„Führung ist ein Prozess, keine Person.“ Mit diesem Statement wies sich der US-amerikanische Wissenschaftler Edwin P. Hollander als Pionier einer dynamischen Sicht auf Führung aus. Der Psychologieprofessor wandte sich schon vor mehr als einem halben Jahrhundert gegen die vorherrschende Ideologie, die Führung als eine positionsgebundene Selbstverständlichkeit betrachtete. Stattdessen schrieb er Managern ins Stammbuch, dass die Führungsrolle erst erarbeitet werden muss.

Kernidee des Konzepts

Ziel der Idiosynkrasie-Kredit-Theorie der Führung (IKTF) ist es, Führungskräften einen Weg aufzuzeigen, wie sie sich in „ihrer“ Gruppe als Führungsperson etablieren und Veränderungen bewirken können. Die grundlegenden Erkenntnisse dafür wurden unter gleichgestellten Gruppenmitgliedern gesammelt, wo der Führungsanspruch nicht aus einer hierarchischen Leitungsposition abgeleitet werden kann:

  • Ein Vorgesetzter sammelt Punkte durch seine Kompetenz, durch Leistungsbeiträge für die Gruppe sowie durch loyales und solidarisches Verhalten gegenüber den Anliegen und Idealen der Geführten. Diese Punkte werden von den Team Membern mit seiner Person verbunden. Punkte können auch aus vorherigen Jobs kommen und als Vertrauensvorschuss gewährt werden, sofern das Team den früheren Leistungsnachweis ihres neuen Vorgesetzten als relevant erachtet.
  • Ein Vorgesetzter wird dann als Führender und nicht nur als Chef wahrgenommen, wenn er ein ausreichend großes Punktekonto aufgebaut hat und von seinem Team als Leader akzeptiert wird. Sein Status steigt, insbesondere in der oft unausgesprochenen Konkurrenz mit anderen potenziellen Leadern. Für seine Verdienste geben die Teammitglieder dem Führenden ihre Bereitschaft zurück, auf dessen Ideen und Anweisungen einzugehen.
  • Dieses Punkteguthaben bestimmt gleichzeitig die Höhe des Kredits, den der Führende hat, um Veränderungen zu initiieren. Angenommen wird, dass er für Veränderungen, die beispielsweise mit Gewohnheiten brechen und besondere Anstrengungen erfordern, Abzüge auf seinem Konto einplanen muss. Schwierige Transformationen können also nennenswert ins Kontor schlagen.
  • Die Gefolgschaft wird gekündigt, wenn der Toleranzbereich, innerhalb dessen die Geführten bereit sind, einer Führungsperson Abweichungen vom bisher Gewohnten zuzubilligen, aufgebraucht ist. Erfolgreich wird eine Veränderung also nur sein, wenn sie innerhalb des Kreditrahmens ihren Abschluss findet oder die Führungsperson bei gefährlicher Missstimmung erneut Punkte sammelt, vorzugsweise durch Zwischenerfolge oder wenn die zu Beginn kritisch beäugte Veränderung letztlich doch positiv eingeschätzt wird.

Fazit: Führung wird erworben und muss sich bewähren. Auch ist die Führungsrolle gegenüber anderen Aspiranten, die im eigenen Team oder in anderen Positionen ebenfalls Punkte sammeln, zu behaupten.

Leitgedanke

Führungskräfte, die Veränderungen verantwortlich anschieben möchten, sollten zuvor der Organisation loyal gedient und anerkannte Leistungen erbracht haben.

Bedeutung für Veränderungsprozesse

Die IKTF ist lehrreich, wenn man verstehen will, wie Wandel durch Führung gelingen kann. Sie fokussiert auf die besondere Kraft der freiwilligen Gefolgschaft und ist daher im Kern der Führung positioniert – gerade bei unbequemen Wegen, wie sie Change-Prozessen eigen sind. Auch zeigt sie, wie wichtig die Kommunikation von Zwischenerfolgen ist.

Man darf einen idiosynkratischen Kredit allerdings nicht als Blankoscheck missverstehen, der einer Führungskraft alles erlaubt, was dem vorgeblichen Wohl anderer dient oder vermeintlich einen kollektiven Nutzen verspricht. Ein darauf basierendes Einflussverhalten muss immer auch ethischen Standards genügen. So gesehen können Veränderungen Führungskräften im wahrsten Sinne des Wortes auch „teuer zu stehen kommen“. Schlimmstenfalls ist ihr Kredit am Ende gänzlich aufgebraucht und kann nur auf langwierigem Weg wieder aufgestockt werden. Immer bis zum Äußersten zu gehen, kann eine noch so gute Führungsbasis überstrapazieren.

Erfolgsgrößen

Die IKTF ist empirisch vergleichsweise gering erforscht. Vermutlich auch, weil sie nicht auf herkömmliche Effektivitätsmaße wie zum Beispiel die Teamleistung fokussiert, sondern auf die Entstehung von Führerschaft abhebt. Der fiktiv zugeschriebene Kredit ist schwer zu fassen. Die Akzeptanz als Leader und besonders als Change-Leader muss sehr wohl ein Mindestmaß erreichen, um überhaupt als Führung (im Gegensatz zur reinen „Leitung“) durchzugehen. Da aber Anforderungen und Erwartungen, die Gruppen hegen, beträchtlich differieren können, sind deren Bedürfnisse von der Führungskraft zu erkunden und mit den Geführten beidseitig fortzuentwickeln.

Verbreitung in der Unternehmenspraxis

Das Wissen um die IKTF ist in der Praxis extrem gering. Die Wissenschaft hat es weitgehend versäumt, sich von ermutigenden Laborbefunden zu lösen. Hilfreiche Marketinginstrumente wie Tools oder Trainings fehlen. Zudem bietet die Theorie zwar grundsätzliche, aber keine konkreten Handlungsanweisungen, denn es geht ihr primär um die Auflösung eines scheinbaren Erwartungsparadoxons an Führungskräfte: Konformität (um Führungspunkte zu sammeln) versus Nonkonformität (um Veränderungen zu treiben). Als Theorie stützt sie die Intuition mancher Manager und hilft zu verstehen, warum Veränderungen den Leader ins Abseits stellen können. Sie verlangt von den Verantwortlichen, das Timing von Wandel zu erspüren.

Hype-Potenzial: ★

Die Theorie hat eine lange Tradition und durchaus eine Zukunft. Immer wieder wird auf die essenzielle Bedeutung der Akzeptanz von Führung hingewiesen. Im digitalen Zeitalter wird bei der Teamarbeit, bei der lateralen Netzwerkbildung oder in bewusst auf Hierarchien verzichtenden Organisationen (zum Beispiel in der Start-up-Szene) verstärkt die Frage nach der Entstehung von Führerschaft gestellt. Damit kommt man plötzlich dem Kern der IKTF sehr nah. Das Hype-Potenzial wird steigen, wenn sich das in der Praxis vorherrschende Verständnis von Führerschaft, das die Person und ihre Eigenschaften ins Zentrum stellt, ändert und man Leadership als einen Prozess versteht. Ihrer Verbreitung täte eine Namensänderung allerdings gut. Da sie die für eine Führerschaft zu erbringenden Vorleistungen betont, schlage ich eine alternative Bezeichnung vor: „Investitionstheorie der Führung“.

 

Dieser Text erschien ebenfalls in Changement!, 2017, 8, 14-15