Dieser Beitrag ist Teil der Serie Ethische Führung

Andere Beiträge in dieser Serie:

  1. Management-Derailment – Wenn Führungskräfte aus der Spur kommen
  2. Ethikbewusste Führung – No mission impossible
  3. Wissenschaftliche Studie: Sind Narzissten die besseren US-Präsidenten?
  4. Integrität – Führungswissen zum Mitreden und Handeln
  5. Zorn auf die Falschspieler – Götterdämmerung im Top-Management?
  6. Bescheidenheit ist machtvoll – Führung durch Haltung
  7. Bad Leadership. Wenn im Büro die Angst regiert.
  8. Die dunkle Seite des Erfolgs – Wie Hybris bei Führenden entsteht, wirkt und vermieden werden könnte

Teile der Führungsforschung beschäftigen sich nicht nur mit der strahlenden Seite der Führung, so auch wir. Das plötzliche Entgleisen von sicher auf dem Weg geglaubten Führungskräften ist erklärungsbedürftig. Auch, um prophylaktisch tätig werden zu können. Hier finden Sie ein erstes Fundament für weitere Überlegungen.

1. Wer kennt es nicht – Beispiele für Derailment

Zug

Biehler Michael / Shuttterstock

Management-Derailment ist seit einigen Jahren ein boomendes Thema, was sich immer selbst befeuert. Mehr oder minder jeder könnte heute wohl eine bekannte Führungskraft nennen, die „aus der Spur“ gelaufen ist. Fußball-Fans mögen hier an Uli Hoeneß, Jack Warner oder Sepp Blatter denken; Lesern von Wirtschaftsteilen der Zeitungen oder von Manager-Magazinen kommen womöglich Thomas Middelhoff (Arcandor) oder Heinrich Maria Schulte (Evotec) in den Sinn; und Beobachter der internationalen Szenerie erinnern sich vermutlich an die Verantwortlichen bei Enron (Kenneth Lay und Jeffrey Skilling) oder WorldCom (Bernard Ebbers).

Wenn man etwas genauer hinschaut, dann fällt aber auch auf, dass nicht nur (bekannte) Top-Manager medienwirksam entgleisten, sondern dass offensichtlich auch zahlreiche und völlig unbekannte Führungskräfte irgendwo in der Linie ihren Kompass verlieren. Dazu fallen ein: Die Spezialisten, die VW den Dieselgate-Skandal bescherten, die Investmentbanker der Deutschen Bank, die den Liborzins manipulierten und auch darüber hinaus dachten, dass Gesetze der Rendite (und/oder den Boni) doch bitte keine Grenzen setzen sollten. Und manche kennen vielleicht auch Fabrice Tourree (Goldman Sachs), der sich selber den „Fabulous Fab“ nannte und sich vor seiner Freundin damit rühmte, „Witwen und Waisen“ am Vorabend der Lehman-Pleite noch schnell massenhaft Ramschpapiere angedreht zu haben.

Diese Auswahl mag verdeutlichen, warum Entgleisungen im Management ein boomendes Thema sind. Allerdings: Diese kleine Auswahl bildet den gesamten Gegenstand der aktuellen Derailment-Debatte bei weitem nicht ab. Denn Derailment hat viele Facetten und Gesichter – manche erscheinen böse („bad“), manche regelrecht verrückt („mad“), die allermeisten jedoch machen traurig („sad“).[1]

Abb.1: Derailment – Aktuelle Beispiele

Abb.1: Derailment – Aktuelle Beispiele

2. Derailment hat viele Gesichter

Der Derailment-Begriff hat seinen Ursprung in den 1980er Jahren.[2]  Er bezog sich seinerzeit auf das Phänomen, dass Führungskräfte mit eigentlich hohem Potenzial überraschenderweise ein vorzeitiges Karriereende erlebten, indem sie entlassen wurden, versetzt wurden oder schlicht auf einem Karriereniveau verharrten, das hinter den Erwartungen zurückblieb. Wer kennt das nicht, wenn er sich im eigenen Haus umsieht?

Die Erklärung dieses Phänomens setzte dabei – ganz traditionell im Sinne der herrschenden Führungstheorie – bei den erfolgsrelevanten Eigenschaften an. Danach fehlten „entgleisten“ Führungskräften wohl bestimmte erforderliche Führungsqualitäten („bright sides“, z.B. Durchhaltevermögen). Als dies erkennbar zu kurz griff, zog man auch mögliche Disqualitäten („dark sides“) in Betracht[3] – schlechte Eigenschaften also, die heute unter dem Begriff der „Dark Triad of personality“ (subklinischer Narzissmus, subklinische Psychopathie, Machiavellismus) firmieren[4] und intensiv beforscht werden. Eine andere Lesart des Derailments verbindet den Begriff mit dem verbreiteten Problem einer nachhaltigen Erschöpfung und Auszehrung von Führungskräften, was allzu oft in Erkrankungen wie Burnout und Depression mündet.[5] Ob nun „Karrierebruch“ oder Gesundheitsgefährdung und Gesundheitsverlust: In beiden Bereichen ist es sinnvoll, Derailment mit dem Begriff „sad management“ zu verbinden.

