Die politische Führung eines Landes ist durch das Zusammenspiel von Politik (Inhalte, Prozesse), Verwalten und Führen charakterisierbar. Hier und heute geht es allein um die Frage, wie die Stärke der politischen Führung (Führungsstärke) zu bestimmen ist. Mark Bennister, Paul t`Hart und Ben Worthy haben 2017 dafür einen Führungskapital-Index entwickelt. Leadership Insiders greift diesen auf und ordnet ihn ein.
Die politische Führung arbeitet seit längerer Zeit unter dem Eindruck gewaltiger Krisen. Dadurch rückt sie und ihre Leistungskraft deutlicher als in den letzten Dekaden in den Mittelpunkt des Interesses. Neu ist die Beschäftigung damit freilich nicht, den Vorstellungen zur Art und Weise der politischen Führung wie des politischen Handelns, ihrer Begründung und ihren Wirkungsmöglichkeiten sind seit der Etablierung der politischen Philosophie gängige Diskussionspunkte.
Politische Führung – Klärungen
Zunächst sollten wir allerdings klären, (1) ob die politische Führung nur auf die Regierungsseite bezogen wird oder ob Führungsleistungen der Opposition, sofern es die Verfasstheit der politischen Ordnung als aktiver Mitspieler im politischen System vorsieht, ebenfalls hinzuzuzählen sind. Typischerweise wird prioritär die Regierungsseite in Betracht gezogen. Werden aber auch politische Wettbewerber, Parteien oder Personen, mit einbezogen, dann ist insbesondere deren (einflussreiche versus einflussarme) Stellung zur amtierenden Regierung oder auch ihr relativer Zuspruch in der Bevölkerung gefragt. Des Weiteren ist zu klären, (2) ob die Regierung als Ganzes im Fokus steht oder lediglich ihr herausgehobener und machtvollster Repräsentant, wie es formal ein Kanzler (Deutschland), ein Präsident (USA), eine Ministerpräsidentin (Italien) oder ein Premierminister (Großbritannien) darstellt. Hier wird üblicherweise auf Letzteres fokussiert. Und dann ist natürlich zu klären, (3) ob bei der Bewertung dieser Person nur personenbezogene Daten einfließen oder ob auch umfeldbezogene Daten aus dem politischen System Berücksichtigung finden. Bei diesen Daten stellt sich ergänzend die Frage, ob sie sich nur auf „harte“ Faktoren, z.B. die Anzahl der erlassenen Gesetze als Proxy für die Leistungskraft dieser Person konzentrieren oder ob man auch Wahrnehmungen, z.B. eine Vertrauenseinschätzung der Wählerschaft zu dieser Person, mitbewertet.
Dies sind komplexe Fragen, da in sich (unvermittelt) ändernden Zeiten die Auswahl und mögliche Gewichtung der einfließenden personen- wie umfeldbezogenen Faktoren je nach deren theoretisch wie empirisch hinterlegter Bedeutung unterschiedlich zu Buche schlagen könnten. Komplexitätssteigernd kommt hinzu, dass umfeldbezogene Daten aus dem politischen System teils von der Führungsperson mitbeeinflusst werden können und die Erscheinung bzw. Leistung der Person in einem bestimmten Umfeld (globale, regionale oder nationale Krisen/Periode des Wohlstandes) anders bewertet werden könnte (und faktisch auch wird). Aus anderen Studien wissen wir, dass die Wählerschaft – vermutlich abgeschwächt auch der politische Bereich an sich – hierbei einem fundamentalen Attributionsfehler unterliegt, indem die persönliche Verantwortlichkeit für alles überhöht und die situativen Einflüsse untergewichtet werden. Zu den situativen Einflüssen ist ergänzend anzumerken, dass diese auch durch Entscheidungen von Vorgängern oder Vorgängerinnen mitbeeinflusst sein können, denn die Effekte politischer Handlungen werden ja nicht durch eine neue Wahl einfach gestoppt. Man denke nicht zuletzt aber auch daran, dass gerade politische Bewertungen relative Bewertungen zum Versprochenen, zum Erwarteten, zum als möglich Erachteten, zum Zeitgeistigen wie auch zu dem, was als personelle Alternative ausgemacht werden kann, sind.
