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Ethisches Lernen am Arbeitsplatz!? Wie Organisationen die charakterliche Entwicklung ihrer Mitarbeitenden unterstützen können

Im führungsethischen Kontext sind Organisationen heute vornehmlich bestrebt, moralische Entgleisungen ihres Personals zu unterbinden, um so Schäden für die Institution abzuwenden. Selten sind dagegen Konzepte, die darüber hinausgehen, indem sie nicht nur moralisches Versagen verhindern, sondern vielmehr auch ethisches Lernen ermöglichen wollen. Leadership Insider stellt einen aktuellen Ansatz hierzu vor und diskutiert dessen Möglichkeiten und Grenzen.

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Strukturen und Kulturen sind von enormer Wirkung für das Verhalten der Organisationsmitglieder. Dies gilt nicht zuletzt auch in Bezug auf die moralische Qualität Ihres Verhaltens. Üblicherweise werden in diesem Zusammenhang – vor allem wenn es wieder einmal die Hintergründe eines Wirtschaftsskandals auszuleuchten gilt – negative Wirkeffekte herausgestellt, sei es das Zuviel an zugewiesener Macht, was Realitätsverlust und Hybris befördert, oder das Übermaß an möglichen Boni, welches die Gier befeuert und die Moral verdrängt. Hier kann allerdings auch umgekehrt gedacht und gefragt werden: Könnte mittels organisationaler Settings die Moral nicht auch gestärkt werden? Was wäre hilfreich, um ethische Lernprozesse der Beschäftigten nachhaltig zu unterstützen? Leadership Insiders gibt Einblicke in die Idee des Arbeitsplatzes als „moralisches Laboratorium“ der Charakterentwicklung.

(Un-)Moralität – eine Frage des Seins oder des Werdens?

Fragen der Moral und Unmoral stehen seit einigen Jahren im Fokus der Führungsforschung und -lehre, was – wenig überraschend – natürlich vorrangig den diversen Wirtschafts-, Unternehmens- und Führungsskandalen der jüngeren Vergangenheit geschuldet ist (Volkswagen, Deutsche Bank, Wirecard etc.). Betrachtet man die einschlägigen Analysen solcher Skandale einmal näher, dann rekurrieren sie in der Regel auf zwei unterschiedliche Erklärungsmuster (vgl. Kuhn/Weibler 2020), nämlich ein …:

  • dispositionelles Grundverständnis, demgemäß ethisch illegitime oder gesetzlich illegale Verhaltensweisen im Wesentlichen aus dem Umstand resultieren, dass die Verantwortlichen in den Organisationen Menschen sind, die kaum oder keine Moral kennen („Bad Apples“). Populär in diesem Zusammenhang ist derzeit die sogenannte „Dunkle Triade“ der Persönlichkeit (Paulhus/Williams 2002), bestehend aus (subklinischen) Narzissten, Machiavellisten oder (subklinischen) Psychopathen.

Die Keymessage lautet hier: Diese Persönlichkeiten sind charakterlich schlecht (aufgrund früher Sozialisation oder genetischer Disposition) und Ziel von Organisationen muss es sein, sich vor ihnen zu schützen (am besten durch frühzeitige Auslese bereits im Rahmen der Personalauswahl).

  • situatives Grundverständnis, demzufolge unmoralische bzw. ungesetzliche Verhaltensweisen zuvorderst auf organisationale Settings („Bad Barrels“) zurückzuführen sind (bspw. eine herrschende „Profit at all costs“-Kultur, überbordender Leistungsdruck und interner Wettbewerb, überambitionierte und mit zulässigen Mitteln kaum realisierbare Zielvorgaben, leistungsorientierte Vergütungssysteme).

