1. Die ersten 100 Tage – Übergangsphase für erstmals Führende mit Sprengkraft
Es klingt nach einem klaren Auftrag: „Du übernimmst ab sofort die Teamleitung.“ Doch was so einfach klingt, entfaltet oft eine enorme innere Wucht. Plötzlich ändert sich die Perspektive: Aus der Mitte des Teams an die Spitze. Vom Kollegen zur Führungskraft. Von „Wir machen das gemeinsam“ zu „Ich entscheide das jetzt.“
Die ersten 100 Tage in einer Führungsrolle gelten als entscheidend. Viele Organisationen begleiten diesen Übergang mit Einarbeitungsplänen, Zielvereinbarungen, Seminaren oder Mentoring. Das ist wichtig – greift aber oft zu kurz. Denn was in dieser Zeit wirklich geschieht, ist kein rein organisatorischer Wechsel. Es ist ein psychologischer Prozess: ein Identitätswandel.
Neue Führungskräfte sind mit einem Spannungsfeld konfrontiert: Sie müssen Erwartungen erfüllen, ohne sie wirklich zu kennen. Sie sollen führen, ohne sich selbst schon sicher zu sein.
Sie sollen Beziehungen gestalten, während sich alles neu sortiert.
Die Folge: Viele rutschen in alte Verhaltensweisen – perfektionistisch, konfliktscheu, kontrollierend. Andere erstarren, weil sie das Gefühl haben, nicht „die Richtigen“ zu sein. Und wieder andere verheddern sich im Tagesgeschäft, weil sie keine Klarheit über ihre neue Rolle finden.
Doch genau hier liegt die Chance: Wer den Übergang bewusst gestaltet, statt ihn „durchzuhalten“, kann den Grundstein für eine reflektierte, wirksame Führung legen. Dafür braucht es mehr als Methoden, die man in Seminaren lernt. Es braucht ein Denken, das Komplexität nicht scheut, sondern strukturiert.
Ein Denken, das auf Beziehung, Muster und Kontext schaut. Ein Denken, das nicht fragt: „Was soll ich tun?“, sondern: „Wie verstehe ich, was hier wirkt?“ Kurz: Systemisches Denken.
2. Systemisch denken – Was heißt das eigentlich?
Systemisches Denken ist mehr als ein Methodenkoffer. Es ist eine Haltung – offen, neugierig, vernetzt. Statt Ursachen linear zu erklären („Wenn ich X tue, passiert Y“), fragt systemisches Denken nach dem Zusammenhang: Was wirkt hier auf wen – und wie hängen die Dinge zusammen?
Wenn wir von einem „System“ sprechen, meinen wir nicht Organigramme oder IT‑Strukturen, sondern das soziale Geflecht, in dem Menschen handeln – also Beziehungen, unausgesprochene Regeln, Erwartungen und Rahmenbedingungen. Genau dieses Geflecht beeinflusst Verhalten und wird gleichzeitig durch Verhalten immer wieder mitgestaltet.
In der Führungspraxis bedeutet das: Ich bewerte Verhalten nicht isoliert, sondern im Kontext. Ich frage nicht nur: „Was läuft falsch?“ – sondern: „In welchem Muster zeigt sich dieses Verhalten? Wer ist beteiligt? Welche Erwartungen und blinden Flecken wirken mit?“
Ein Beispiel aus der Praxis: Ein neuer Abteilungsleiter stellt fest, dass in seinen Meetings kaum jemand Fragen stellt oder Vorschläge macht. Betrachtet er das isoliert, könnte er den Eindruck gewinnen, das Team sei passiv oder unmotiviert. Mit einem systemischen Blick fragt er jedoch anders: Wovon hängt dieses Schweigen ab? In welchem Zusammenhang tritt es auf? Welche unausgesprochenen Regeln gibt es hier?
In Gesprächen zeigt sich, dass in der Vergangenheit jede kritische Nachfrage als Widerstand gewertet wurde und die Mitarbeitenden gelernt haben, lieber still zu bleiben. Mit diesem Verständnis verändert sich sein Vorgehen: Er erklärt ausdrücklich, dass er Rückfragen wünscht, lobt Widerspruch, wenn er kommt, und macht so langsam erfahrbar, dass sich das System verändern darf.
