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Präsentismus – Krank zur Arbeit?

Mitarbeiter wie Manager gehen oftmals zur Arbeit, obwohl ihr gesundheitlicher Zustand dies nicht oder kaum hergibt. Präsentismus, so heißt dieses Verhalten, hat dabei mehrere Ursachen und Folgen. Neben persönlichen und unternehmerischen im Übrigen auch volkswirtschaftliche, denn mehr als 4% der Produktionsausfälle gehen vermeintlich auf sein Konto. Nachfolgend wird der Stand der Forschung referiert und kommentiert.

Estrada Anton/Shutterstock

Kennen Sie das Gefühl? Sie wachen Werktags morgens auf und fühlen sich körperlich nicht fit. Gedanken schießen durch Ihren Kopf: „Krank zur Arbeit, oder Krankmeldung? Heute ist doch das wichtige Meeting, und überhaupt: Ich kann doch jetzt nicht schon wieder fehlen. Noch mehr Arbeit, wenn ich wieder zurück bin! Und was sollen erst die Kollegen und Kolleginnen denken? Meine Arbeit müssen die wirklich nicht auch noch machen.“ Dem gesundheitlichen Bedenken zum Trotz finden Sie sich also auf der Arbeit ein. Leistungsfähig fühlen Sie sich nicht wirklich. Präsentismus, wie dieses Verhalten genannt wird, ist ein komplexes Phänomen. Leadership Insiders beschreibt das Verhalten genauer, liefert einen kompakten Einblick in die Ursachen und ordnet die Folgen ein.

Was ist Präsentismus?

Der kanadische Managementforscher Gary Johns bringt Präsentismus in seiner üblichen Verwendung wie folgt auf den Punkt1:

„Attending work while ill.”

Sicher, was „krank“ objektiv meint, ist noch offen, deshalb soll hier ohne eine vertiefende Erörterung die subjektive Wahrnehmung dessen als Kriterium genügen. In etwa so, wie es in der deutschen Version vom Health and Work Questionnaire formuliert ist2:

„Wie oft fühlten Sie sich diese Woche zu erschöpft, um Ihre Arbeit zu erledigen?“

Dabei kann es sich um akute, episodische oder chronische Erkrankungen handeln.

Gelegentlich wird Präsentismus lediglich auf die bewusste physische Anwesenheit am Arbeitsplatz bezogen, neben dem eingangs geschilderten Fall beispielsweise um auf Überstunden zu kommen oder um auf eine verlängerte Arbeitszeit aufmerksam zu machen.

Was kostet Präsentismus?

Eine etwas ältere Studie der Unternehmensberatung Booz & Company für die Felix-Burda-Stiftung aus dem Jahre 2011 weist als durchschnittliche Kosten, die deutschen Unternehmen durch Präsentismus entstehen, in einer konservativen Schätzung (z.B. ohne Ansteckung anderer) 2.399 Euro pro Jahr und Mitarbeiter aus (die Kosten krankheitsbedingter Fehlzeiten liegen dagegen „nur“ bei 1.199 Euro)3. Daniela Lohaus und Wolfgang Habermann stützen dies in ihrem Übersichtsbeitrag aus 2019 insofern, als sie die Kosten des Präsentismus höher veranschlagen als die des Absentismus, der seinerseits für rund 4% der Produktionsausfälle verantwortlich sein soll4.

Ob, die Frage taucht ja auf, eine gesundheitlich beeinträchtige Person fehlt (Absentismus) oder erscheint (Präsentismus), wird unterschiedlich erklärt. Dazu hinsichtlich des Präsentismus gleich mehr.

Verbreitung von Präsentismus

Präsentismus tritt weltweit auf. Selbstauskünfte in empirischen Untersuchungen deuten auf eine große Spanne des Verhaltens hin, trotz gesundheitsbedingter Einschränkungen zu Arbeiten (zwischen 30% bis über 90%). Geographische und kulturelle Unterschiede, aber auch Definitions- und Messprobleme könnten diese erhebliche Spannbreite bedingen. Eines wird aber in jedem Falle sichtbar: Deutlich mehr Menschen als man gemeinhin annimmt arbeiten, auch wenn sie sich krank fühlen. In einer Studie mit rund 900 Erwerbstätigen in Deutschland wurde sogar eine Präsentismusquote von ca. 92 % gefunden5.

Gründe für Präsentismus – Konzeptionelle Betrachtung

Die Gründe für Präsentismus sind vielfältig. Oft wird hier konzeptionell zwischen personenbezogenen Faktoren (z. B. Gewissenhaftigkeit) und Kontextfaktoren (auf der Arbeit, in der Gesellschaft, z.B. Teamarbeit, Handlungsspielraum) unterschieden. Beides wird, so die begründete Vorstellung, innerhalb eines psychischen Prozesses vermittelt. Dieser ist wiederum von weiteren, allgemeinen Grundpfeilern der psychischen Verfasstheit einer Person abhängig. Beispielsweise dem Grade der Auffassung, überhaupt Einfluss auf Geschehnisse nehmen zu können und zu wollen.