Die Keymessage lautet hier entsprechend (anders), nämlich: Problem ist weniger, dass Menschen moralisch schlecht sind, sondern dass sie unter Bedingungen arbeiten, die sie sukzessive schlecht werden lassen. Die Sozialpsychologie spricht hier vom „Luzifer-Effekt“, der weitestgehend der „Macht der Umstände“ geschuldet ist (Zimbardo 2008). Organisationen, die sich hiervor schützen wollen, sollten folglich ihre Strukturen und Kulturen so ausgestalten, dass sie keinen Druck zu unethischen Verhaltensweisen gegenüber ihren Mitgliedern erzeugen.

Ganz im Geiste dieses situativen Grundverständnisses lesen sich die US-amerikanischen Führungsforscher Isaac H. Smith und Maryam Kouchaki (2021, S. 282, übersetzt), wenn sie zugrunde legen:

Es wäre naiv zu glauben, dass die jahrelange Lebenserfahrung am Arbeitsplatz – eingebettet in verschiedene Organisationen und Gruppen – die moralischen Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen eines Menschen nicht beeinflusst.“

Anders als die Mehrzahl der Forschungen, die sich vor allem auf die Frage konzentriert, wie Organisationen ein Abdriften ihrer Mitglieder in unethische Verhaltensweisen verhindern können („avoiding the bad“), befassen sich Smith und Kouchaki in ihrem aktuellen Beitrag mit der praktisch entgegengesetzten Fragestellung: Was können Organisationen tun, damit ihre Mitglieder sich moralisch kontinuierlich weiterentwickeln und so in die Lage versetzt werden, aus sich heraus das moralisch Richtige zu tun („pursuing the good“)?

Im Kern geht es ihnen damit um das Problem des ethischen Lernens am Arbeitsplatz, sprich: um Prozesse des Erwerbs von Wissen, Fähigkeiten und Erfahrungen im Umgang mit der Beurteilung zwischen richtig und falsch. Die Auseinandersetzung mit dieser Problematik erfolgt dabei in zwei gedanklichen Schritten, nämlich (1) zunächst einer Bestimmung zentraler Barrieren eines ethischen Lernens am Arbeitsplatz, aus der sodann (2) Empfehlungen abgeleitet werden, wie diese Barrieren mittels organisationalen Handelns überwunden werden können – damit der Arbeitsplatz (auch) zu einer Art „Laboratorium der Charakterentwicklung“ werden kann. Blicken wir zunächst auf die ausgemachten Barrieren.

Was ethisches Lernen der Mitarbeitenden behindert

Auf Grundlage einer Auswertung bedeutender Forschungen aus den Bereichen Organizational Behavior, Moralpsychologie und Verhaltensethik bestimmen Smith und Kouchaki fünf zentrale Hindernisse eines ethischen Lernens in Organisationen, wobei die vier Erstgenannten individuelle Hindernisse darstellen, das Letztgenannte hingegen ein soziales Hindernis bezeichnet:

