführung beziehen und für die man selbst etwas kann. Und der ausgewiesene Tugendforscher Josef Pieper (1991, 9f) stellt dazu quasi präzisierend fest: Tugend meint „das Richtigsein des Menschen“, das gleichsam auf „das Äußerste seines eigenen Seinkönnens“ verweist. Als Stichworte kommen einem hier Mäßigung, oder Klugheit in den Sinn, aber auch Großzügigkeit, Frömmigkeit und Mut.

Man mag gewisse genetische Dispositionen für einzelne Tugenden mitbringen, was sofort naheliegt. Aber auch diese Anlagen müssen erst zur Entfaltung gebracht werden, damit sie – aktiviert in einer passenden Situation – handlungsrelevant werden können. Tugendhaftigkeit muss sich also entwickeln – und diese Entwicklung muss vom Einzelnen gewollt und ein Leben lang verfolgt werden. Durch die Benennung von Tugenden werden insbesondere die guten Züge des Charakters hervorgehoben, die uns als Mensch auszeichnen können. Auch die Körpergröße, die Gelenkigkeit oder die Stimmung eines Menschen sagen etwas über uns aus, aber derlei ist nichts, was anderen und uns selbst Auskunft über den Charakter gibt. Ebenso wenig gilt dies für den Beruf oder die hierarchische Position, die man in einer Organisation oder Gemeinschaft einnimmt. Allenfalls lassen sich hier Vermutungen dazu anstellen, die ihrerseits auf gelernten oder gehörten Voraussetzungen fußen.

Um als Tugenden durchzugehen, müssen die relevanten Eigenschaften des Charakters immer wieder in unterschiedlichsten Situationen, bekannten wie neuen, umgesetzt und bestätigt werden. Diese eingeübten Prägungen und Positionierungen sind dabei nicht verhandelbar, allenfalls in ihrer Dosierung variabel.

Tugenden sind fragil

Hier zeigt sich bereits die Fragilität der Tugend. Sie ist ein Balanceakt zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig. „Mut“ als Tugend grenzt sich so von dem unsachgemäßen „Übermut“ und der verwerflichen „Feigheit“ ab. Die Grenze ist aber nicht starr, sondern muss anlassbezogen stets neu justiert werden. Übermaß und Mangel lösen die Tugend praktisch auf, womit tugendhaftes Handeln immer die „goldene Mitte“ zu finden hat.

Auch müssen wir uns die Tugend immer im Plural vorstellen, denn im täglichen Vollzug braucht es zahlreicher Tugenden, die dann ineinander greifen können (unproblematischer Fall) oder abgewogen werden müssen (problematischer Fall). So sind, um die Schwierigkeit zu verdeutlichen, Nachgiebigkeit wie Widerstandsfähigkeit beides Tugenden, aber wann welche zum Einsatz kommt, ist, und dies ist zentral, ohne die Klugheit, nicht zu bestimmen. So gilt es auch für die Aufrichtigkeit und die Nachsicht, um ein anderes Beispiel zu geben. Beide sind für soziale Beziehungen unerlässlich, aber wenn sie konfligieren (in Form einer unbedingten Ehrlichkeit gegenüber einem geschwächten Menschen), mag Hilfe nur von der Weisheit erwartet werden, die die Ungeraden des Lebens zu reflektieren vermag.

Dies verdeutlicht auch, dass die Vorstellung, dass Menschen schon tugendhaft seien, sofern sie eine Tugend besitzen, eine Illusion ist. Während Sokrates noch davon ausging, dass die Fähigkeit zur Orientierung am Rechten und Gerechten, einmal ausgeprägt, widerspruchsfrei zu zeigen ist, weist Martin Seel darauf hin, dass der Gedanke, dass jemand im Besitz aller Tugenden sein könne, im Einklang mit dem Physiker und Philosophen Blaise Pascal („der Mensch ist weder Engel noch Tier“) für Sterbliche eine unpassende Vorstellung wäre. Gut sei danach vielmehr der, bei dem das Tugendhafte deutlich gegenüber unerfreulichen Wesenszügen überwiege (Extrema wie Grausamkeit sind allerdings nicht bilanzierbar). Jemand, der alles zu jeder Zeit immer richtig macht, wäre im wahrsten Sinne nicht von dieser Welt, zumal diese Eindeutigkeit nicht wenigen Entscheidungen a priori abgeht.

Konsequenterweise können wir uns im Alltag bei tugendhaften Menschen eine unterschiedliche Kombination von Tugenden vorstellen. Und oft ist es erst diese Kombination, die ein aussagefähiges Bild ergibt. Menschen sind also vielfältig gut – oder eben auch nicht. Bei der Einschätzung ihrer tugendbezogenen Entwicklung geht es bei der praktischen Zumessung darum, ob der „Fortschritt den Rückschritt… überwiegt“ (Seel 2011, S. 197).

Kardinaltugenden sind Ankerpunkte

Bei all dieser notwendigen Relativität taucht natürlich die Frage auf, ob es denn nicht einen Set von Tugenden gibt, an dem die Lebensführung generell auszurichten wäre und dessen „Besitz“ eine Person bei konsequenter Verfolgung schließlich als guten Menschen auszeichnen würde.