In die individuelle Entscheidung  fließen auch die Erwartungen und Emotionen zu den Folgen der Entscheidung ein. Dazu gehören die Emotionen Angst bzw. Furcht (Ärger, Mobbing, Nachteile wie Beförderungsstopp, gar Entlassung), ggf. aber auch Stolz, ein stets leistungsmotivierter und zuverlässiger Mitarbeiter zu sein, scheinbare Imperative von wichtigen Meetings, Projekten und Anlässen oder ein Solidaritätsgedanke (Kollegen, Chefin, Organisation: „Ich kann die nicht allein lassen“).

Weniger wichtig erscheint die Bewertung der Folgen für die eigene Gesundheit zu sein. Diese ist selbst auch recht unzuverlässig einzuschätzen, insbesondere wenn Langzeiteffekte zu betrachten sind.

Was mit Präsentismus faktisch einhergeht?

Wie sieht es nun aber mit dem empirischen Forschungsstand zum Präsentismus aus? Eine Metastudie des anglo-amerikanischen Forscherduos Miraglia und Johns aus dem Jahre 2016 weist hier den Weg6: Mit 109 Stichproben, 55 Variablen und insgesamt 176.000 Probanden bietet sie einen sehr guten Überblick. Sie gehen so vor, dass sie Zusammenhänge zwischen Präsentismus und einigen anderen Größen, die für Mitarbeitende und Manager aller Ebenen in Organisationen wichtig sind, quantifizieren.

Exkurs Korrelation Beginn

Zur Bestimmung dieses Zusammenhangs wählen sie ein übliches Maß, das der Korrelation. Ist diese positiv, verändern sich alle Größen in die gleiche Richtung (maximal 1, identische Verlaufslogik: z. B. striktere Abwesenheitspolitik korreliert mit höheren Präsentismuswerten), ist sie negativ, verändern sich alle Größen gegenläufig (maximal -1, identische inverse Verlaufslogik: z. B. höhere Präsentismuswerte korrelieren mit niedrigeren Gesundheitswerten). Auch wenn Kausalitäten intuitiv nahe liegen, drückt die Korrelation nur einen Zusammenhang aus. In der Sozialpsychologie, dies zur Einordnung, sind Zusammenhänge, sofern sie statistisch überzufällig existieren, von .20 bis .40 (positiv wie negativ) für die allermeisten Zusammenhänge typisch. D. h., weitere Faktoren fließen zur Erklärung dieses Zusammenhanges ein, möchte man ihn vollständig erhellen. Verwundert vielleicht etwas, ist aber doch leicht nachzuvollziehen: Die Gesundheit, um bei diesem Beispiel zu bleiben, wird natürlich nicht nur durch Präsentismus beeinflusst, sondern beispielsweise auch durch Sport, Ernährung, Vorgesetztenverhalten etc.

Exkurs Korrelation Ende

Nun wieder zur Metastudie und zum Präsentismus. Es zeigen sich vielfältige Bezüge, die sich in ihrer Stärke in oder annähernd an den üblichen Grenzen bewegen. Manche betreffen die Voraussetzungen bzw. Treiber des Präsentismus (z.B. Abwesenheitspolitik der Unternehmung), andere eher variable Gestaltungsgrößen wie die organisatorische Unterstützung und wieder andere die Folgen (z.B. Engagement, Gesundheit). Manch andere sind Ursachen wie Folgen (Stress), je nachdem, welcher Prozessstufe betrachtet wird. Generell gilt: Es ist ein komplexes Interaktionsgeflecht, wie die nachfolgende Auswahl zeigt:

Ausgewählte Ergebnisse zeigen positive  Zusammenhänge von Präsentismus u.a. mit

  • einer strikten Abwesenheitspolitik (.39),
  • Arbeitsbelastung (.28),
  • Unterbesetzung (.25),
  • affektivem Engagement (.20),
  • Überstunden (.15),
  • Arbeitsengagement (.13)

sowie auch nennenswerte Bezüge mit Stress und emotionaler Erschöpfung oder gar Depression.

Ausgewählte Ergebnisse zeigen negative  Zusammenhänge von Präsentismus u.a. mit

  • Gesundheit (-.39),
  • Optimismus (-.22),
  • organisatorischer Unterstützung (-.17).

