Dieser Beitrag ist Teil der Serie Ethische Führung

Andere Beiträge in dieser Serie:

  1. Management-Derailment – Wenn Führungskräfte aus der Spur kommen
  2. Ethikbewusste Führung – No mission impossible
  3. Wissenschaftliche Studie: Sind Narzissten die besseren US-Präsidenten?
  4. Integrität – Führungswissen zum Mitreden und Handeln
  5. Zorn auf die Falschspieler – Götterdämmerung im Top-Management?
  6. Bescheidenheit ist machtvoll – Führung durch Haltung
  7. Bad Leadership. Wenn im Büro die Angst regiert.
  8. Die dunkle Seite des Erfolgs – Wie Hybris bei Führenden entsteht, wirkt und vermieden werden könnte
Zorn ist eine vitale Reaktion, der aus nicht mehr tragbaren Zumutungen heraus entsteht. Er schiebt die Unterwürfigkeit beiseite und bewahrt die Selbstachtung. Falschspieler im (Top-)Management provozieren Zorn. Sie reklamieren die Erfolge für sich und bürden die Konsequenzen ihres Handelns (später) anderen auf. Anlässlich des Diesel-Gates wird in diesem Beitrag diese Neigung hinsichtlich der Folgen v.a. für die Belegschaft  betrachtet.

Erst spielt die Deutsche Bank mit gezinkten Karten, dann versteigt sich der letzte deutsche Kaiser im nebelumhüllten FIFA-Sumpf. Und jetzt das: Akteure der deutschen Vorzeigeindustrie stürzen über selbstgelegte Fallstricke. Der Zorn auf die Falschspieler im Management wächst. Und was ist mit der Belegschaft?

Zorn ist ein Ausdruck des übergelaufenen Fasses

m.mphoto/Shutterstock

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1939 erschien das Buch „Früchte des Zorns“. Geschrieben hat es John Steinbeck, mit Nobelpreis (1962) und Pulitzerpreis (1940) dekorierter Schriftsteller, der in diesem sozialkritischen Werk die Auswüchse des amerikanischen Kapitalismus schonungslos realistisch aufzeigte, dabei den geschundenen, aber trotz Unterdrückung lebenshungrigen Menschen ein Denkmal setzte.

2017 erschien das Buch „Das Zeitalter des Zorns“. Geschrieben hat diese „Geschichte der Gegenwart“ Pankaj Mishra, ein sozialkritischer indischer Essayist, der u.a. mit dem Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung (2014) ausgezeichnet wurde und zwischenzeitlich auch für den Orwell Prize, dem wichtigsten Preis Großbritanniens für “political writing“, nominiert wurde. Gegenstand des Bestsellers sind wiederum die Auswüchse des Kapitalimus. Doch diesmal ist es eine historisch angelegte, verschiedenste Geistesströmungen synthetisierende Analyse, die unter Beachtung des Wechselspiels von Kultur und Politik die Fragilität eines entfesselten Gewinnstrebens samt Folgen nachzeichnet.

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  8. Die dunkle Seite des Erfolgs – Wie Hybris bei Führenden entsteht, wirkt und vermieden werden könnte

Pankaj Mishra diagnostiziert die Negierung eines berechtigten gesellschaftlichen Anspruches, nämlich Teilhabe an der materiellen Vorwärtsentwicklung, die in und zwischen Gesellschaften derzeit und seit Längerem extrem ungleich verläuft, was als Problemphänomen empirisch sehr gut abgesichert ist. Neben dem Materiellen geht es aber auch um die Verletzung der Würde vieler, für die zu viele der Mächtigen scheinbar nur Verachtung übrig haben. Herausgestellt werden zudem schließlich Ungleichverteilungen der Lebenschancen, die systematische Überbeanspruchung der natürlichen Ressourcen und Frustrationen derjenigen, denen die Verbesserung ihrer Perspektiven verwehrt bleibt.

Zorn dient der Selbstbehauptung

Der hieraus erwachsende Zorn ist ein elementarer Affekt und, so stellt der Philosoph Martin Seel (2012) fest, eine vitale Reaktion, die um der „eigenen Ausgeglichenheit willen“ gar geboten ist. Es handele sich um einen Widerwillen „gegen Zumutungen“. Die Zornigen machen „ihrem Unmut Luft“ und „zeigen, dass sie nicht bereit sind, alles hinzunehmen. Sie kuschen nicht, wo andere in Unterwürfigkeit verharren. Sie sind zur Selbstbehauptung fähig. Sie bewahren ihre Selbstachtung, indem sie ihren Widersachern die Stirn bieten“ – denn: „Zorn muss sich zeigen. Wut kann man unterdrücken“ (S. 73). Dass der Zorn, der tatsächliche oder vermeintliche Legitimität beansprucht, auch sein Maß verlieren und in eine unberechenbare Unbeherrschtheit umschlagen kann, sei hier nur am Rande angemerkt.