Diese grundlegende Perspektive ist besonders dann hilfreich, wenn Klarheit fehlt – z. B. beim Start in die neue Führungsrolle. Denn die meisten Führungskräfte treten bei erstmaliger Führungsaufgabe in gewachsene Systeme ein: mit stillen Regeln, alten Loyalitäten, verdeckten Konflikten oder impliziten Erwartungen. Wer versucht, das mit einfachen Rezepten zu lösen, greift oft zu kurz. Gerade darin liegt die eigentliche Herausforderung: Beziehungen bewusst zu gestalten, obwohl man selbst erst anfängt, das neue Umfeld zu verstehen.
Oder wie Jürgen Weibler es mit Blick auf die digitale Führung, aber mit übergreifendem Potenzial formuliert:
„Paradoxerweise […] steigt in den neuen Arbeitswelten die Notwendigkeit, lebendige Führungsbeziehungen zu gestalten, und wächst gleichzeitig die Schwierigkeit, diese gehaltvoll zu initiieren, zu stabilisieren und fortzuentwickeln […] .“
Systemisches Denken schafft hier Orientierung. Es hilft, Zusammenhänge sichtbar zu machen – und dadurch neue Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen. Es ersetzt die Frage „Was ist richtig?“ durch „Was wirkt – und warum?“
Gerade in heutigen Spannungsfeldern – digital, diffus, dynamisch – zeigt sich der Wert systemischer Führung. Sie stiftet Beziehung, ohne zu vereinnahmen. Sie erkennt zugrundeliegende, auf den ersten Blick oft nicht zu erkennende Zusammenhänge, ohne vorschnell zu urteilen. Und sie schafft Klarheit, indem sie Komplexität nicht vermeidet, sondern einbettet.
3. Typische Herausforderungen beim Einstieg – ein systemischer Blick
Die ersten Wochen und Monate in einer Führungsrolle fühlen sich oft an wie ein Sprung ins kalte Wasser. Selbst wenn die neue Aufgabe mit Freude erwartet wurde, tauchen plötzlich Fragen auf, mit denen man nicht gerechnet hat:
- Was erwartet mein Team wirklich von mir?
- Wie viel Nähe ist erlaubt, wie viel Distanz notwendig?
- Und wie gehe ich mit den unausgesprochenen Regeln um, die scheinbar jeder kennt – außer mir?
Systemisch betrachtet sind diese Fragen kein Ausdruck von persönlicher Unsicherheit, sondern ein Hinweis darauf, dass sich die neue Führungskraft in ein bestehendes System mit seinen eigenen Mustern, Geschichten und Dynamiken hineinbegibt.
Dazu ein Beispiel aus der Praxis: Ein neuer Abteilungsleiter wundert sich, warum die informellen Gespräche in seinem Team plötzlich abreißen, seit er die Leitung übernommen hat. Anfangs interpretiert er das als Ablehnung seiner Person. Bei genauerem Hinschauen erkennt er jedoch: Früher war er selbst Teil dieser Kaffeepausenrunden – als Kollege. Mit seiner neuen Rolle haben sich die informellen Grenzen verschoben, und die Teammitglieder sind unsicher, wie viel Nähe noch möglich ist. Erst als er diesen Zusammenhang erkennt, spricht er es offen an und verabredet bewusst neue Formen des Austauschs. Das verändert die Stimmung sofort.
Eine wichtige Erkenntnis aus der systemischen Perspektive lautet: Jedes System (Team oder Organisation) versucht, ein Gleichgewicht aus Rollen, Ideen oder Personen zu bewahren. Wenn dann etwas Neues dazukommen, bringt das dieses Gleichgewicht erst einmal durcheinander – selbst wenn die Veränderung offiziell gewünscht ist. Manchmal reicht dann schon eine neue Führungskraft, um Routinen infrage zu stellen, weil alle Beteiligten sich neu orientieren müssen.