Über diese Metaanalyse hinaus gibt es empirische Belege aus Längsschnittstudien, die ausweisen, dass Präsentismus zukünftige Ausfälle durch Krankheit sowie das Auftreten von Langzeitkrankheiten erhöht7. Weitere Studien deuten zudem Effekte von Präsentismus auf nicht erkrankte Kollegen an (z. B. Sorge sich anzustecken, Abwesenheiten von Mitarbeitern im Zusammenhang mit der Verbreitung von Influenza-ähnlichen Krankheiten). In der Literatur werden aktuell begünstigende Faktoren von Präsentismus erforscht. Hierzu zählen etwa gesetzliche Vorschriften, ein schlechtes wirtschaftliches Klima sowie kulturelle Einflüsse (z.B. „Hartes Arbeiten verschafft mir Ansehen)8. 

Wie ist Präsentismus zu bewerten?

Die Forschung verdeutlicht: Präsentismus ist ein komplexes Phänomen, dass jede Führungskraft thematisieren sollte. Es ist aber nur ein Baustein einer gesundheitsförderlichen Führung, die viel weiter geht. Offen ist bislang, welche Auswirkungen sich durch eine zunehmende Vermischung von Arbeit- und Privatleben (Stichwort „Work-Life-Blending9) ergeben. Möglicherweise arbeiten Mitarbeiter dann nicht mehr krank im Büro oder an der Werkbank, sondern krank zu Hause? Mit welchen Effekten dann?

So oder so gilt es Rahmenbedingungen zu schaffen, die die negativen Konsequenzen von Präsentismus reduzieren und die wenigen produktiven Aspekte befördern. Eine zentrale Voraussetzung dafür ist sicherlich eine umsichtige Führung, die sich beispielsweise durch Achtsamkeit10 bewusster mit Gesundheitsfragen auseinandersetzt und authentisch vorlebt. Ein gutes Körpergefühl erleichtert das Vorhaben ungemein, etwas, was uns leider vielfach abhanden gekommen ist. Die „heilende Kraft“ der Arbeit, so die häufiger gehörte Aussage, existiert im Sinne einer Ablenkung bei manchen Beschwerden sicherlich, ist in vielen Fällen wie Infektionskrankheiten oder Erschöpfungszustände eine Mär.

Die Japaner haben bereits für die dramatischen Folgen einer verpassten Selbstregulation im Arbeitskontext einen übergreifenden Begriff geprägt: Karōshi – Tod durch Überarbeiten. Auch wenn der Präsentismus nicht diese exzessive Form des Arbeitens verkörpert, läuft die gesundheitliche Grundlogik durchaus in diese Richtung einer Implosion, nur – mit Ausnahme von Extremsituationen – viel schleichender, indirekter, selbstredend beeinflusst von anderen Größen. Jedoch: Wer kennt deren individuelle Ausprägung schon?

  1. Johns, G (2009): Presenteeism in the workplace: A review and research agenda. In: Journal of Organizational Behavior, 31(4), S. 519– 542
  2. Lohaus, D. / Habermann, W. (2018): Präsentismus: Krank zur Arbeit – Ursachen, Folgen, Kosten und Maßnahmen, Wiesbaden
  3. Booz & Company (2011): Vorteil Vorsorge. Die Rolle der betrieblichen Gesundheitsvorsorge für die Zukunftsfähigkeit des Wirtschaftsstandortes Deutschland. Abrufbar unter: https://www.felix-burda-stiftung.de/sites/default/files/documents/Studie_FBS_Booz_Vorteil_Vorsorge_2011.pdf
  4. Lohaus, D. / Habermann, W. (2019): Presenteeism: A review and research directions. In: Human Resource Management Review, 29(1), S. 43–58
  5. Pohling, R. / Buruck, G. / Jungbauer, K./Leiter, M. P. (2016): Work-related factors of presenteeism: The mediating role of mental and physical health. In: Journal of Occupational Health Psychology, 21(2), S. 220–234
  6. Miraglia, M. / Johns, G. (2016): Going to work ill: A meta-analysis of the correlates of presenteeism and a dual-path model. In: Journal of Occupational Health Psychology, 21(3), S. 261–283
  7. Bergström, G. / Bodin, L. / Hagberg, J. / Aronsson, G./ Josephson, M. (2009): Sickness presenteeism today, sickness absenteeism tomorrow? A prospective study on sickness presenteeism and future sickness absenteeism. In: Journal of Occupational and Environmental Medicine, 51(6), S. 629–638
  8. Cooper, C. L. / Lu, L. (2016): Presenteeism as a global phenomenon: Unraveling the psychosocial mechanisms from the perspective of social cognitive theory. In: Cross Cultural & Strategic Management, 23(2), 216–231
  9. Weibler, J. (2018): Work-Life-Blending – Was heißt das und was bedeutet es? Abrufbar unter: https://www.leadership-insiders.de/work-life-blending-was-heisst-das-und-was-bedeutet-es/
  10. Weibler, J. / Müssigbrodt, M. (2016): Achtsame Führung – Fakten für Führungskompetenz. Abrufbar unter: https://www.leadership-insiders.de/achtsame-fuehrung-fakten-fuer-fuehrungskompetenz/