Incognita, die im Folgenden als Sina Lorenz auftritt, ist eine langjährige Mitarbeiterin und Führungskraft aus dem Personalbereich, die uns ihre Erfahrungen zu einer schlechten Führung aus ihrer ganz persönlichen Sicht schildert. Wir haben dies aufgenommen, weil es grundsätzliche Ausführungen zum Thema unethischer Führung oder Bad Leadership bereichernd ergänzt: Kognitive, emotionale und motivationale Folgen einer als toxisch erlebten Führung werden anschaulich geschildert. Des Weiteren werden Möglichkeiten ihrer Bekämpfung aufgezeigt. Am Ende wird jeder seine eigenen Lehren aus den naturgemäß subjektiven Schilderungen zu ziehen wissen.
Einordnung
Hätte man mich vor 20 Jahren in den Personalmanagement-Vorlesungen meines BWL-Studiums gefragt, ob es so etwas wie „Dark Leadership“ – gemäß Jürgen Weibler und Thomas Kuhn und ihrem Buch „Bad Leadership: Von Narzissten & Egomanen, Vermessenen & Verführten“ – gibt, hätte ich dies vehement verneint. Natürlich nicht. Vorgesetzte sind ehrenhafte, gerechte, standhafte und moralisch einwandfrei handelnde Persönlichkeiten. Schließlich haben sie eine Vorbildfunktion. Sie fungieren als Leuchttürme, an denen sich ihre Mitarbeiter orientieren und denen sie vertrauen können.
Leider wurde ich eines Besseren belehrt. Alle meine Schilderungen basieren auf Erfahrungen mit Führungskräften aus dem Personalwesen. Dies ist umso erschreckender, sollte doch gerade das Personalmanagement sowohl Hüter als auch Flaggschiff für eine gute Unternehmens- und Führungskultur sein. Generell erachte ich die Vorkommnisse aber als durchaus auf andere Funktionsbereiche verallgemeinerbar. Alle Namen wurden nachfolgend verändert.
Dark Leadership – Teil I
Mein erster Chef nach dem Studium war noch vergleichsweise harmlos. In unseren wöchentlichen Rücksprachen, in denen ich von den aktuellen Fällen und anstehenden Aktivitäten berichtete, hatte er nur eine einzige Frage an mich: „Kann da etwas anbrennen?“ Diese Frage machte mich nervös. Ich dachte nur: Keine Ahnung. Ich bin Berufsanfänger. Sag du es mir. Ich denke… ich hoffe nicht.
Für meine größte Verwunderung sorgte dann die folgende Aussage: „Kann da etwas anbrennen?“ Noch während ich mit den Achseln zuckte, fuhr er fort: „Apropos brennen, ich habe die neue CD von Natasha Bedingfield da. Soll ich Ihnen eine Kopie davon brennen?!“ Ich stand da mit meiner Rücksprachemappe und all meinen offenen Fragen. Anstatt musikalisch hätte ich mich lieber fachlich mit ihm ausgetauscht. Ich war verwundert, wie wenig sich der Chef für die Belange der Abteilung und für mich zu interessieren schien. Ich stand am Anfang meines Berufslebens, war hochmotiviert, bereit zu lernen und etwas zu bewegen. Ich fühlte mich ausgebremst.
