Dieser Beitrag ist Teil der Serie Ethische Führung

Andere Beiträge in dieser Serie:

  1. Management-Derailment – Wenn Führungskräfte aus der Spur kommen
  2. Ethikbewusste Führung – No mission impossible
  3. Wissenschaftliche Studie: Sind Narzissten die besseren US-Präsidenten?
  4. Integrität – Führungswissen zum Mitreden und Handeln
  5. Zorn auf die Falschspieler – Götterdämmerung im Top-Management?
  6. Bescheidenheit ist machtvoll – Führung durch Haltung
  7. Bad Leadership. Wenn im Büro die Angst regiert.
  8. Die dunkle Seite des Erfolgs – Wie Hybris bei Führenden entsteht, wirkt und vermieden werden könnte

Tischenko Irina / Shutterstock

Integrität ist ein Begriff, der im Führungskontext zunehmend häufig postuliert und reklamiert wird. Dies verwundert wenig, denn kaum ein Begriff ist derart positiv besetzt wie der der Integrität. Aber warum ist Integrität heute so häufig ein Thema? Und was bedarf es, um integer zu sein? Leadership Insiders liefert Orientierungswissen zu einem der schillerndsten Begriffe der Führungsforschung und Führungspraxis.

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Integrität als Vorstandsressort

Es ist so eine Sache, wenn Begriffe einen regelrechten Siegeszug antreten und deren Gebrauch bald schon inflationäre Züge annimmt – wie es beim Begriff der Integrität seit einigen Jahren der Fall ist. Die Frage ist dann immer: Wie kommt es dazu? Ist das, wofür der Begriff steht, im Überfluss vorhanden oder wird damit eher auf einen Mangel verwiesen?

Ein aktuelles Beispiel mag hier weiterhelfen: VW hat im Januar 2016 die Position eines Vorstands für Integrität und Recht neu geschaffen – wobei diese Position nach 13 Monaten schon wieder vakant und deren Inhaberin mit rund 12 Millionen Euro für ihr Kurzzeit-Engagement vergütet wurde. Dies spricht prima vista eher dafür, dass Integrität vor allem dann zum Thema wird, wenn es hieran zu mangeln scheint. Damit sind wir allerdings bereits inmitten des Üblichen: Wir reden über Integrität, vermissen sie oder fordern sie, ohne eigentlich geklärt zu haben, was der Begriff genau meint. Und das kann vielerlei sein.

Zentrale Bedeutungen des Begriffs

Auch eingedenk des VW-Beispiels gilt vorab zu betonen: Integrität ist zwar etwas, das Organisationen mittels ihrer Strukturen und Kulturen beeinflussen können. Dies sollte jedoch nicht den Blick dafür verstellen, dass Integrität eine Eigenschaft ist, durch die sich grundsätzlich nur Personen auszeichnen können.

Wie aber lässt sich diese so besondere menschliche Eigenschaft genauer fassen? In ihrer wegweisenden Untersuchung zum Thema kamen Palansky und Yammarino (2007) zum Ergebnis, dass es unterschiedliche Verständnisse von Integrität gibt, die jedoch systematisch aufeinander bezogen werden können. Dies lässt sich wie folgt nachzeichnen:

  • Ein erstes Grundverständnis dessen, was wir mit Integrität verbinden, ist die sog. Entsprechung von Worten und Taten („word/action consistency“). Diese ist gegeben, wenn die Werte, die man vertritt, in Einklang stehen mit den Handlungsweisen, die man vollzieht. Im Führungskontext korrespondiert dies aufs Engste mit dem vielbeschworenen Anglizismus des „walk the talk“. Umgekehrt gilt: Überall dort bzw. immer dann, wenn wohlfeile Worte so gar nicht mit den konkreten Taten übereinstimmen wollen, liegt quasi das Gegenteil von Integrität vor. Wir sprechen dann von Heuchelei oder Scheinheiligkeit.
  • Die Entsprechung von Worten und Taten ist zwar eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Voraussetzung für Integrität. Denn Konsistenz im Denken, Reden und Handeln lässt sich problemlos auch bei diktatorischen, tyrannischen, narzisstischen und weiteren Formen eines Bad Leadership beobachten. Wenn derlei Führende beispielsweise Drohungen aussprechen und ihre Drohungen dann wahr machen, dann handeln sie konsistent, aber sicher nicht integer.
    Ein zweites unabdingbares Merkmal von Integrität ist deshalb die individuelle Moralität („morality/ethics“). Hierunter versteht man das Bemühen einer Person, nicht nur sich selbst, sondern auch allen anderen gegenüber gerecht werden zu wollen, gleichsam also einen fairen Ausgleich zwischen verschiedenen (und häufig divergenten) Interessen anzustreben. Kurzum: Integrität ist ohne ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein und Gerechtigkeitsempfinden schlicht nicht vorstellbar.
  • Damit sind wir drittens bei dem, was manche als „Nagelprobe“ der Integrität bezeichnen, der sog. Standhaftigkeit im Angesicht von Widerständen („consistency in adversity“). Dahinter steht die These, dass es im (beruflichen) Alltag immer wieder Situationen gibt, in denen es schwierig wird, seinen moralischen Werten und Überzeugungen gemäß zu handeln. Grund hierfür kann sein, dass bestimmte Handlungen, die uns richtig erscheinen, mit persönlichen Nachteilen verbunden sind. Integrität bedeutet dann, solche Nachteile sehenden Auges in Kauf zu nehmen. Man denke in diesem Zusammenhang nur einmal an den Typus des Whistleblowers, der im allgemeinen Interesse organisationale Missstände aufdeckt – und dafür in aller Regel schwerwiegende persönliche Nachteile zu tragen hat. Ein Handeln gemäß den eigenen Werten wird zudem aber auch dann problematisch, wenn moralisch fragwürdige – oder gar gesetzeswidrige – Handlungsweisen mehr Erfolg und höhere Belohnung versprechen. Wer sich hier gegen seine inneren Werte und für den äußeren Erfolg entscheidet, der lässt sich korrumpieren und verliert entsprechend seine Integrität. Nicht nur, aber auch das Verhalten so mancher Investment-Banker im Vorfeld der Finanzmarktkrise kann sicherlich ein Stück weit mit dieser Konstellation in Verbindung gebracht werden.

Sophie Scholl (neftali / Shutterstock)

Im Kern lässt sich damit resümieren: Integrität bedarf nicht nur der inneren Konsistenz und moralischer Standards, sondern auch moralischer Standhaftigkeit, die durchaus ihren Tribut fordern kann.

Entstehung, Zerstörung und Zuschreibung von Integrität

Um das Bild des Integritätsbegriffs noch etwas abzurunden, sei darauf hingewiesen, dass der Begriff originär in den Bereich der Tugenden fällt und dort zuweilen als übergreifende „Super-Tugend“ gehandelt wird.

Für die Integrität gilt damit, was für alle Tugenden gilt: Sie kann von uns nicht einfach kurzerhand erworben und dann immerfort besessen werden. Vielmehr gilt, dass persönliche Integrität nur im Zuge einer moralischen (Selbst-)Entwicklung nach und nach entstehen kann, dabei einer permanenten (lebenslangen) Übung bedarf und zuletzt also eine herausragende Persönlichkeits- und Lebensleistung darstellt. Und fast noch wichtiger: Integrität ist nichts, dass man, wenn man es einmal besitzt, unweigerlich auch für immer behält.