Solcher Zorn trifft seit Längerem auch Führungskräfte, meistens oberste Repräsentanten. Ihnen wird nicht nur Selbstbezüglichkeit vorgeworfen, was nicht wirklich neu im Raum steht, sondern vermehrt auch Bereicherung durch entgrenzte Gehälter und Verantwortungslosigkeit gegenüber der Gesellschaft. Das Vertrauen in diese Verantwortungsträger ist, ich verwies darauf anderenorts, wenig überraschend auf einem historischen Tief.

Die deutsche Autoindustrie und ihre Falschspielereien

Das sogenannte „Autokartell“ würde, sofern der Konjunktiv auch juristisch entfiele, alles prototypisch zugleich widerspiegeln. Es geht um die Sicherung der exklusiven Vorstandsposition und die Definition von Grenzen nach eigenem Gusto, es geht um ein immer noch mehr an Gehalt durch ein immer noch mehr an Gewinnen. Alles das dann über Erschwerung des Marktzugangs Dritter in Verbindung mit unlauterer Kostenreduktion, die zu Lasten der Gesundheit aller und auf Kosten nachfolgender Generationen geht. Die vorgängige Proklamierung des unbedingten ökologischen Verantwortungsbewusstseins erscheint da schon fast zynisch. Dass sich alle Medien dies auch ohne weitere Beweisführung bereits als Faktum sehr gut vorstellen können, sagt bereits viel über den Stand der Dinge aus. Die Verbandeltheit mit Teilen der Landes- und Bundespolitik dürfte den Zorn noch befeuern. Denn die Politik wäre es ja, die die Unverletzlichkeit der Person, aber auch das Zerschlagen verborgener Kartelle kraft oberster Normen zu garantieren hätte. Stattdessen, so die entstandene Vermutung, sei sie dazu unfähig oder unwillig.

Es fehlt anscheinend auf beiden Seiten, in Politik wie Wirtschaft, an der Kraft zu erkennen, dass ein langwieriges Aussitzen der Fehlentwicklung für die Automobilproduzenten ökonomisch unsinnig ist – allerdings, zugegeben, einstweilen nicht zwingend für die Betreffenden. Aber auch gefährlich für die Exportwirtschaft via Spillover-Effekt, denn der Status des deutschen Ingenieurs ist dafür der Erfolgsgarant schlechthin.

Der gesunde Menschenverstand wird bekanntlich dann suspendiert, wenn die Überlegenheitsgefühle zu groß werden. In den griechischen Tragödien spielte diese Hybris, die extreme Selbstüberschätzung, der durch Realitätsverlust flankierte Hochmut, eine spielgebende Rolle. Der Unterschied zum Gegenwärtigen sind weniger die Charaktere, sondern der Ausgang des „Schauspiels“. Sorgte die Mythologie für eine gerechte (Götter-)Strafe, so mahlen die Mühlen der Gerechtigkeit im Hier und Jetzt langsam oder es findet sich so recht keiner von Rang, der überhaupt an der Mühle drehen will, obgleich er kraft Amt müsste (Aufsichtsrat).

Es bleibt dann nur der Zorn, der vielleicht weiter anschwillt oder sich in Freud’scher Diktion anderen, damit zusammenhängenden Objekten zuwendet. Oder aber der Zorn gerät im Angesicht der Fülle der Ereignisse außer Kontrolle, im schlimmsten Fall dann blind einer Abhilfe versprechenden Einfachideologie folgend. Im Wirtschaftsjargon wäre dies lediglich die Externalisierung von Kosten, für die Gesellschaft eine Tragödie.

Die fast vergessene Belegschaft: Energie von morgen?

Aber was ist eigentlich mit denen, die die vielfältigen Werte, die nun vernichtet werden, überhaupt mehrheitlich geschaffen haben? Die Arbeiter am Band, die Heerscharen von Ingenieuren, die Auszubildenden, die bei den abhängigen Zulieferern Tätigen usw. Wie geht es denen? Wie gehen sie aus dem Ganzen hervor?

Sie sind in den Organisationen die wahren Verlierer. Während sich das Top-Management nur in Ausnahmefällen verantworten muss und zügig woanders wieder söldnergleich andockt, sind alle anderen Führungskräfte und Mitarbeiter von der Existenz des Unternehmens stärker abhängig. Deren Psyche wird tabuisiert, wo doch eine Zuwendung ethisch wie ökonomisch geboten wäre. Kathie Pelletier und Michelle Bligh (2008) zeigen, dass nach Korruptionserfahrungen belegschaftsseitig emotionale Reaktionen wie Zynismus, Pessimismus, Paranoia und Furcht auftreten, für die dann die Führungsspitze und Organisationspraktiken („Netzwerke“, „Nepotismus“, „Vetternwirtschaft“) verantwortlich gemacht werden. Dies, so ist zu ergänzen, korrespondiert selbstredend mit einer Vertrauenskrise, die ohne Schuldeingeständnis in die Länge gezogen wird („Nicht so schlimm“, „Angriff der Konkurrenten“, „Die anderen sind nicht anders, noch aggressiver“) und eine Neubesinnung auch innerhalb der Belegschaft erschwert. Identitätsbrüche sind nicht zu unterschätzen, die bis in den Alltag hineinwirken können (Familie, Freunde, Ehrenamt).