  • Verteidigungsverhalten („defensiveness“): Ausgangspunkt ist hier der allgemeine Umstand, dass jeder Mensch sich selbst gerne als möglichst positiv wahrnehmen möchte – was in ethischen Kontexten zum Wunsch führt, vor sich selbst, aber auch vor anderen stets als moralisch integre Person zu erscheinen. Konkrete moralische Verfehlungen, die sich zu einer Gefahr für unser positives Selbst- und Fremd-Image auswachsen können, werden von daher gezielt bekämpft, nämlich einerseits durch kognitiven Selbst-Betrug („Jeder hätte das so getan“, „Es war letztlich gar nicht so schlimm“, „Es wurde mir ja praktisch so befohlen“ etc.), andererseits durch Verheimlichung gegenüber anderen (lügen, abstreiten, verschleiern, vertuschen etc.). Analogisch gesprochen: Menschen neigen nicht dazu, sich im Stile eines Richters selbst anzuklagen und gerecht abzuurteilen, sondern sich im Stile eines Verteidigers herauszureden und möglichst freizusprechen. Genau diese Verteidigungshaltung macht es nach Ansicht von Smith und Kouchaki dem Einzelnen allerdings weithin unmöglich, aus eigenen moralischen Fehlern in perspektivischer Hinsicht zu lernen.
  • Selbstüberschätzung („overconfidence“): Ausgangspunkt ist hier ebenfalls ein allgemeingültiger Umstand, nämlich der, dass Mensch sich in vielerlei Hinsicht als überdurchschnittlich wahrnehmen („better-than-average-effect“), sich im Vergleich zu anderen also tendenziell überschätzen. So gaben in Studien bspw. 94% befragter Hochschullehrer an, dass ihre eigene Lehre überdurchschnittlich gut sei, und 84% befragter Mediziner glaubten, dass andere Ärzte sich durch Werbegeschenke von Pharmavertretern beeinflussen lassen, wohingegen nur 39% davon ausgingen, dass das auch auf sie selbst zuträfe. Wir unterliegen so gesehen einer Art „positiven Illusion“ (Taylor/Brown 1988), die auch in Bezug auf ethische Belange gilt und dazu führt, dass wir uns den meisten anderen gegenüber moralisch überlegen fühlen. Und diese moralische Selbstüberschätzung bewirkt, dass wir eher selten Rat von anderen in moralischen Fragen suchen oder annehmen, vielmehr davon ausgehen, in moralischer Hinsicht eigentlich gar keinen Lernbedarf zu haben – was unschwer als Hindernis ethischer Lernprozesse zu erkennen ist.
  • Egoismus („selfishness“): Egoismus oder auch Eigennutz gilt der Ökonomie bekanntlich als das zentrale Handlungsmotiv des Menschen, wobei diese Vorstellung des Menschen als „Homo oeconomicus“ umgekehrt natürlich auch vielfacher Kritik unterzogen wurde. Smith und Kouchaki kontrastieren egoistische Verhaltensorientierungen (Ehrgeiz, Streben nach Macht und Geld) mit gemeinschaftsbezogenen Verhaltensorientierungen (Zugehörigkeit, Harmonie, Loyalität, Vertrauen) und gehen davon aus, dass je stärker die Orientierung in eine Richtung weist, desto geringer eine Orientierung in die jeweils andere Richtung möglich sei. Stark egoistische Orientierungen, die gerade in wirtschaftlichen Organisationen ja häufig angestrebt und gefördert werden, bedingen entsprechend, dass negative Wirkungen auf andere gerne übersehen werden, Möglichkeiten zur Erzielung positiver Wirkungen für andere kaum je in Betracht gezogen werden, Verantwortung, Rücksichtnahme oder gar persönlicher Verzicht zugunsten Dritter insgesamt also einen bestenfalls marginalen Stellenwert besitzen. Und in dem Maße, in dem der Fokus auf dem je eigenen Nutzen liegt, erscheint ethisches Lernen als ein letztlich völlig unnötiges und überflüssiges Unterfangen.
  • Unerfahrenheit („inexperience“): Ein viertes individuelles Hindernis für ethische Lernprozesse sehen die Autoren schließlich in dem verbreiteten Umstand, dass (a) Mitarbeitenden in aller Regel (ex ante) kaum oder gar keine Kenntnisse darüber vermittelt werden, wie in konkret entstehenden moralischen Konfliktsituationen (z.B. Aufforderung zur Fälschung von Daten oder zur Zahlung von Schmiergeld) grundsätzlich zu verfahren ist, und dass (b) Mitarbeitenden im Falle unethischer Verhaltensweisen zudem so gut wie nie (ex post) Möglichkeiten eingeräumt werden, ihr Fehlverhalten kritisch zu reflektieren, systematisch aufzuarbeiten und nachhaltige Lernerfahrungen aus solchen Fehlern zu ziehen.
  • Negative soziale Einflüsse („negative social influences“): Quasi in Ergänzung zu den vier bisher genannten individuellen Hindernissen kann ethisches Lernen schließlich aber auch durch negative soziale Einflüsse gehemmt oder gar unterbunden werden. Verwiesen ist damit auf verhaltensrelevante Einflussnahmen, die von außen (Vorgesetzter, Kollegenschaft, Team) auf den Einzelnen ausgeübt, über Sozialisationsprozesse („Was ist hier (un-)normal bzw. (nicht) akzeptiert“) leichthin verinnerlicht werden und allzu häufig eben keine ethischen Verhaltensweisen nahelegen, sondern deren Gegenteil, sprich: zur Praktizierung illegitimer oder gar illegaler Handlungen anhalten. Zur Veranschaulichung der überaus flächendeckenden Wirkung solcher negativen sozialen Einflussnahmen verweisen Smith und Kouchaki auf das Beispiel des Kreditkartenbetrugs bei der US-Bank Wells Fargo, an dem insgesamt über 5.000 Mitarbeitende aktiv mitwirkten. Hier ist es dann letztlich die Unternehmenskultur, die auf dem Wege der Sozialisation eine Normalisierung unethischer Verhaltensweisen bewirkt und damit gleichsam auf das Gegenteil eines ethischen Lernens hinwirkt, nämlich auf das Verlernen moralischen Handelns („unethical learning“).