Dark Leadership – Teil II
Mein zweiter Vorgesetzter war hektisch, cholerisch und litt, rückblickend betrachtet, unter starken Minderwertigkeitskomplexen. An meinem ersten Arbeitstag hatte ich gleich um 11 Uhr einen ersten Termin mit meinem neuen Chef, in dem er mir alle seine Erwartungen an mich sowie erste Zielsetzungen und Deadlines aufzeigte. Den Begrüßungsblumenstrauß quasi noch in der Hand haltend, fühlte ich mich etwas überrumpelt. Was mich am meisten irritierte, war sein harscher, fordernder und aggressiver Ton, mit dem er seine Anliegen vorbrachte. „Einen letzten Punkt habe ich noch“, sagte er, nachdem ich mir bereits eine Stunde lang Notizen gemacht hatte. „Frau Drescher wird Sie ja überwiegend einarbeiten. Nun ja, sie ist nicht immer ganz einfach. Sollte es zu irgendwelchen Schwierigkeiten oder Auseinandersetzungen mit ihr während der Einarbeitung kommen, wenden Sie sich bitte umgehend an mich. Sprechen Sie auf gar keinen Fall Frau Drescher direkt an. Kommen Sie zu mir.“
In den ersten drei Wochen erlebte ich meine Kollegin als kompetent und durchsetzungsstark, aber wenig kooperativ. Sie mied, beschnitt und versetzte mich, wo sie nur konnte. Entscheidende Informationen enthielt sie mir vor, Vorschläge von mir bügelte sie im Beisein unseres Chefs rigoros ab. Ich geriet mehr und mehr unter Druck, da ich erste Ergebnisse nicht wie gewünscht liefern konnte. Nach zwei bis drei Versuchen mit meiner Kollegin zu sprechen, erinnerte ich mich an die Worte meines Chefs. Ich berichtete ihm von meinem Eindruck. Zwei Tage später wurde ich in sein Büro gerufen, wo meine Kollegin bereits saß. „Frau Lorenz, Sie haben sich bei mir über Frau Drescher und ihre Einarbeitung beschwert. Darüber möchten wir gerne mit Ihnen sprechen.“ Wie bitte?! So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Ich fühlte mich verraten, hintergangen und an die Wand gestellt.
Das war erst der Auftakt einer langjährigen toxischen Zusammenarbeit. Mein Vorgesetzter war nicht in der Lage, seine Anliegen zu bündeln und es gab keine festen Rücksprachetermine. Daher rief er mich unter dem Vorwand der absoluten Dringlichkeit zwischen 10 und 20 Mal am Tag an und forderte zusammenhangslos Informationen und Dokumente ein. Unterlagen, die ich erst einmal zusammentragen, aufbereiten und produzieren musste. Und alles war dringlich und wichtig und alles benötigte er sofort. Tatsächlich aber wurden Meetings verschoben oder es stellte sich heraus, dass er das Material nur als Backup haben wollte, just in case, falls das Thema zur Sprache käme… Dann hatte er bereits vorgearbeitet und konnte brillieren. Ich hingegen war gestresst.
Darüber hinaus gab es unangenehme Situationen, in denen er einfach schrie. Meine Kollegin und ich waren für Auslandsentsendungen zuständig und haben uns die Länder nach Ost und West aufgeteilt. Einmal haben wir unabhängig voneinander einen Entsendevertrag an ihn zur Unterschrift gegeben, hatten aber zuvor den Vertrag des anderen gemäß Vieraugenprinzip quergelesen. Er hatte wohl nichts Besseres zu tun, als die Verträge nebeneinander zu legen und zu vergleichen. Dabei muss ihm aufgefallen sein, dass die Verträge inhaltlich nicht zu 100% deckungsgleich waren. Er hat uns in sein Büro zitiert und zusammenfaltet, warum die Verträge nicht gleich aussähen, ob wir zu blöd wären, eine gemeinsame Vertragsvorlage zu nutzen. Wir waren total perplex und haben ihm zu erklären versucht, dass die Sach- und Ausgangslage der beiden Entsendungen nicht identisch war und wir deswegen begründet Anpassungen vornehmen mussten. Meine Kollegin und ich kehrten in unsere Büros zurück und waren für Wochen desillusioniert und demotiviert.
Noch mehr als jene Wutattacke traf mich allerdings folgende Demütigung. Zur steuerrechtlichen Einschätzung unserer Entsendefälle arbeiteten wir mit einer renommierten Steuerkanzlei zusammen. Wir hatten zunächst eine regionale Kanzlei ausprobiert, die aber nicht genug internationale Expertise für unsere teilweise komplizierten Entsendekonstellationen vorweisen konnte. Was soll ich sagen, Qualität hat halt ihren Preis. Dazu kam, dass unser Unternehmen gerade Richtung Osten, also in die Region, die ich betreute, neue Geschäftsfelder auftun wollte, was dazu führte, dass Mitarbeiter in Länder entsandt wurden, in denen wir noch keine Niederlassung hatten. Das brachte nicht nur die „gewöhnlichen“ individualsteuerrechtlichen Fragestellungen mit sich, sondern auch Fragen rund um die Betriebsstättenproblematik etc. Kurzum, der Beratungsaufwand der Steuerkanzlei war hoch und so auch ihre monatlichen Rechnungen.
