Ganzheitlich zu führen ist eine oft zu hörende Empfehlung. Ein solcher Blickwinkel, der sich von den Details löst, stellt sich aber nicht ohne Weiteres ein. Wie auch, denn dazu bedarf es einer Vorstellung von „Ganzheitlichkeit“.  Leadership Insiders führt in die  anspruchsvolle Diskussion ein und skizziert, was  ganzheitliche Führung  letztlich ausmacht.

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Wir leben in unübersichtlichen Zeiten. In Managementberatungen wird zur Kennzeichnung dessen gerne das Akronym VUKA (VUCA) benutzt. Es steht für Volatilität (Unbeständigkeit/Flüchtigkeit), Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität (Mehrdeutigkeit). Nicht nur bei Führungskräften entsteht daraus eine reduktionistische Sehnsucht nach einfachen Antworten, oder ambitionierter, die Suche nach einem ganzheitlichen Verstehen. Erst hieraus kann dann ein ganzheitliches Handeln resultieren. Leadership Insiders führt in die anspruchsvolle Diskussion über Ganzheitlichkeit ein und skizziert ein damit verbundenes Führungshandeln.

Die Neigung im Management zur Verengung des Denkens

Die Forderung nach einer ganzheitlichen Betrachtung mutet sehr aktuell an. Richtig ist, dass der Ruf danach heute beständig zu hören ist, aber neu ist der damit nicht. Schon 1946 mahnte beispielsweise Elton Mayo, der heute nur noch wenig bekannte Begründer der einflussreichen Human-Relations-Bewegung, vor einer Verengung des Denkens im Management (übers.):

„Es gibt kein allumfassendes Heilmittel gegen unternehmerische oder soziale Probleme“.

Positiv formuliert heißt dies, dass erst ein breiter, möglichst alle Perspektiven umfassender Blick die Lösung eines Problems ermöglicht – wenn es überhaupt eine perfekte Lösung gibt. Voraussetzung hierfür ist zuvorderst eine angemessene Diagnose des Zustandes oder der Entwicklung, um die es geht. Warum verlieren wir Kunden? Weshalb finde ich im Team keine Akzeptanz? Aus welchen Gründen werden wir nicht mehr gewählt? usw. In letzter Konsequenz läuft dies dann auf eine ganzheitliche Betrachtung hinaus. Die im Management beliebten zweidimensionalen Quadrate (z.B. die berühmte „Cashcow“ als Typus der dimensionalen Kombination aus relativ hohem Marktanteil und kaum wachsendem/stagnierendem Markt), so sinnvoll sie manchmal sind, sind immer auch eine Methode zur Verengung des Denkens. Ebenso wie beispielsweise Führungsmodelle, die einen Führungsstil allein aus dem Reifegrad eines Mitarbeiters ableiten, der seinerseits aus der selektiven Beobachtung einer Führungskraft mal schnell „analysiert“ wird.

Eine Verengung des Denkens liegt bereits schon dann vor, wenn bei Führungsfragen immer nur auf die Führungsposition und damit auf den Führenden abgestellt wird. Damit wird verkannt, dass Führung mindestens immer zweier Personen bedarf. Führen und folgen bzw. führen lassen gehören denknotwendig und ganzheitlich zusammen. Fredmund Malik drückte es lakonisch so aus: „Wem niemand folgt, der geht nur spazieren“. Weitere Verengungen wären leicht anzufügen, doch geht es hier gerade um die konstruktive Kritik an einem verengten Denken. Da kommt nun die Diskussion über Ganzheitlichkeit ins Spiel.

Ganzheitlichkeit – ein Begriff, viele Facetten, eine Konkretisierung

Ganzheitlichkeit ist schon von der Anmutung her ein wuchtiger Begriff. Trügerisch einleuchtend, da jeder auf Anhieb meint zu verstehen, worum es dabei geht. Tatsächlich ist die Lage allerdings weniger klar, als man annehmen möchte. Basierend auf bis in die Antike zurückreichende Wurzeln haben sich verschiedene „Ganzheitslehren“ entwickelt. Man denke bspw. an die ganzheitliche Medizin. Alle Ganzheitslehren fühlen sich dem Prinzip der Vollständigkeit verpflichtet. Sie buchstabieren dies aber unterschiedlich aus. Das macht bereits klar, dass wir es hier mit keiner mathematischen Lösung zu tun haben, sondern dass „das Ganze“ immer von uns konstruiert wird. Deshalb gibt es auch „viele Ganze“. Eine ganzheitliche Führung folgt deshalb logischerweise meiner Konstruktion eben dieses Ganzen.

Bei diesen Konstruktionen gibt es bei aller Unterschiedlichkeit immer auch Gemeinsamkeiten. Eine Sache, ein Zustand oder eine Entwicklung wird dabei nicht nur hinsichtlich der Elemente und Eigenschaften, die man erkennt, in den Blick genommen, sondern man interessiert sich auch für die bestehenden Beziehungen und deren Entwicklung. Fordernder ist noch, wenn dies alles in unterschiedlichen Kontexten und zu unterschiedlichen Zeitpunkten verfolgt wird, um die Aussage zu schärfen.