Die Erfahrung lehrt vielmehr: Integrität ist ein höchst fragiles Gut. So wie man sie in langwierigen und zuweilen mühsamen Prozessen entwickeln muss, so kann man sie in kurzen Momenten (der Versuchung und fatalen Entscheidung) nachhaltig zerstören. Berücksichtigt man im Weiteren noch den nicht unwichtigen Aspekt, dass Integrität natürlich stets eine Selbstzuschreibung („Bin ich integer?“) und eine Fremdzuschreibung („Ist diese Person integer?“) umfasst, die nicht notwendigerweise übereinstimmen müssen, dann lässt sich folgende Kurzübersicht geben (vgl. dazu ausführlich: Pollmann 2005):

Pollmann_2005

Die Bedeutung der Organisation für die Integrität

Integrität bezieht sich auf eine Person zu einem bestimmten Zeitpunkt. Als Mitarbeiter sind Menschen allerdings in erheblichem Umfang in Organisationen eingebunden, die sie beschäftigen und die ihr Verhalten beeinflussen. Angesichts dessen ist die Annahme naheliegend, dass Organisationen auch auf die Integrität des Einzelnen einwirken können. Die Frage ist dabei: In welcher Weise?

Grundsätzlich können hier zwei Formen der Einflussnahme unterschieden werden, nämlich die potenzielle Förderung oder eben Gefährdung der persönlichen Integrität durch die Organisation. Mit Blick auf diese Optionen kann eingedenk der einschlägigen Forschung festgestellt werden (ausführlicher: Kuhn/Weibler 2012):

  • Organisationen können individuelle Integrität durch Strukturen und Kulturen tendenziell fördern, stoßen aber immer auf die bisherige Lebensgeschichte der Person.
  • Dagegen gilt: Organisationen können individuelle Integrität leicht systematisch unterminieren und zerstören, indem kulturelle und strukturelle Settings es dem Einzelnen extrem schwierig machen, seinen eigenen Werten und Vorstellungen von Verantwortung und Gerechtigkeit gemäß zu handeln. Dieser negative Einfluss, den die umgebende Situation auf die eingebundene Person ausüben kann, ist in künstlichen wie realen „Labors“ bereits in aufsehenerregender bzw. tragischer Weise aufgezeigt worden (bekanntestes Beispiel hierfür ist das Stanford Prison Experiment, auf dem der bekannte Film „Das Experiment“ basiert). Aber auch neuere Forschungen zur Unternehmenskultur, zu Anreizsystemen oder auch zu konkreten Zielsetzungspraktiken (MbO) belegen eindrücklich, dass Integrität ein Gut ist, das in Organisationen latent gefährdet sein kann. Dies insbesondere dann und überall dort, wo das organisationale Gesamt (Philosophie, Strategie, Systeme, Strukturen, Kultur, etc.) durch die allumfassende Maßgabe „Profits at all costs“ geprägt ist.

Ist Integrität ist ein Erfolgsfaktor?

Integrität wird von der Führungslehre in aller Regel als ein bedeutsamer Erfolgsfaktor vorgestellt. Denn, so die These, eine integre Führung befördert das Vertrauen der Geführten, steigert deren Zufriedenheit, begünstigt zudem eine eigene Integritätsentwicklung bei den Geführten und schafft so zuletzt die Grundlagen einer deutlich gesteigerten (Team-)Leistung. Wer erfolgreich sein will, sollte demnach integer sein! Diese einfache Rechnung, die Integrität instrumentalisiert, verkennt unseres Erachtens allerdings ein Stück weit das Wesen der Integrität. Dieses ist dadurch gekennzeichnet, dass eine entwickelte und gewahrte Integrität vor allem ein innerer Erfolg ist, der in ungünstigen Situationen nur zu erreichen ist, indem man auf manch äußeren Erfolg verzichtet.

Aber natürlich: Dieser innere Erfolg des Einzelnen hält Gemeinschaften, darunter Organisationen, auf Kurs und am Leben. Und am Ende doch auch einen selbst.

Kuhn, T./Weibler (2012): Führungsethik in Organisationen, Stuttgart

Palansky, M.E./Yammarino, F.J. (2007): Integrity and Leadership: Clearing the Conceptual Confusion. In: European Management Journal, 25(3), S. 171-184

Pollmann, A. (2005): Integrität, Bielefeld

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