Wie ethisches Lernen der Mitarbeitende befördert werden kann

Im konstruktiven bzw. instruktiven Teil ihrer Arbeit entfalten Smith und Kouchaki fünf Leitsätze mit abgeleiteten Empfehlungen für ein ethisches Lernen in Organisationen, mittels derer die obigen (psychologischen, sozialen) Barrieren gleichsam überwunden werden sollen. Im Einzelnen wird hier wie folgt argumentiert:

  • Schaffung einer ethischen Kultur: Als wichtigsten Beitrag zur Verminderung oder Vermeidung negativer sozialer Einflüsse auf die Mitarbeitende bzw. als Leitprinzip für einen Übergang vom unethischen zum ethischen Lernen erachten Smith und Kouchaki die Schaffung einer ethischen Kultur, worunter sie mit Treviño et al. (2014, S. 641, übersetztjenen Teil der Organisationskultur verstehen, der

„das Zusammenspiel zwischen ethikbezogenen formellen (z. B. Regeln und Richtlinien, Leistungsmanagementsysteme) und informellen (z. B. Normen, Sprache, Rituale) Organisationssystemen betrifft, die das ethische und unethische Verhalten der Mitarbeitenden beeinflussen“

Die Entwicklung einer solchen Kultur muss dabei insbesondere von den Führungskräften geleistet werden, indem diese der Ethik einen hohen Stellenwert beimessen bei dem, worauf sie im Führungsalltag achten, was sie ansprechen und herausstellen und was sie nicht zuletzt auch selbst vorleben. Begleitet sein sollte eine ethische Führungskultur zudem von ethikorientierten HRM-Praktiken, die es im Auswahlprozess, in der Personalentwicklung, in der Entlohnungs- wie in der Beförderungspolitik prominent zu verankern gilt. Nicht zuletzt wird auch auf die Notwendigkeit eines ethischen Verhaltenskodex verwiesen, der idealerweise allerdings von starken moralischen Erzählungen und wiederkehrenden ethikbezogenen Ritualen getragen sein soll.