Und in der Tat ist dies eine der zentralen Fragen der Tugendlehre und wurde zwar nicht eindeutig, aber mit großen Schnittmengen beantwortet. Es ist in diesem Sinne die „Kristallisation“ dessen, „was es heißt, in ethischer Bedeutung ’gut‘ – ein guter Mensch, eine achtens- und schätzenswerte Person – zu sein“  (Seel, 2011, 260).

Immer wieder wird hier der klassische Kanon genannt. Dass er immer wieder genannt wird, ist ein Beleg dafür, dass sich die Anforderungen an ein gelingendes Zusammenleben in den letzten mehr als 2000 Jahren im Kern wohl nicht grundlegend verändert haben, auch wenn sicher vielfältige Ausdifferenzierungen und nuancierte Verschiebungen in den Bedeutungsrelationen hinzugekommen sind.

Vierklassische Tugenden werden als grundsätzliche Haltungen immer wieder hervorgehoben: Klugheit (ggf. Weisheit, praktische Vernunft), Besonnenheit (Mäßigung), Mut (Tapferkeit) und Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit wird dabei seit Aristoteles als Inbegriff der Tugend, als die vollendetste der Tugenden gesehen (v.a. weil sie den Anderen wesensgemäß einbezieht!), die allerdings der Klugheit bedarf, um ausgefüllt zu werden – was konkret bedeutet, „daß also nur, wer klug sei, auch gerecht, tapfer und maßvoll sein könne; und daß der gute Mensch gut sei kraft seiner Klugheit“ (Pieper 1991, S. 15).

Generell sollten wir unabhängig von schwierigen Vorrangverhältnissen die Kardinaltugenden als eine sich unterstützende und miteinander auf verschiedenen Ebenen eng verwobene Einheit verstehen: Die Klugheit steht für das der Wirklichkeit gemäße und beachtet – anders als das reine Kalkül, Schläue oder Cleverness! – stets die Anderen und deren berechtigte Interessen.  Prozessual umfasst Klugheit die Überlegung, das Urteil sowie die Entscheidung und vermag damit die richtigen Wege für die richtigen Ziele zu weisen. Die Gerechtigkeit umschreibt die Form, in der sich der Wille über die Handlung des guten Menschen konkret vollzieht. Maßgabe ist dabei, Gerechtigkeit mit Blick auf andere herzustellen (z.B. einen Konflikt zwischen Mitarbeitern zu lösen), aber auch in der eigenen Beziehung zu anderen gewillt zu sein, dem Anderen zu geben, was ihm zusteht, und zwar selbst dann, wenn man dies eigentlich (machtbegründet) nicht muss. Die Tapferkeit sichert die Verwirklichung des erkannt Guten bzw. räumt Hindernisse für das diesbezügliche Handeln (inkl. ungerechtfertigter Eigeninteressen) aus dem Weg. Und die Mäßigung dient der Selbstbewahrung, indem sie einzelne innere Bestrebungen (Leidenschaften) austariert und ordnend unter Vermeidung der Extrema zu einem Ganzen zusammenfügt (vgl. Hoye 2007; Pieper 1991).

Die christliche Tradition fügte der Tugendlehre eine weitere Trias hinzu, den Glauben, die Hoffnung und die Liebe. Martin Seel bestimmt seine Liste vorrangiger Tugenden wie folgt: Gerechtigkeit, Klugheit, Mut, Besonnenheit, Mitgefühl, Aufmerksamkeit, Aufrichtigkeit, Bescheidenheit, Gelassenheit, Großzügigkeit, Nachsicht, Selbstachtung, Toleranz, sowie die Fähigkeit zu Freundschaft und Liebe. Entscheidend sei aber, dass viele dieser Tugenden zusammen spielen und der Mensch eine Vielzahl von Tugenden verkörpere, eben solche, die eher Rücksicht auf andere nehmen, in Eintracht mit solchen, die eher der Selbstsorge entsprechen.

Laster als Verfehlung der Tugend

Und die Laster? Worin unterscheiden sie sich von den Tugenden? Martin Seel (S. 236) sieht dies ganz unspektakulär: „Tugenden respektieren und fördern, Laster hingegen verletzen und behindern die Selbstachtung und die Selbstbestimmung der Menschen. Tugenden sind gut, Laster hingegen schlecht für ein gutes menschliches Leben und Zusammenleben“. Und es ist die Klugheit, die hier mit Blick auf das Gute (und damit Richtige) ein Handeln zu differenzieren und urteilend lenkend aufzufüllen vermag. Womit wir zuletzt bei der spezifischen Frage wären: Wie tugendhaft muss (und lasterhaft darf) eine Führungsperson sein, um einen legitimen Führungsanspruch zu formulieren? Vielleicht überrascht es, aber mit genau dieser Fragestellung setzt sich die Führungsforschung – aus manch gegebenem Anlass heraus – seit einigen Jahren intensiv auseinander. Das Laster firmiert dabei als die „dunkle Seite“ der Führung, die Tugend quasi als deren „helle“ Seite (s. dazu bspw. unsere Beiträge über Narzissmus und Management Derailment, sowie auch: Kuhn/Weibler 2012).

Kuhn, T./Weibler, J. (2012): Führungsethik in Organisationen, Stuttgart

Hoye, W. J. (2007): Pieper, Josef: Über die Tugenden. Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Maß. Rezension. In: Theologische Revue, 103(2), S. 163-165

Seel, M. (2011): 111 Tugenden, 111 Laster, Frankfurt/M.

Pieper, J. (1991): Das Viergespann, 6. Aufl., München

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