In einem gemeinsamen Meeting zwischen meinem Chef, meiner Kollegin für die Westländer, mir sowie Vertretern der Steuerkanzlei platzte mein Vorgesetzter mit folgender Frage heraus: „Ich verstehe nicht, warum die monatlichen Rechnungen jedes Mal so hoch sind. Das ist doch kein Hexenwerk, das kann doch so kompliziert nicht sein. Kann es sein, dass Frau Lorenz (also ich) einfach nicht die richtigen Fragen stellt?!“
Ich war fassungslos. Das kann der doch nicht ernsthaft im Beisein von mir und meiner Kollegin fragen?! Mir war auf der Stelle übel. Die Kollegen der Steuerkanzlei haben ganz spontan und toll reagiert und gesagt, dass ich überaus kompetent und professionell sei und sie selten mit jemandem aus dem Personalbereich zusammenarbeiteten, der so viel Wissen über Auslandsentsendungen besäße.
Trotzdem habe ich weiter alles geschluckt und ausgehalten und weiter an mir selbst gezweifelt. Als eine neue Teamkollegin nach nur drei Wochen kündigte, wurde ich zum ersten Mal hellhörig. Sie sagte mir: „Ich bin Mitte 30 und lasse mich von einem Chef so nicht runterziehen! Ich bin doch nicht sein Fußabtreter!“ Sie war bei sich und sie war konsequent. Ich bewunderte sie. Und mein innerer Widerstand wuchs.
Dann ereignete sich folgendes: Mein Chef rief wieder einmal an und ich sollte sofort in sein Büro kommen. Adrenalinausschüttung pur. Was war jetzt wieder? Ohne Umschweife sagte er: „Setzen Sie sich mal hin. Ich habe eine Information für Sie, die Sie sicherlich freuen wird. Im Gremium wurde entschieden, Sie zur Teamleiterin zu berufen. Das können Sie sich gerne bis morgen überlegen, aber ich denke mal, dass Sie das nicht ausschlagen werden. Aber selbstredend ist, dass ich natürlich disziplinarischer Vorgesetzter bleibe und Sie lediglich die fachliche Führung des Teams übernehmen. Das wäre eigentlich alles.“ Welch wohlwollende Wertschätzung. Es war klar, dass die Beförderung nicht seine Idee war und er sie eigentlich auch nicht befürwortete. Sie war ihm ein Dorn im Auge. Ich wurde befördert und fühlte mich trotzdem wie ein geprügelter Hund.
Am Vorabend meiner Kündigung, weitere Vorfälle waren zwischenzeitlich hinzugekommen, lag ich verzweifelt auf dem Bett. Mir war schlecht und ich hatte tierische Kopfschmerzen. Ich sagte zu meinem Mann „Ich kündige morgen. Es ist mir egal, ob ich einen neuen Job habe oder nicht. Und wenn ich in meinem Leben nie wieder auch nur einen einzigen Cent Geld verdiene, alles ist besser als das hier!“
Dark Leadership – Teil III
Nach einigen Monaten der Arbeitslosigkeit fand ich einen neuen Job. Mein neuer Chef, Anfang 50, war so ganz anders. Er hatte sich in den Vorstellungsgesprächen sehr viel Zeit genommen, mir viele Details und Informationen gegeben und erzählt, dass er mir aufgrund der vielen Unternehmensspezifika eine persönliche, engmaschige Einarbeitung gewähren würde. Er wirkte ruhig, ausgeglichen, sehr höflich und zuvorkommend. Ich war überzeugt – jetzt wird alles gut. Meine letzte Hürde im Bewerbungsverfahren war zudem eine Art Assessmentcenter gewesen, dem neben meinem Chef noch fünf weitere Führungskräfte und Geschäftsführer beiwohnten, die in meinen Betreuungsbereich fallen würden. Auch diese Vorgehensweise hatte mir gut gefallen, konnten wir uns doch so schon ein wenig beschnuppern.