Aber Derailment macht nicht nur traurig, sondern zuweilen auch ärgerlich (oder wütend). Dies deshalb, weil manche Unternehmensführungen zunehmend moralisch entgleisen. Vor allem Großunternehmen und Multinationale Konzerne sind hier im Fokus. Sie nutzen ihre Machtposition, um „schmutzige Gewinne“ zu erzielen – d.h. Gewinne, die auf Kosten der Mitarbeiter, der Kunden, der Gesellschaft und/oder der Umwelt erzielt werden. Exemplarisch für diesen Problemkomplex, der im Übrigen den Kern der Debatte über Corporate Social Responsibility (CSR) ausmacht, sei hier nur auf die „schmutzigen Milliarden“ verwiesen, die Apple nach Medienberichten mittels ethisch fragwürdiger Methoden (u.a. ausbeuterische Produktion in der Wertschöpfungskette, dreiste Steuertricks) Jahr für Jahr erzielt.[6] Dieser Verweis ist aber, wie gesagt, nur exemplarisch: Monsanto und BP, Disney und Goldman Sachs … die Liste ließe sich hier (fast) unendlich weiterführen. Für diesem Bereich, in dem Gewinne der einen auf Kosten der anderen realisiert werden („win-lose“-Konstellationen oder auch: „Privatisierung der Gewinne, Sozialisierung der Kosten“), erscheint es berechtigt, von einem „bad management“ zu sprechen.

Und dann gibt es natürlich noch jene Situationen, wo das „bad management“ offensichtlich übertrieben und die „Entgleisung“ (unbeabsichtigt) komplett wird. Hier entstehen dann die enormen Imageschäden und finanziellen Einbußen für Unternehmen; und hier werden daraufhin die obersten Verantwortlichen entlassen, womöglich verklagt und mitunter sogar inhaftiert. Die (skandalträchtigen) Beispiele hierfür haben wir Eingangs benannt: Enron und WorldCom, VW und Deutsche Bank, Lehman und FIFA. Hier – und nur hier – werden generelle „lose-lose“-Konstellationen realisiert und macht es Sinn, von einem „mad management“ zu sprechen.

Derailment – Formen

Abb.2: Derailment – Formen

3. Warum entgleisen Führungskräfte?

Wer Derailment – soweit möglich – vermeiden möchte, der muss seine Ursachen kennen. Und diese sind komplex und vielfältig. Ein erste Orientierung könnte dabei eine Befragung von 308 Beratern geben, die zeigte: dass (a) der Rendite-Druck steigt, den Aktionäre und Investoren auf das Management ausüben (Zustimmung: 61%), dass es in Folge dessen (b) einen Trend zu unmoralischerem Verhalten in der deutschen Wirtschaft gibt (Zustimmung: 53%) und dass (c) auch ein zunehmender Realitätsverlust bei Top-Managern zu erkennen ist, der sich v.a. in Überheblichkeit und unangemessenem Verhalten äußert (Zustimmung: 69%).[7] In diesem Zusammenhang stellt die Studie überdies heraus, dass die hochgesteckten (Rendite-)Ziele häufig einfach heruntergebrochen und als Zielvorgaben „nach unten“ weitergereicht werden, ohne zu bedenken, wie (und ob) dies organisatorisch umgesetzt werden kann. Dieser „Druck von oben“ kann als eine wichtige Erklärung für die Entgleisungen im mittleren und unteren Management (z.B. moralische Entgleisungen im Stile einer betrügerischen Software, aber auch traurige Entgleisungen im Sinne des Burnouts) gewertet werden. Eine Entpflichtung von der auch individuellen Verantwortung zur Gesetzestreue und Gesundheitsfürsorge ist es jedoch nicht.