Der Führungskapital-Index als Maß für die Führungsstärke
Nach diesen Vorabbemerkungen kommen wir nun zur Frage, wie die Führungsstärke einer politisch agierenden Person, hier des obersten Repräsentanten oder der obersten Repräsentantin, bewertet werden kann. Dazu wurde der Führungskapital-Index entwickelt. Dies ist eine im Sinne von Bourdieu übergeordnete, spezifische Spielart des Kapitalgedankens, der mit einer Person verbunden wird (erinnert sei hier z. B. an das soziale Kapital). Der Führungskapital-Index misst wie die bereits an dieser Stelle besprochene Kapitaltriade ihm zugeordnete Einflussfaktoren. Bennister und Kollegen haben sich dafür entschieden, sowohl die Person als auch politische Institutionen wie den Kontext dafür ausgewählt zu berücksichtigen.
Der Führungskapital-Index besteht aus 10 Faktoren, die jeweils fünfstufig bewertet werden können. Dabei sind die jeweiligen fünf Stufen dem Inhalt des Faktors angemessen, was dazu führt, dass eine „1“ einmal ein „sehr niedrig“ meint, ein anderes Mal die unterste Prozentspanne oder die geringste von aufgelisteten Jahreszahlen angibt.
Was sind aber nun die 10 Faktoren, nach denen die Führungsstärke eines Politikers bewertet wird? Sie lauten:
- Politische Vision
- Kommunikative Performance
- Auf die Person bezogene Umfrageergebnisse im Vergleich zum Oppositionsführer
- Dauer der Amtszeit
- (Wieder-)Wahl-Ergebnis-Abstand zu anderen Parteien
- Umfrageergebnisse im Vergleich zur letzten tatsächlichen Wahl
- Vertrauenslevel nach öffentlicher Meinung
- Wahrscheinliche Festigkeit (u. a. Unterstützung im Amt) innerhalb der nächsten sechs Monate
- Wahrgenommene Fähigkeit, die Parteiagenda zu bestimmen
- Wahrgenommene parlamentarische Effektivität
Genutzt werden zur Einstufung quantitative (z. B. Umfragen) wie qualitative (z. B. Biographien) Daten. Insgesamt kann die Führungsstärke, gemessen am Führungsindex, maximal 50 Punkte erreichen. Eine Analyse der Merkel-Kanzlerschaft (hier: 2005-2015) ergab mit einem Hoch von 39 Punkten ab 2012 einen international gesehen respektablen Wert, der sich von 28 Punkten zu Beginn fast stetig (mit einem Einbruch in 2010) nach oben entwickelte, um dann wieder sehr leicht mit 38 Punkten in 2015 zu sinken (Thatcher und Blair einmal im Vergleich für jeweils drei Perioden: 28/36/28 vs. 43/38/30).
Führungsstärke ist labil
Politische Analysen zeigen deutlich, dass die Führungsstärke im politischen Raum keine stabile, sondern eher eine labile, teils sehr fragile Größe ist. Das vorgestellte Instrumentarium zu ihrer Messung ist eine begründete Annäherung an ihre Sichtbarmachung, suggeriert mit der abschließenden Bewertungszahl jedoch eine Sicherheit, die eher als ein anzunehmender Korridor des Wahrscheinlichen interpretiert werden sollte.
Im Unterschied zur Führungsstärke in Unternehmen sind die Einflussfaktoren auf die politische Führung deutlich zahlreicher und wesentlich schlechter selbst zu kontrollieren. Der in den betrachteten Positionen wirkmächtige Einfluss klassischer wie neuer Medien ist hier ein Beschleuniger – nach oben wie nach unten. Politisch Führende sind strategisch gut beraten, im Erfolgsfall selbst Zuschreibungen auf die Person, aber viel entscheidender noch, Attributionen auf das Umfeld bei Misserfolg vorzunehmen, und nicht anderen die alleinige Deutungshoheit zu belassen. Für alle an einer sachlichen Diskussion Interessierten wäre natürlich anzuraten, nach bestem Wissen und auf der Grundlage einer möglich objektiven Interpretation der Datenlage (Befunde, Ereignisse und Entwicklungen) eine abgewogene Beurteilung vorzunehmen.
Allerdings: Die politische Praxis könnte aktuell kaum weiter vom „zwanglosen Zwang des besseren Argumentes“ (J. Habermas) entfernt sein, als sie es heute ist. International gesehen ist die dafür vorgesehene politische Arena aus den Fugen geratenen oder existiert nicht einmal mehr. Wer bereitet uns aber nun vor, jetzt und zukünftig die richtigen Entscheidungen zur Deponierung unserer Sehnsüchte und Interessen zu treffen? Falsche Frage, denn wir allein mit unseren Vertrauten sind es, die ausfüllen müssen, was anderen nicht oder nur unzulänglich gelingt, was andere versäumen oder gezielt torpedieren. Dabei gilt es natürlich nicht zu vergessen, eine Frage abschließend zu erwägen: Könnte der Andere nicht auch recht haben und was bedeutete das für mich?