Ein erstes komisches Gefühl beschlich mich aber noch vor meinem ersten Arbeitstag. Ich muss sagen, mit meinem heutigen Wissen, mit all dem was noch folgen sollte und mit dem, wie ich heute zu mir stehe, hätte ich nach folgendem Geschehnis den Job nicht mehr angetreten. Aber damals war ich leider (immer) noch nicht so weit.
Ich sollte im Januar meinen Job beginnen, wurde aber im Dezember schon vorab zur Abteilungsweihnachtsfeier eingeladen. Eine schöne Gelegenheit meine zukünftigen Kollegen in lockerer Atmosphäre kennenzulernen, so hieß es. Ich fand die Idee super. Im Restaurant sagte mein zukünftiger Chef dann zu mir: „Naja, um ehrlich zu sein, waren Sie nicht meine persönliche erste Wahl. Ich habe einen anderen Kandidaten präferiert. Aber alle meine Kollegen im Assessmentcenter waren unisono so von Ihnen begeistert, dass ich mich gefügt habe.“
Auf dem Nachhauseweg nach der Weihnachtsfeier rief ich aus dem Auto heulend meinen Mann an „Jetzt will mich nicht mal mein eigener Chef haben. Warum bin ich nie gut genug?“ Ich konnte das Gesagte überhaupt nicht einordnen. Vielleicht hat sich mein Chef gar nichts dabei gedacht? Oder wollte er schon mal demonstrieren, wo der Hammer hängt? Ich war am Boden zerstört.
Im Januar habe ich den Job angetreten und musste rasch feststellen, dass sich mein Chef sehr rar machte. Ich hab ihn nicht gesehen, nicht gehört. Er rief nie an und stand auch nicht in meinem Büro. Einen festen Rücksprachetermin gab es alle zwei Wochen für eine Stunde. Erleichterung machte sich breit. Gottseidank – kein Hektiker, kein Choleriker. Aber: Wie erhalte ich eine schnelle Entscheidung, wenn ich eine schnelle Entscheidung brauche?
Heute würde ich seinen Führungsstil als laissez-faire und machiavellistisch bezeichnen. Eine ganze Weile konnte ich gut damit umgehen, ließ er mich ja in Ruhe arbeiten. Es gab keine dringlichen Aufgaben oder Projekte, keine festen Deadlines oder Abgabetermine. Meine Probleme mit ihm wurden allerdings größer, je mehr ich mich von der rein operativen Personalarbeit verabschiedete und mich internationalen und strategischen HR-Themen widmete. Persönlich wurde es aber erst kurz danach. Es passierte auf einem interkulturellen Training aus internem Anlass. Ich nenne es meinen persönlichen Super-GAU.
Damit wir Teilnehmer nicht in das berühmte Suppenkoma verfielen, sollten wir nach dem Mittagessen ein interaktives und bewegungsreiches Spiel spielen, ähnlich wie „Die Reise nach Jerusalem“. Alle Teilnehmer saßen in einem runden Stuhlkreis. Ein Stuhl fehlte allerdings, so dass ein Teilnehmer sich vorne hinstellen und ein persönliches Statement abgeben musste. Etwa „Ich esse gerne Käse“. Alle sitzenden Teilnehmer, die diesem Statement zustimmten, mussten sich im Raum einen neuen Sitzplatz suchen. Hier ging es natürlich um Geschwindigkeit, denn niemand wollte übrig bleiben und das nächste Statement preisgeben.