Gerade wenn die Führungskraft zuvor Kollegin oder Kollege war, kommen zusätzliche Spannungen hinzu: frühere Beziehungen verändern sich, Loyalitäten werden neu verhandelt, die eigene Rolle muss erst gefunden – und innerlich akzeptiert – werden.
Mir fällt in diesem Zusammenhang eine junge Teamleiterin ein, die Schwierigkeiten hatte, sich in ihrer neuen Rolle abzugrenzen. Sie erzählte, dass ehemalige Kolleg:innen sie immer noch wie „eine von uns“ behandelten und sie nicht wusste, wann sie Nähe zeigen und wann sie Distanz wahren sollte. Um niemanden zu verletzen oder zu verärgern, vermied sie es, Position zu beziehen und schob Entscheidungen auf. Als wir uns die Situation gemeinsam anschauten, wurde deutlich: Es ging nicht um fehlende Durchsetzungsfähigkeit, sondern darum, dass sich alle Beteiligten – sie und das gesamte Team – an die neue Konstellation erst gewöhnen mussten. Im Coaching übte sie, ihre Rolle klar zu benennen („Ich bin jetzt eure Leitung, und das verändert manches – auch für mich.“) und gleichzeitig Gesprächsangebote zu machen, um die Beziehungen neu zu sortieren. Nach wenigen Wochen berichtete sie, dass sich dadurch ein neues Gleichgewicht eingestellt hatte – ohne dass sie ihre Persönlichkeit verleugnen musste.
Solche Erfahrungen zeigen, wie viel innere und äußere Klärung in dieser Phase notwendig ist. Aus systemischer Sicht lassen sich in Übergangssituationen immer wieder bestimmte Spannungsfelder erkennen, die besonders häufig auftreten:
- Rollenklarheit vs. Rollenerwartung: Was ist meine Aufgabe – und was wird
(unausgesprochen) von mir erwartet? - Nähe vs. Distanz: Wie bleibe ich authentisch und gleichzeitig professionell?
- Gestaltung vs. Anpassung: Wo kann ich gestalten – und wo sollte ich erst verstehen,
bevor ich handle? - Verantwortung vs. Kontrolle: Wie viel Führung braucht mein Team – und wie viel
Selbststeuerung will oder kann es übernehmen?
Systemisches Denken hilft hier, innere Klarheit zu gewinnen, ohne vorschnell in Aktionismus zu verfallen. Es lädt dazu ein, Muster zu beobachten, Fragen zu stellen, die Perspektive zu wechseln – und bewusst mit Unsicherheit umzugehen.
Zum Beispiel: Eine neue Führungskraft merkt, dass zwei Teammitglieder in jeder Besprechung aneinandergeraten. Statt sofort zu versuchen, den Konflikt zu klären und Regeln aufzustellen, schaut sie genauer hin: Wann entsteht der Konflikt? Wer mischt sich ein, wer schweigt? Nach einigen Gesprächen zeigt sich, dass es nicht um die aktuelle Sache geht, sondern um einen alten Streit zwischen zwei Abteilungen. Diese Beobachtung verändert ihr Handeln: Sie moderiert nicht nur den aktuellen Streit, sondern sucht das Gespräch über die Hintergründe und arbeitet an der Beziehungsebene.
Das macht deutlich, dass neue Führungskräfte genau dann souverän wirken, wenn sie nicht alles wissen und regeln, sondern zeigen, dass sie beobachten, reflektieren und (trotzdem) gestalten können. Diese Haltung stärkt das Vertrauen, weil sie für ihr Team berechenbar und authentisch wird: Wer nicht vorschnell handelt, sondern erst versteht, signalisiert Respekt für die Situation und für die Menschen. Gleichzeitig entsteht das Gefühl, dass Entscheidungen nicht impulsiv oder aus Selbstschutz getroffen werden, sondern auf Grundlage eines klaren Blicks. Dieses transparente Vorgehen gibt Sicherheit – und aus Sicherheit wächst Vertrauen.