Ein bekannter Merksatz lautet hier, dass das Ganze sich auf seine Teile auswirkt, aber dass diese wiederum auch auf das Ganze zurückwirken. Diese Verflechtung produziert neuartige, unabsehbare Ergebnisse (Emergenz ist hier das Stichwort). Danach gilt es nicht nur nach den unmittelbaren Folgen Ausschau zu halten, für die man sich ja zumeist interessiert, sondern darüber hinaus auch Neben- und Fernwirkungen mit ins Kalkül zu ziehen. Meistens erfolgt eine solche Rahmung als theoretischer Zugriff, der wiederum von (diskussionswürdigen) Vorannahmen geleitet ist. Beispiel:

Jemand, der in ein Team kommt, erspürt ein Teamklima, das ihn in seiner Stimmung beeinflusst. Seine Stimmung lässt ihn eine Handlung so und nicht anders ausführen, die wiederum als Teil einer Teamleistung das Teamergebnis beeinflusst, das selbst wiederum einen Einfluss auf das Teamklima ausübt. Das Teamklima entscheidet darüber mit, als wie attraktiv das Team erlebt wird und dementsprechend weitere Personen anzieht, die Mitglied dieses Teams werden möchten. Dies beeinflusst wiederum das zukünftige Teamklima und die Leistungsmöglichkeiten des Teams usw.

Dem Ganzheitlichen kommt es also wesentlich auf den Zusammenhang an. Einbezogen werden unterschiedlichste Aspekte oder Perspektiven – und das bewusst auch weitsichtig oder vorausschauend. Ohne weiteres Nachforschen ist eine „ganzheitliche Führung“ allerdings für die meisten von uns nur ein leeres Wort.

Wie kommen wir hier aber weiter und überwinden die Verengung, dass wir in uns spontan vorhandene Bilder automatisch für das jeweilige Bild von allen über sich, über Zustände, Entwicklungen etc. halten?

Ganzheitliches Führen – ein Plädoyer für bewusste Breite und Tiefe

Nochmals zur Erinnerung:  Es gibt keine einzelne, einzig „wahre“ Ganzheitlichkeit, gleich dem Heiligen Gral, der einmal gefunden, immerwährende (intellektuelle und praktische) Glückseligkeit bedeutet. Wir wollen uns der ganzheitlichen Führung stattdessen mittels dreier Beispiele weiter nähern.

Ein Forscherteam um den Managementprofessor Scott Quatro setzte im so genannten ACES-Modell Vorstellungen über als wertvoll erachtete Komponenten der Führung zu einem sinnvollen Ganzen zusammen. Hieraus entstanden „Anleitungen“ für das praktische Führungshandeln – wohlgemerkt nicht einfache „Bedienungsanleitungen“, sondern eher umfangreiche Handreichungen! Das Modell unterscheidet vier Domänen der Führung:

  • die analytische,
  • die konzeptionelle,
  • die emotionale und
  • die spirituelle.

Für jede Domäne lassen sich im nächsten Schritt theoretische und empirische Wissensbestände identifizieren und nutzen. Sei es die Motivationspsychologie (Maslow), das Systemdenken (Senge), die Transformationale Führung (Bass) oder die Emotionale Intelligenz (Goleman). Gleichermaßen zeigen die vier Domänen die Anforderungen an eine (im ganzheitlichen Sinne) gute Führungskraft und dafür zu entwickelnde Kompetenzen (analytisches Entscheiden, emotionales Erspüren etc.). Betont wird, dass keine Domäne für sich isoliert zu betrachten ist, sondern immer alle vier zusammen in die Erwägung zu ziehen sind.  Abhängigkeiten oder Wechselwirkungen sind mitzubedenken. Dies soll Führungskräften helfen, sich selbst besser einzuordnen, ihre Aufgabe im Gesamtzusammenhang zu sehen und wirkungsvoller tätig zu sein.

An meinem Lehrstuhl haben Jürgen Deeg, Wendelin Küpers und ich einen Vorschlag zum ganzheitlichen Führen unterbreitet, der ein heuristisch-integratives Anliegen verfolgt. Er betrifft sowohl die Unternehmensführung (CEO; Top Management Team) als auch die Menschenführung. Er firmiert unter dem Label der integralen Führung. Auch hier werden Führungskräften vier Bereiche aufgezeigt, die möglichst beständig im Auge zu behalten sind. Aber sie setzen ganz anders an, sind perspektivenorientiert und nicht führungsinhaltlich fokussiert. Dies liefert Führungskräften bildlich gesprochen eine Art „Vier-Stärken-Brille“ zur Befassung mit wichtigen Bezugspunkten des Führens:

Über das Persönliche (Ich, z.B.: Persönlichkeitsstruktur) und das Interpersonelle (Wir, z.B.: Team) hinaus werden Führungskräfte angehalten, auch das Unpersönliche (Man; die nicht an das konkrete Individuum gebundenen allgemeinen oder „durchschnittlichen“ Rollenerwartungen) und das Strukturell-Systemische des Organisationszusammenhangs (Es; die regelbasierte Ordnung und Prozessarchitektur), in dem und für den sie tätig sind, in ihre Überlegungen miteinzubeziehen. Es soll also über rein zwischenmenschliche Beziehungen hinaus auch an rahmende und prägende Konstellationen oder Konfigurationen gedacht werden. Beispielsweise so: Warum greift eine Kulturmaßnahme nicht? Antwort: Weil sie nur auf das Miteinander abzielte, aber Strukturen nicht verändert wurden, die vorhandenen Werte  der Individuen dem Wandel mehrheitlich nicht entsprachen und auch dem entgegenstehende, aber erwartete Rituale unangetastet blieben.