Irgendwann fiel ein Statement, dem ich zustimmte, und ich fing an, quer durch den Raum zu rennen. Neben meinem britischen Kollegen, der sich keinen Millimeter bewegte (anscheinend traf das Statement nicht auf ihn zu), war ein Platz frei. Ich stürmte auf den Stuhl zu. Kurz bevor ich dort ankam, schaute er mir fest in die Augen und rutschte plötzlich auf den freien Stuhl neben sich. Ich knallte mit voller Wucht auf seinen Schoß. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich mein Gleichgewicht wiederfand und aufspringen konnte. Alle Teilnehmer lachten laut und schallend. Ich wusste nicht, wie mir geschah. War das ein dummer Zufall? Geplant konnte das nicht sein. Also doch Zufall? Aber schon bemerkenswert, dass das mit der einzigen Frau im Saal passiert. Sein eigener Chef oder mein Chef sind nicht auf seinem Schoß gelandet. Und sein Blick dabei… eine Machtdemonstration? Schikane?
Nach dem Training fuhr ich mit meinem Chef zum Headquarter zurück. 2 Stunden Autofahrt. Ich konnte gar nicht klar denken. Und ich sagte meinem Chef zunächst nichts. Ich musste mich erst einmal sortieren. Dies hier soll nicht zu einer „Me too Debatte“ ausarten, aber zum ersten Mal konnte ich nachvollziehen, warum Frauen, denen weitaus Schlimmeres widerfahren war als mir, nicht ihre Stimme erhoben. Wie sollte ich das jemals beweisen? Es würde immer feststehen, dass das ganz einfach ein unglücklicher Zufall gewesen war.
In der darauffolgenden Woche hatte ich Rücksprache mit meinem Chef, in der wir das Training Revue passieren ließen. Dies nahm ich dann doch zum Anlass, meinen Unmut über die Aktion des britischen Kollegen kundzutun. „Welche Aktion?“ fragte mein Chef. Ich schaute ihn ungläubig an und berichtete, was sich zugetragen hatte. „Das müssen Sie doch gesehen haben!“, sagte ich. „Nein“, antwortete er „das hab ich irgendwie nicht mitgekriegt“. „Das kann doch gar nicht sein“, sagte ich. „Alle haben laut gelacht. Und so groß war die Runde doch nicht“. „Nein“, wiederholte er, „das habe ich nicht mitbekommen.“ Ist ja auch einfacher so. Schließlich muss er so keine Stellung dazu beziehen. In meinem Kopf ratterte es noch, als mein Vorgesetzter nachschob „Ach, Sina, nehmen Sie es als Kompliment. Mit unserer korpulenten Barbara hätte er das nicht gebracht.“
Kurze Zeit später geriet ich mit dem britischen Kollegen in eine weitere, unangenehme Situation. Vor einem internationalen Kollegenkreis hielt ich eine Präsentation. Die letzte PowerPoint Folie mit dem Schriftzug „Thank you for your attention. Any questions?“ war mit einer Krone verziert. In meinem Vortrag kam ich schließlich zur besagten letzten Folie. Mein Kollege saß seitlich auf der Fensterbank und plötzlich sah ich, wie er mir Zeichen gab, ich solle etwas zur Seite rücken. Ich dachte, was will er? Vielleicht stehe ich irgendwo im Weg? Ich ging daher vor der Präsentationsleinwand ein paar Schritte in die Richtung, die er mir signalisierte. Plötzlich lautes Gelächter. Ich schaute mich verwirrt um und realisierte, dass er mich genau unter die Krone gerückt hatte. Ein Teilnehmer grölte: „Sina, our queen“! Schon wieder war ich auf ihn reingefallen. Natürlich war das für die anderen irgendwie witzig. Aber nach all dem, was zwischen ihm und mir bislang vorgefallen war, zwängte sich mir der Gedanke auf, dass auch dies eine perfide Machtdemonstration war.