So hat es ein Team erlebt, als ihr neuer Vorgesetzter zu Beginn offen sagte: „Ich möchte mir zuerst ein Bild machen, bevor ich Strukturen verändere.“ In den Wochen danach nahm er sich Zeit für Gespräche, hörte zu, stellte viele Fragen und erklärte, warum er bestimmte Entscheidungen traf. Für die Mitarbeitenden war gerade dieses Abwarten kein Zeichen von Unsicherheit, sondern der Moment, in dem sie anfingen, ihm zu vertrauen: Sie merkten, dass seine Entscheidungen nachvollziehbar und fair waren, statt von Aktionismus getrieben.
4. Selbstführung und Beziehungsgestaltung – zwei Schlüsselkompetenzen
Die Erfahrung zeigt: Fachwissen allein reicht nicht, um in einer neuen Führungsrolle wirksam zu sein. Was den Unterschied macht, sind persönliche Schlüsselkompetenzen. Gemeint sind Kompetenzen, die für eine bestimmte Aufgabe oder Rolle grundlegend und übertragbar sind – also nicht nur in einer spezifischen Situation helfen, sondern breit handlungsfähig machen.
Im Kontext von Führung sind mit „Schlüsselkompetenzen“ eben nicht Fachwissen oder Methoden gemeint, sondern übergeordnete Fähigkeiten, die den Kern guter Führung ausmachen. Sie wirken wie Schlüssel, weil sie Türen öffnen: Wer diese Kompetenzen beherrscht, kann in ganz unterschiedlichen Situationen wirksam handeln.
Zwei davon sind besonders bedeutsam: Selbstführung und Beziehungsgestaltung. Beide hängen zusammen, doch beginnen wir mit der Selbstführung.
4.1. Selbstführung: Innere Klarheit als Grundlage wirksamer Führung
Selbstführung bedeutet, die eigene innere Haltung bewusst zu steuern, gerade dann, wenn die Situation unsicher oder widersprüchlich ist. Dazu gehört erstens, sich selbst gut wahrzunehmen und zu verstehen, wie man auf Stress, Erwartungen und Konflikte reagiert.
Sie beginnt mit einfachen, aber entscheidenden Fragen:
- Wie gehe ich mit meiner eigenen Unsicherheit um?
- Wie spreche ich über Dinge, die ich selbst noch nicht verstehe?
- Wie reagiere ich, wenn ich enttäuscht oder kritisiert werde?
Zweitens braucht es die Fähigkeit, die eigenen Reaktionen zu regulieren, also nicht impulsiv zu handeln, sondern überlegt zu agieren.
Und drittens geht es um den Aufbau einer inneren Stabilität, die anderen Sicherheit gibt.
Wenn diese Selbststeuerung gelingt, entwickeln sich daraus Eigenschaften wie innere Klarheit (ich weiß, was mir wichtig ist), emotionale Stabilität (ich bleibe auch bei Gegenwind ansprechbar) und ein Gefühl von Selbstwirksamkeit (ich vertraue darauf, Einfluss nehmen zu können).
Umgekehrt zeigen sich fehlende Selbstführung oft in Zweifeln, impulsiven Reaktionsweisen und blinden Flecken, die unbewusst das Handeln bestimmen. Denn wer sich selbst nicht wahrnimmt oder steuert, wird von äußeren Erwartungen und inneren Impulsen getrieben: Man reagiert reflexhaft, statt zu wählen, was in der Situation sinnvoll ist.
Gerade am Beginn einer Führungsrolle entscheidet sich viel über diese Fähigkeit zur Selbstführung: Wer sich selbst regulieren, reflektieren und bewusst in Beziehung setzt, wirkt auf andere strukturierend – nicht durch Kontrolle, sondern durch Haltung.