Genutzt werden kann die „Vier-Stärken-Brille“ dabei nicht nur für ein „Cross-Training des Geistes“ durch wechselnde Standort- und Standpunktwahlen der Führenden, um Gegebenheiten und Ereignisse umfassender wahrnehmen und sich gezielt mit diesen auseinandersetzen zu können. Gewonnen werden können hierdurch auch neue, erweiterte Handlungsoptionen, wie beispielsweise  das Hineinversetzen in andere oder in die Bedingtheit der Situation, was erlaubt, „über die eigenen Möglichkeiten hinauszukommen“, wie es der Philosoph Hans-Georg Gadamer einmal schön ausgedrückt hat.

Eine davon deutlich differierende dritte, teils eher wieder an die erste erinnernde Spielart bilden prozessual-transformative Fassungen des ganzheitlichen Führens. Für diese bildet die Person die unverrückbare Kerneinheit der Führung. Interessiert wird sich für (Wege zu) deren Reifung zu einer wahren, vollständigen Führungspersönlichkeit. Gemeint ist eine eben ganzheitliche (ausgeglichene bzw. harmonische) Entwicklung der verschiedenen Dimensionen des Menschseins: Körper, Geist, Emotionen und Spiritualität. Unterschiedliche Pole, Quellen oder Antriebskräfte des Führens sind miteinander in Einklang zu bringen (oft geht es um Dreiklänge, wie etwa in der Formel „leading from the mind, heart and soul“). Im Englischen wird die gelingende Integration aller Dimensionen der menschlichen Persönlichkeit als personal mastery bezeichnet. Nach dem MIT-Professor Peter Senge

„the discipline of personal growth and learning. People with high levels of personal mastery are continually expanding their ability to create the results in life they truly seek“.

Dieses Entwicklungsgeschehen findet als ein andauernder Lernprozess zuvorderst bei den Führenden statt. Doch sollen diese dazu auch die Geführten anregen. Es geht also um eine kollektive Entwicklung aller Beteiligten im Führungsprozess, die deren künftiges Verhalten und die Entscheidungsfindung zum Besseren (d.h. zum Wohle aller) lenkt.

Gelingende Ganzheitlichkeit – Ohne die reflektierende Führungskraft unmöglich

Leider wird ausgerechnet die Ganzheitlichkeit allzu oft auf eine allzu simple Formel reduziert. Dafür steht das vielgebrauchte Diktum „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“ – das dann häufig kaum mehr als eine Worthülse ist. Wer sich ernsthaft eines ganzheitliche(re)n Handelns befleißigen will, kommt nicht umhin, sich den logisch-zusammenhängenden Bausteinen des Ganzheitlichen (wie auch seinen daraus je etwas anders gebauten Spielarten) zu widmen und sich auf einen fundamentalen Perspektivenwechsel einzulassen.

Drei Beispiele haben wir hierzu skizziert. Sie sollten aufzeigen, in welche Richtungen die Ganzheitlichkeit im Führungskontext gedacht wird. Unschwer zu erkennen, dass auch sie auf Vorüberlegungen fußen, die ihrerseits, um sie nachzuvollziehen, geduldiger Auseinandersetzung bedürfen. Wer ganzheitlich denkt, sollte dies in Bescheidenheit tun und sich an die Worte des Kognitionspsychologen Dietrich Dörner erinnern:

„Doch man darf sich nie einreden, etwas ein für allemal zu wissen.“
Deeg, J./Küpers, W./Weibler, J. (2010): Integrale Steuerung, München

Dörner, D. (2002): Die Logik des Gelingens. Interviewtext von und mit Oliver Driesen, brand eins. https://www.brandeins.de/magazine/brand-eins-wirtschaftsmagazin/2002/entscheidung/die-logik-des-gelingens (Rechtschreibung angepasst)

Gadamer, H.-G. (1995): Hermeneutik im Rückblick, Sämtliche Werke Band 10, Tübingen (GW 10, 97)

Mayo, E. (1946): The human problems of an industrial civilization, 2 ed., New York (Zitat S. v-vi).

Quatro, S. A./Waldman, D. A./Galvin, B. M. (2007): Developing holistic leaders: For domains for leadership development and practice. In: Human Resource Management Review, 17(4), S. 427-441

Senge, P. (1990): The fifth discipline, New York u.a. (Zitat S. 141)