Nach diesem Vorfall dauerte es noch knapp eineinhalb Jahre, bis die Unternehmensleitung die Entscheidung traf, dass mein britischer Kollege eine zentrale Rolle im europäischen HR Management übernehmen sollte. Da dies eine direkte und sehr enge Zusammenarbeit zwischen ihm und mir bedeuten würde, habe ich meine Kündigung in Aussicht gestellt. Mit erhitzten Köpfen diskutierten mein Vorgesetzter und ich über die sich anbahnende Situation. Er sagte zu mir: „Sina, schauen Sie mal aus dem Fenster. Da steht der Name unser Firmeninhaber an dem Gebäude. Wenn Herr Strathmann das so will, dann werde ich das so umsetzen. Wohlweislich, dass ich Sie darüber gegebenenfalls verliere.“
Jetzt war es endlich ausgesprochen! Das war also mein Stellenwert. Mein Chef fuhr fort: „Herr Strathmann fand es irgendwie chic, dass ein Brite in unserem Personalmanagement mitmischt.“ Ich war außer mir. „Und Sie?“ entgegnete ich „Finden Sie das auch chic?“ Seine Antwort: „Sina, in meiner Position habe ich das chic zu finden.“ Interessante Sichtweise. Bislang war ich der Auffassung, dass ein Chef sich erst einmal vor die „eigenen“ Leute stellt und die „eigenen“ Mitarbeiter ihren Stärken und Neigungen entsprechend fördert. Wer, wenn nicht mein Chef in seiner Topmanagement-Funktion, könnte den Firmeninhaber von einem anderen Weg überzeugen? Wie erbärmlich, sich hinter den Entscheidungen des Firmeninhabers zu verstecken. Bloß nicht widersprechen und möglicherweise selbst in Ungnade fallen.
Zwei Wochen nach einem unschönen Vorfall in der Chefetage war ich auf Dienstreise in Sofia und erhielt eine Lotus-Notes Einladung von der Sekretärin meines Chefs. Ich möge am Freitag um 15 Uhr in sein Büro kommen. Ich hatte ein ganz ungutes Gefühl. Ich rief meinen Mann an und sagte ihm: „Ich glaube, ich kriege Freitag einen Aufhebungsvertrag.“ Mein Mann hat mich für verrückt erklärt. „Ich sage es dir jetzt, weil wenn ich es dir erst am Freitag nach dem Termin sage, du mir nicht glauben würdest, dass ich das schon vorher geahnt habe.“ Und genauso kam es. Mein Chef begann das Gespräch mit den Worten: „Sina, ich habe lange mit mir gerungen, aber ich glaube, es hat keinen Zweck mehr. Wir sprechen einfach nicht mehr die gleiche Sprache. Ich möchte Ihnen gerne einen Aufhebungsvertrag geben.“ Pause. „Aber was soll ich Ihnen von schlechten Zahlen, Wirtschaftskrise etc. erzählen“, fuhr er fort. „Damit hat das nichts zu tun. Sie verdienen eine ehrliche Antwort und deshalb sage ich es Ihnen. Aber nur einmal. Ich werde es nicht wiederholen und ich würde es auch jederzeit revidieren. Sina, Sie sind zu stark und Sie gefährden meine Position.“ Wie bitte?! „Ständig muss ich mit Ihnen so viel diskutieren, das ist mir zu anstrengend. Ich hab noch vier Jahre bis zur Rente und dafür nicht mehr genügend Energie. Außerdem halten Sie mir ständig den Spiegel vor. Ich denke von mir eigentlich, dass ich ganz in Ordnung bin. Aber wenn wir Rücksprache hatten und Sie den Raum verlassen, zweifel ich daran!“
Ich fragte ihn, was denn sein eigener Chef, unser Inhaber, zu dieser Geschichte gesagt hätten. Er erwiderte, dass es lediglich zur Kenntnis genommen und auf persönliche, atmosphärische Störungen zwischen uns zurückgeführt wurde. Als ich mich kurze Zeit später noch einmal telefonisch an unseren Inhaber wandte, fragte er zunächst: „Sina, was kann ich für Sie tun?“ Ich sagte ihm, dass ich mit meinem Chef gerade meinen Aufhebungsvertrag verhandeln würde und wir bald zu einem Ergebnis kommen würden. „Ach, das sind ja gute Nachrichten“, antwortete unser Firmeninhaber. Hatte ich richtig gehört? Gute Nachrichten?! Ich fragte ihn dann, wie es zu diesem Aufhebungsvertrag käme, dass ich das nicht verstehen würde und ob er mir das erklären könne. „Aber Sie hatten doch das Aufhebungsgespräch mit Ihrem Chef?“ Ich: „Ja, aber das ist, ehrlich gesagt, auch nebulös geblieben.“ Er: „Ja hat Ihnen Ihr Chef denn nicht gesagt, dass er schon seit vielen Monaten, wenn nicht seit Jahren, Probleme hat mit Ihrer Art und Ihren Stimmungsschwankungen?“ Ich war wie vor den Kopf gestoßen und konnte nichts mehr sagen. Sieben Jahre Mitarbeitergespräche und kein Wort davon. In meinem letzten Mitarbeiterjahresgespräch vor gut fünf Monaten hatte mein Chef mir noch in allen Bewertungskategorien ein „sehr gut“ gegeben.