  • Entwicklung psychologischer Sicherheit: Dieser Prozess dient insbesondere dazu, dem verbreiteten Verteidigungsverhalten („defensivessness“) innerhalb von Organisationen zu begegnen. Der Begriff steht dabei für die Wahrnehmung des Einzelnen, dass es innerhalb der Arbeit unproblematisch ist, zwischenmenschliche Risiken einzugehen, sprich: Fehler einzugestehen, einen spezifischen Status quo in Frage zu stellen, andere um Hilfe zu ersuchen oder von ihnen ein konstruktives Feedback zu erbitten. In moralischen Kontexten ermöglicht eine solche psychologische Sicherheit dann beispielsweise, ethische Fragwürdigkeiten oder Missstände offen anzusprechen, eigene moralische Verfehlungen einzugestehen oder auch den Rat von anderen in Anbetracht einer ethischen Konflikt- oder Dilemma-Situation einzuholen. Derlei Möglichkeiten gelten als ein idealer Nährboden für ethische Lernprozesse auf breiter Basis.
  • Beförderung moralischer Bescheidenheit : Ziel ist hier, das Problem der moralischen Selbstüberschätzung („overconfidence“) anzugehen, indem das Bewusstsein der Organisationsmitglieder (also auch der Führungskräfte) dafür geschärft wird, dass (a) ein jeder – also auch man selbst – moralisch falsche Entscheidungen treffen und moralisch falsche Handlungen begehen kann, und (b) die persönliche Moralität wie auch die moralische Urteilsfähigkeit der anderen anerkannt und wertzuschätzen ist. Im Sinne eines entsprechenden Lernprozesses empfehlen die Autoren, dass Mitarbeitende sich vor dem Treffen moralisch relevanter Entscheidungen mit drei Testfragen auseinandersetzen:
    • dem „Publizitäts-Test“ („Wäre es ok, wenn die Überlegungen hinter dieser Entscheidung morgen in der Presse zu lesen wären?“)
    • dem „Generalisierungs-Test“ („Wäre es ok, wenn diese Entscheidung als Präzedenz für weitere Entscheidungen dieser Art herangezogen würde?“) sowie
    • dem „Spiegel-Test“ („Kann man nach der Entscheidung stolz sein auf die Person, die einem im Spiegel anblickt?“).

Ein einziges „Nein“ sollte Anlass zu weiterer Reflexion oder eben auch Diskussion sein.

  • Bestärkung prosozialer Motivation: Als Antidot für das ethische Lernhemmnis Egoismus („selfishness“) verschreiben Smith und Kouchaki Individuen wie Organisationen eine Ausweitung ihrer prosozialen Motivation, gleichsam eine Bestärkung des Wunsches, auch anderen durch eigene Handlungsweisen dienlich zu sein. Dazu gehöre beispielsweise eine systematische Informierung der Mitarbeitende über alles das, was ihre Tätigkeit an Positivem hervorbringt. Mit Blick auf Organisationen als Ganzes vergegenwärtigt sich eine solche Motivation nach Ansicht der Autoren insbesondere in einer Abkehr vom reinen Shareholder-Denken und einer ernstgemeinten Verpflichtung gegenüber allen ihren Anspruchsgruppen.
  • Institutionalisierung moralischer Reflexion: Um schließlich auch dem ethischen Lernhemmnis der Unerfahrenheit („inexperience“) zu begegnen, gelte es nicht zuletzt, Prozesse systematischer moralischer Überlegung innerorganisatorisch fest zu verankern. So sollten beispielsweise in nachbereitenden Projekt-Meetings immer auch ethische Fragen gestellt und erörtert werden: Was lief moralisch besehen gut – und was schlecht? Wurden roten Linien der Moral überschritten? Wurden Werte und Kodizes der Organisation stets beachtet – oder fallweise bewusst außer Acht gelassen? Wem haben wir tatsächlich größeren Schaden zugefügt? Derlei Fragestellungen könnten und sollten modifiziert selbstredend auch im Vorfeld anstehender Projekte bedacht werden. Parallel dazu könnten ethische Lernprozesse auch durch Erfahrungen befördert werden, die in anderen Umfeldern gesammelt werden. Als Beispiel wird hier auf das Software-Unternehmen Salesforce.com verwiesen, das seinen Mitarbeitenden die Möglichkeit gibt, sieben bezahlte Arbeitstage pro Jahr in einem Nonprofit-Unternehmen eigener Wahl tätig zu werden – wodurch in summa nicht nur neuartige Einsichten ethischer Provenienz erworben, sondern nebenbei auch 3,5 Millionen Stunden ehrenamtlicher Tätigkeit geleistet wurden.

Der Arbeitsplatz als moralisches Laboratorium ist eine anregende Leitidee

Insgesamt vermag die Idee des Arbeitsplatzes als „moralisches Laboratorium“ der Charakterentwicklung durchaus zu überzeugen – dies vor allem insofern, als hier bedeutsame Barrieren eines ethischen Lernens in der Praxis identifiziert und hieraus stringente Rückschlüsse dahingehend gezogen werden, wie es Organisationen besser machen könnten.