Derailment – Ursachen

Abb.3: Derailment – Ursachen

Hinzu kommen – v.a. mit Blick auf Entgleisungen bei obersten Führungskräften – wohl aber auch andere Erklärungsansätze. Vielfach herausgestellt ist hier der Crowding outEffekt der sogenannten leistungsorientierten Vergütungssysteme. Gemeint ist damit, dass intrinsische Motive verdrängt (Interessen anderer im Blick halten, Leistungswille) und durch extrinsische Motive (Geld und Macht) ersetzt werden. Bedeutsam erscheint ferner das, was in Fachkreisen als „Bathsheba-Syndrom“ bezeichnet wird.[8] Es beschreibt die Gefahr, wenn wir es einmal auf oberste Führungskräfte münzen, dass ein Übermaß an allem (Macht, Geld, Status, Medienhuldigung) zu einer „CEO-Hybris“ führen kann – Führungskräfte irgendwann also glauben, dass sie über Gesetz und Moral stehen oder zumindest der Überzeugung anheimfallen, dass sie zu „smart“ seinen, als dass ihnen jemand auf Schliche kommen könnte. Die Römer, so könnte man sagen, waren uns hier voraus: Denn sie sahen bei Triumphzügen durch Rom vor, dass ein Staatssklave dem siegreichen Feldherren stets in Ohr flüsterte: „Bedenke, auch Du bist nur ein Mensch!“

4. Das richtige Gefühl für das Maß ist der Schlüssel

Lange her, aber immer noch der unübertroffene Maßstab: In seiner Nikomachischen Ethik plädiert Aristoteles für die Einhaltung des richtigen Maßes. Er meint damit, dass man sich die Extreme eines Handelns vergegenwärtigen sollte, beispielsweise Tollkühnheit und Feigheit, dass aber die Mitte von allem, in diesem Fall durch die Klugheit temperierte Tapferkeit, die richtige Antwort wäre.

Faktisch ist die Aufforderung zur Verhältnismäßigkeit im Handeln ein Plädoyer für eine realistische Sicht auf die Dinge. Systeme, die unkontrolliert einer Profitmaximierung das Wort reden, sind aus den Fugen geraten. Einer Geschäftsführung, der nicht mehr einfällt, als „Gas geben“ zu wollen, damit die Zahlen kurzfristig stimmen, ist von der richtigen Spur abgekommen, weil sie den Kern des Unternehmens und Ideen, Wünsche und Motivationen derer nicht mehr im Blick hat, die für das Unternehmen arbeiten und seine Produkte oder Leistungen beziehen.

Aber auch derjenige, der sich auspowert, bis er implodiert, hat das Maß für seine eigenen Fähigkeiten und seinen Lebenszusammenhang verloren und fährt auf ein Abstellgleis zu. Wer das richtige Maß nicht mehr finden kann, oder Sorge hat, es vielleicht zu verlieren, tut gut daran, sich des römischen Vorbildes zu erinnern. Die Zeit der Staatssklaven ist glücklicherweise in unserem Kulturkreis vorbei, aber Freunde oder Freundinnen von früher, die einen unverstellten Blick auf die eigene berufliche Eingebundenheit haben, sind nicht der schlechteste Ersatz. Und da sind wir schon wieder bei Aristoteles, dem eine selbstlose Freundschaft, basierend auf Gegenseitigkeit und wohlwollen, über alles ging, natürlich auch über den beruflichen Erfolg.

[1] vgl. zu den Begriffen originär Furnham, A. (2010): The elephant in the boardroom. The causes of leadership derailment, Houndsmill/New York

[2] vgl. McCall, M.W./Lombardo, M.M. (1983): Off the track: Why and how successful executives get derailed. In: Technical Report, 21, S. 1-3

[3] vgl. Westermann, F. (2012): Derailment und Managementversagen – Turning a blind eye to disaster? In: Armutat, S./Seisreiner, A. (Hrsg.): Differentielles Management, Wiesbaden, S. 191-206

[4] vgl. Paulhus, D.L./Williams, K.M. (2002): The Dark Triad of personality: Narcissism, Machiavellism, and psychopathy. In: Journal of Research in Personality, 36, S. 556-563

[5] vgl. Csef, H. (2016): Narzissmus und Derailment – wenn Führungskräfte entgleisen. In: Organisationsberatung, Supervision, Coaching, 23, (im Erscheinen)

[6] vgl. SpiegelOnline (2015): Rekordgewinn mit fragwürdigen Methoden: Apples schmutzige Milliarden; http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/apple-rekordgewinn-durch-fragwuerdige-geschaeftsmethoden-a-1015263.html; zugegriffen am 24.03.2016

[7] vgl. Schäfer, U. (2015): Wolfsburger Zustände überall. In: Sueddeutsche.de; http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/umfrage-wolfsburg-ist-auch-anderswo-1.2763988; zugegriffen am 24.03.2016

[8] vgl. Ludwig, D.C./Longenecker, C.O. (1993): The Bathsheba Syndrome: The ethical failure of successful leaders. In: Journal of Business Ethics, 12, S. 265-273

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