Ich war wochenlang überfordert und wie gelähmt. Was von alldem war wahr, was gelogen? Welch ein mieses Spiel. Mein Chef schlug noch vor, nach außen zu kommunizieren, dass ich mich entschieden habe, eine neue Herausforderung anzunehmen. Dann sehe das für mich nicht so schlecht aus. Ich winkte ab. „Nein“, sagte ich „Wir können gerne bei der Wahrheit bleiben, die kann ich mir besser merken.“
In den Monaten meiner Freistellung habe ich viel über meine Situation und den Weg dahin nachgedacht. Das ist das Ergebnis, was ich weitergeben möchte.
Was ich aus einem Dark Leadership gelernt habe
Irgendwann muss man sich entscheiden, ob man auf der hellen oder dunklen Seite stehen möchte. So wie es Jürgen Weibler und Thomas Kuhn in ihrem Buch „Bad Leadership“ beschreiben: Es gilt, die eigenen Überzeugungen und Wertmaßstäbe zu erkennen und in Aktion umzusetzen (vgl. Seite 92). Es geht um die „uneingeschränkte Treue zu ethischen Prinzipien im Angesicht von Widrigkeiten oder Verlockungen, was mit hohen persönlichen Kosten einhergeht“ (vgl. Seite 112).
Mich hat Dark Leadership zweimal den Arbeitsplatz gekostet. Und strenggenommen hat in beiden Fällen die gleichsam unausgesprochene wie rücksichtlose Regel eiskalt und erbarmungslos zugeschlagen: Ober sticht unter.
Lange Zeit war ich bereit, Demütigungen, Ungerechtigkeiten, Fehlentscheidungen etc. seitens meiner Vorgesetzten zu akzeptieren. Weibler und Kuhn schreiben: „Bad Leadership ist unter den aktuell gegebenen Bedingungen eine zunehmende Normalität“ (vgl. Seite 129). Es klingt blöd, aber tatsächlich kannte ich Führung ja auch nicht anders. Bad Leadership zog sich wie ein roter Faden durch meinen Lebenslauf.
Das Perverse ist, dass auch nicht alles schlecht war. Und genau das macht es so komplex und schwierig. Ich hatte spannende Aufgaben und Projekte. Ich konnte Weiterbildungen genießen, erhielt regelmäßigen Spanisch- und Französischunterricht. Ich liebte die Internationalität meiner Arbeit über alles. Ich habe die halbe Welt bereist, auf den Auslandsdienstreisen wunderbare Dinge gesehen und erlebt und tolle Menschen kennengelernt, die ich heute meine Freunde nennen darf.
Doch schleichend belasteten die toxischen Beziehungen zu meinen Vorgesetzten meinen gesamten Organismus. Sie vergifteten mein Selbstwertgefühl, schürten eine nie zuvor gekannte Verunsicherung und vernebelten meine Sinne. Es fühlte sich an, als hätte ein bösartiger Tumor von mir Besitz ergriffen. Der Preis, den ich für einen sicheren Arbeitsplatz, ein komfortables Gehalt und einen gesellschaftlich anerkannten Status bezahlte, wurde zu groß. Ich selbst stand auf dem Spiel.
Wenn ich meine eigene Geschichte lese, ist es mir selbst unbegreiflich, wie ich insgesamt 16 Jahre Dark Leadership ertragen konnte. Es war meine Lebenszeit, jede einzelne Sekunde davon. In ihrem Buch beschreiben Weibler und Kuhn das Milgram-Experiment (vgl. Seite 89 ff.). Dies veranschaulicht sehr schön, wie „Geführte Führenden auch dann folgen, wenn letztere eindeutig moralisch schlecht handeln und zerstörerisch auf Dritte, aber auch auf die Geführten selbst wirken“ (vgl. Seite 91). Die Erkenntnis ist hart, aber unausweichlich: Als Bad Follower ermöglichte ich das Bad Leadership meiner Chefs.