Systemisches Denken ist hier kein Extra, sondern der innere Kompass. Es hilft, das eigene Erleben nicht als persönliches Defizit zu deuten, sondern als Teil eines größeren Zusammenhangs. Was in mir passiert, steht in Wechselwirkung mit dem, was um mich herum geschieht – und umgekehrt. Gefühle sind keine Störungen, sondern Informationen. Sie geben Hinweise darauf, welche Bedeutungen wir einer Situation zuschreiben, welche Dynamiken in Beziehungen wirken und welche eingefahrenen Gewohnheiten oder Erwartungen gerade aktiviert werden.
Ein Beispiel: Eine neue Führungskraft spürt Unruhe, wenn sie vor dem Team sprechen soll. Statt sich innerlich abzuwerten („Ich bin halt nicht charismatisch genug“), kann sie systemisch fragen: Wovon hängt meine Unsicherheit gerade ab (z. B. davon, dass mehrere erfahrene Kolleg:innen kritisch schauen)? Welche Situationen oder Reaktionen im Team verstärken dieses Gefühl – und was schwächt es (z. B. fördert spontanes Lob Sicherheit, während Zwischenfragen es verstärken)? Welche Erwartungen stehen im Raum – meine eigenen oder die der anderen – und wie beeinflussen sie mein Verhalten (z. B. ich will perfekt wirken, die anderen erwarten vielleicht nur Orientierung)? Und was davon basiert auf tatsächlichen Beobachtungen, was entsteht nur in meiner Vorstellung (z. B. die kritischen Blicke bedeuten vielleicht Nachdenken, nicht Ablehnung)?
Durch diese Art von Fragen wird deutlich: Die Unsicherheit ist kein persönliches Defizit, sondern ein Signal für ein Zusammenspiel von Erwartungen, Kontext und Beziehung. Genau dieses Zusammenspiel zu verstehen, ist der erste Schritt, um daran zu arbeiten.
Auf diese Weise wird die Unsicherheit nicht als persönlicher Makel gesehen, sondern als Signal für ein Zusammenspiel von Faktoren, das sich verstehen und beeinflussen lässt.
4.2. Beziehungsgestaltung: Führung als Arbeit am Miteinander
Auch die zweite Schlüsselkompetenz – Beziehungsgestaltung – gewinnt durch systemisches Denken an Tiefe. Führung ist – wie Weibler (2018, S. 3) betont – vor allem Beziehungsarbeit. In digitalen oder hybriden Settings, wo beiläufige Begegnungen fehlen, wird diese Arbeit sogar noch komplexer – und damit nicht weniger zentral.
Ein Beispiel: Ein Mitarbeiter zieht sich zurück und wirkt unmotiviert. Eine rein sachliche Reaktion („Was ist nur mit seiner Performance los?“) greift zu kurz. Systemisch denkende Führung fragt: Was könnte im System wirken? Gab es Veränderungen, Spannungen, Ausschlüsse? Welche Bedeutung könnte sein Verhalten im Teamkontext haben?
Systemische Führung versteht Beziehungen nicht als Mittel zum Zweck (z. B. „Ich baue Vertrauen auf, damit die Leute mehr leisten“), sondern als ein Geflecht mit eigenen Regeln, Dynamiken und Erwartungen. Wer diese erkennt, kann sie bewusst gestalten – mit Klarheit, Resonanz und einer Haltung, die mehr sieht als einzelne Rollen. Denn im systemischen Denken wird der Mensch nicht isoliert betrachtet, sondern immer im Zusammenhang: eingebettet in Strukturen, Kultur und Beziehungen. Verhalten entsteht nicht losgelöst, sondern im Wechselspiel zwischen Person und Umfeld.
Diese Haltung verändert den Blick: Sehe ich in meine Mitarbeitenden als Menschen mit Sinn, Motiven und einer Biografie – oder nur Rolleninhaber:innen mit Aufgaben? Wer diesen Unterschied versteht, erkennt schneller, warum jemand handelt, wie sie oder er handelt, und kann Führung darauf ausrichten.