Grenzen der dargelegten Bestrebungen sind allerdings auch (leider) auszumachen. So merken Smith und Kouchaki in ihrem Beitrag selbst an, dass so mancher argumentieren wird, dass Moralentwicklung des Personals sicher nicht zur DNA der allermeisten Organisationen gehört. Vielmehr erscheint derzeit so manches zur DNA – insbesondere von kapitalmarktorientierten (Groß-)Unternehmen – zu gehören, was aus Sicht der Autoren als ethische Lernbarriere eigentlich rückgebaut gehört: Leistungsdruck, Vergütung nach Performance, überambitionierte Zielsetzungen – allesamt Settings, die vielen als nützlich gelten, um kurzfristige Wertsteigerungen am Aktienmarkt für die Shareholder zu realisieren. Von daher ist die Reichweite des Konzeptes – zumindest bis auf Weiteres – eher begrenzt (bspw. auf Sozialunternehmen mit vorwiegend ethischem Handlungsauftrag).

Hinzu kommt, dass der Ansatz mit seinem stark situativen Grundverständnis („Strukturen/Kulturen machen Menschen gut oder schlecht“) auf dem „dispositionellen Auge“ weitgehend blind ist, also an keiner Stelle einräumt oder mitberücksichtigt, dass es durchaus auch Menschen gibt, für die Moral tatsächlich nur wenig Bedeutung hat, die hauptsächlich der Befriedigung ihrer egoistischen Bedürfnisse nachstreben und die dabei anerkanntermaßen überaus vielfältige Talente in die Waagschale zu werfen vermögen („Impression-Management“). Dies alles mit dem Ergebnis, dass solche „Bad Apples“ eben nicht selten in die oberste Führung von Organisationen aufsteigen – und Bestrebungen zur Förderung ethischer Lernprozesse am Arbeitsplatz spätestens dann vermutlich nur noch weit unten auf der Agenda zu finden sind oder von vornherein als überflüssig gelten.

Dennoch lernen wir selbst für unsere eigene Handlungsverantwortung viel aus den vorgestellten Überlegungen: Mit den angesprochen Publizitäts-, Generalisierungs- und Spiegeltests erhalten wir drei Selbstprüfungen an die Hand, die uns helfen, moralisch reifer zu werden. Sicher, wir sind hier beides: die, die fragen und die, die antworten, aber solche Übungen zur Festigung der Vertikalspannung à la Sloterdijk stemmen sich doch einem unbewussten, schleichenden oder automatischen Abgleiten in ein moralisches Abseits entgegen. Und wer hindert uns daran, diese uns bewegenden Fragen mit anderen zu diskutieren, sofern wir unsicher sind oder unseren moralischen Kompass selbst gelegentlich überprüfen möchten?

Kuhn, T./Weibler, J. (2020): Bad Leadership. Von Narzissten & Egomanen, Vermessenen & Verführten, München

Paulhus, D. L./Williams, K. M. (2002): The Dark Triad of personality: Narcissism, Machiavellianism, and psychopathy. In: Journal of Research in Personality, 36(6), S. 556-563

Smith, I. H./Kouchaki, M. (2021): Ethical learning: The workplace as a moral laboratory for character development. In: Social Issues and Policy Review, 15(1), S. 277-322

Taylor, S. E./Brown, J. D. (1988): Illusion and well-being: A social psychological perspective on mental health. In: Psychological Bulletin, 103(2), S, 193-210

Treviño, L. K./den Nieuwenboer N. A./Kish-Gephart, J. J. (2014): (Un)Ethical behavior in organizations. In: Annual Review of Psychology, 65, S. 635-660

Zimbardo, P. (2008): Der Luzifer-Effekt. Die Macht der Umstände und die Psychologie des Bösen, Heidelberg