Diese Belegschaft zurückzugewinnen, ist schwierig, aber notwendig. Die eigenen Helden haben sich im Skandalfall als Mephistos Epigonen entpuppt, die Scheinwelten produzieren und Verderben über andere bringen. Ein Neuanfang ist solange nicht möglich, wie beständig neue Betrügereien erkannt werden müssen. Der Umkehrende legt alle Karten auf den Tisch, der routinierte Lügner, der noch im Tunnel den Notausgang sucht, liefert ausnahmslos nur das, was er gerade muss.

Sofern eine substanzielle kulturelle Veränderung angestrebt wird, die, einer fundamentalen Krise entspringend, eine „verantwortliche Unternehmensführung“ mit Strahlkraft nach innen und außen etablieren möchte, wird mit guten Gründen eine breitere personelle Neuorientierung favorisiert, deren Spitze nicht Teil des Systems und seines Umfeldes gewesen ist. Deshalb sind in demokratischen Systemen Wahlen so grundlegend, denn sie bieten Raum, sich vom Überdrüssigen zu trennen und neuen Werten und Strategien unbelastet Chancen zu geben. In Unternehmen muss die Aufsicht oder im Extrem die Justiz nachhelfen, wenn es an Selbsteinsicht fehlt.

O’Connell und Bligh (2009), beide von der Claremont Graduate University, USA, demonstrieren in ihrer Untersuchung sehr schön, dass nach solchen traumatischen ethischen Verwerfungen, gar kriminellen Aktionen wie beim Diesel-Gate, noch nicht alles verloren ist. Die sofortige konsequente Vermeidung auch nur des Anscheins von Unzulässigkeiten durch die Führenden, die Herausarbeitung von ethischen Fehlentwicklungen im Alltagsgeschäft und auch die symbolische Verdeutlichung des korrekten Weges nach innen und außen können Organisationen dafür nachweislich leisten. Marshall Schminke und sein Team (2014) finden sogar Evidenz dafür, dass im günstigen Fall ein höheres Zutrauen zur Organisation als vor der Krise empfunden wird. (Wohlgemerkt: Im günstigen Fall!)

Operation am offenen Herzen

Die Kultur der zügigen Verantwortungsübernahme für erschütternde Vorkommnisse im eigenen Zuständigkeitsbereich hat in den letzten Jahren weitflächig gelitten, so der Eindruck. Für die Fälle ohne nachweislich persönliche Schuld gilt dies ebenfalls, auch wenn der Einzelfall immer zu würdigen ist. Parallel dazu zeigt sich allerdings auch die Unart einer reflexhaften Forderung nach Rücktritt bei geringwertigen Anlässen. Beides dient der Sache nicht.

Verantwortungsübernahme für Verfehlungen soll ja kathartisch wirken, reinigend also, den Zorn besänftigen und faktischen Freiraum für einen glaubwürdigen Neuanfang schaffen. Dieses ist zum einen angezeigt. Angezeigt ist aus der der Führungsperspektive zum anderen, den in solchen Situationen bislang Zurückgesetzten, den Belegschaften, mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Im Besonderen ihre Zukunft steht hier auf dem Spiel. Die eigentliche Transformation steht vor allem ihnen angesichts eines Technologieschubes noch bevor. Und das ganz ohne Falschspielerei.

Mishra, P. (2017): Das Zeitalter des Zorns, Frankfurt/M.

O’Connell, W. / Bligh, M.C. (2009):  Emerging from Ethical Scandal: Can Corruption Really Have a Happy Ending? In: Leadership, 5(2), 213–235

Pelletier, K.L / Bligh, M.C. (2008): The Aftermath of Organizational Corruption: Employee Attributions and Emotional Reactions. In: Journal of Business Ethics, 80(4), 823–844

Schminke, M. /Caldwell, J. / Ambrose, M.L. / McMahon, S.R. (2014): Better than ever? Employee reactions to ethical failures in organizations, and the ethical recovery paradox. In: Organizational Behavior and Human Decision Processes, 123(2), 206–219

Seel, M. (2012): 111 Tugenden, 111 Laster. 3. Aufl., Frankfurt/M.

Steinbeck,  J. (1939/1985): Früchte des Zorns, München

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