So kann zum Beispiel eine Mitarbeiterin, die Termine wiederholt verschiebt, entweder als „unzuverlässig“ etikettiert und ermahnt werden – oder ich frage mich: Was steckt dahinter? Welche Rahmenbedingungen, Sorgen oder Zielkonflikte spielen hier eine Rolle? Im Gespräch zeigt sich dann vielleicht, dass sie gleichzeitig ein krankes Familienmitglied betreut und niemand bisher über Prioritäten gesprochen hat. Dieser andere Blick verändert den Umgang: Statt sofort zu sanktionieren, kann Führung gemeinsam klären, was gebraucht wird, um die Situation zu stabilisieren.
So wird Führung weniger mechanisch und stärker beziehungsorientiert – und genau das prägt den Führungsstil mehr als jedes Tool.
5. Systemische Fragen und Reflexionstools für neue Führungskräfte
Systemisch führen heißt, nicht vorschnell Lösungen zu liefern – sondern zunächst die richtigen Fragen zu stellen. Fragen, die nicht bloß nach Ursachen suchen, sondern nach Zusammenhängen. Nicht nach Schuld, sondern nach Sinn.
Gerade in der Anfangszeit von der Entwicklung von Führungsbeziehungen sind systemische Fragen ein hilfreiches Instrument, um Beziehungen aufzubauen, Muster zu erkennen – und sich selbst zu sortieren. Sie laden dazu ein, innezuhalten, neugierig zu bleiben und das eigene Denken zu öffnen.
Ein paar Beispiele aus der Praxis:
- Was sehe ich – und was sehe ich (noch) nicht?
- Wer profitiert davon, dass etwas so bleibt, wie es ist?
- Was müsste sich verändern, damit sich nichts verändert?
- Woran würde ich erkennen, dass sich etwas bewegt?
- Welche Rolle spiele ich selbst im aktuellen Muster?
- Was bräuchte mein Gegenüber, um sich sicherer zu fühlen?
Auch in Gesprächen der Führungskraft mit Mitarbeitenden können solche Fragen helfen, statt vorschneller Diagnosen ein gemeinsames Verstehen zu ermöglichen:
- Was wäre für Sie ein gutes Ergebnis?
- Was funktioniert trotz allem?
- Was müsste anders sein, damit Sie anders reagieren könnten?
Systemische Fragen sind nie manipulativ, sondern dialogisch. Sie eröffnen einen Denkraum – und bringen oft erstaunlich schnell Bewegung ins Gespräch. Wer sich als neue Führungskraft traut, nicht sofort alles zu „wissen“, sondern kluge Fragen zu stellen, gewinnt: an Vertrauen, an Tiefe – und an Klarheit.
6. Fazit: Führung beginnt beim Denken – und beim Selbstverständnis
Die ersten 100 Tage in einer Führungsrolle sind mehr als ein organisatorischer Übergang. Sie sind eine innere Bewegung: weg vom fachlichen Können – hin zum systemischen Verstehen.
Wer in dieser Zeit lernt, systemisch zu denken, gewinnt Orientierung – ohne alles erklären zu müssen. Er oder sie versteht, dass Verhalten nicht im luftleeren Raum entsteht, sondern in einem Netz aus Erwartungen, Geschichten und Bedeutungszuschreibungen. Und dass man nicht jedes Problem sofort lösen muss, aber jedes wiederkehrende Zusammenspiel erkennen kann.
Das gelingt, indem man innehält, Fragen stellt und zuhört. Wer diesen Blick einübt, wird wacher für Zusammenhänge – und kann bewusster entscheiden, wo Handeln wirklich nötig ist.
Führung ist nicht statisch. Sie entsteht im Denken, im Fragen und im Reflektieren – in der Bereitschaft, sich selbst einzubringen und gleichzeitig das große Ganze im Blick zu behalten. Und sie entwickelt sich immer wieder neu durch ein aufeinander bezogenes, responsives Handeln: zuhören, wahrnehmen, reagieren und das eigene Verhalten daran ausrichten.
Systemisches Denken liefert dafür keine Checkliste, sondern einen Kompass. Und dieser Kompass hilft, in der Unsicherheit handlungsfähig zu bleiben, Beziehungen zu gestalten – und in Führung zu gehen. Nicht perfekt. Aber wirksam.