Was kann ich Euch mitgeben? Findet ihr bei meinen Schilderungen Ansätze und Charakterzüge der dunklen Triade auch bei euren Vorgesetzten? Welchen Grad an Manipulation sehr ihr aus eurer Sicht in den verschiedenen Verhaltensweisen meiner Chefs? Empfindet ihr alle Situation genauso wie ich? Oder findet ihr, dass ich übertreibe, zu kleinkariert und empfindlich war? Hättet ihr über den körperlichen Übergriff meines britischen Kollegen und die Antwort meines Chefs lächelnd hinweggesehen? Hättet ihr euch mit meinem nach meiner Auffassung cholerischen, aggressiven, machiavellistischen, laissez-faire Vorgesetzten gut gestellt, um weiter eurer Reiseleidenschaft nachgehen zu können? Hättet ihr an irgendeiner Stelle eher einen Schlussstrich gezogen? Wie lange hättet ihr weitergemacht?
Fazit: Jeder für sich muss seinen ganz eigenen Weg durch den Irrgarten der Führung finden. Jeder für sich muss seinen Preis definieren, den er bereit ist, in die eine oder andere Richtung zu bezahlen. Die einzigen Ratschläge, die ich zur Orientierung geben kann, sind:
- Bleib bei dir, nimm dich und deine Empfindungen ernst!
- Vertraue deiner Intuition und deiner Wahrnehmung. Damit liegst du immer richtig!
- Sei dir deiner eigenen Grenzen bewusst! Setze dir Limits und Deadlines!
- Werde nicht Opfer deiner eigenen Angst!
- Werde dir klar über deine Werte und (Lebens-) Ziele!
- Mache dich frei, von vermeintlich gesellschaftlichen, partnerschaftlichen und/oder elterlichen Ansprüchen!
- Befrei dich konsequent und unbeirrt aus Situationen, die dir nicht gut tun! Es gibt immer einen anderen Weg!
- Glaub an dich und deine Fähigkeiten!
- Verfolge deine Träume!
Aus meiner Sicht werden Organisationen nur zu einem Umdenken, was ihre gelebte und gebilligte Führungskultur angeht, gezwungen, wenn der Druck von innen, durch die gesamte Belegschaft, steigt. D.h., jeder Einzelne von uns trägt Verantwortung dafür, dass Organisationen sich bewegen müssen. Jeder Einzelne hat seinen individuellen Beitrag zu leisten. Je mehr sich dem Credo „We don’t want to be ruled by men who have lost their souls“ (Michael Walzer, vgl. Seite 39) anschließen und entsprechend handeln, desto eher werden sich Organisationen veranlasst sehen, auf diese Strömungen reagieren zu müssen.
Es ist erforderlich, sich bei der Analyse und Bewertung von Führung stets mit dem gezeigten Führungsverhalten sorgsam, mit Bedacht und nach allen Seiten kritisch auseinanderzusetzen. Aber vor allem müssen wir wegkommen von der Vorstellung eines heroischen Leadership. Stattdessen möchte ich – und ich entnehme dies dem Buch „Bad Leadership“, dessen Lektüre mich überhaupt veranlasste, dies alles zu schreiben – die fünf Dimensionen einer „mutigen Gefolgschaft“ laut Ira Chaleff zitieren (vgl. Seite 114).
Nichts ist mir eine größere Herzensangelegenheit, als mich diesen Dimensionen anzuschließen und mit voller Überzeugung an den
- Mut zur Verantwortungsübernahme
- Mut zum Dienen
- Mut zur Herausforderung
- Mut zur Mitwirkung an Veränderungen
- Mut zum moralischen Handeln
jedes Einzelnen zu appellieren! Und: Erhebe deine Stimme und erzähle deine Geschichte! Trau dich!