„Betrayal is the only truth that sticks”

Arthur Miller

Eine langjährige Mitarbeiterin eines mittelständischen Unternehmens erfährt, dass ihre Führungskraft entgegen früherer Zusagen eine interne Beförderung anderweitig vergeben hat – ohne Rücksprache, ohne Erklärung. Die Mitarbeiterin hatte große Hoffnungen in die Zusage gelegt und fühlte sich durch den Wortbruch persönlich verletzt. Die Folge: Die Mitarbeiterin beginnt, auch anderen Führungskräften im Unternehmen zu misstrauen – selbst jenen, die nicht in den Vorfall involviert waren. Dieses Phänomen, bei dem ein einzelner Vertrauensbruch das Vertrauen in eine ganze Gruppe, in die Organisation oder Branche infolge untergräbt, wird als „Betrayal Spillover Effect“ bezeichnet. Leadership Insiders geht der Frage nach, wie ein einzelner Vertrauensbruch das Vertrauen in andere Personen oder in anderen Bereichen erschüttern kann – und was wir tun können, um dem Effekt und seinen Folgen entgegenzuwirken.

Vertrauen verstehen: Grundlagen und Dynamik

Bevor wir uns dem Effekt selbst zuwenden, ist es wichtig, die Grundlagen des Vertrauens zu verstehen. Vertrauen ist neben der Gerechtigkeit eine Basiskategorie zum Verständnis gelingender zwischenmenschlicher Beziehungen und organisationaler Zusammenarbeit. Es beinhaltet die Erwartung, dass andere Personen oder Institutionen sich in einer Weise verhalten, die den eigenen Interessen nicht schadet, obwohl dies durchaus möglich wäre. Vertrauen ist also eine riskante Vorleistung und zeichnet sich durch mehrere Schlüsselelemente aus (vgl. Weibler 1997; 2023):

  • Zukunftsgerichtetheit: Vertrauen bezieht sich auf zukünftiges Verhalten und zukünftige Entscheidungen anderer.
  • Unsicherheit und Risiko: Der Vertrauende begibt sich in eine ungewisse Situation, in der er potenziell mit teils gravierenden Folgen enttäuscht werden kann.
  • Verletzbarkeit: Durch das Vertrauen macht sich die Person gegenüber dem Verhalten des anderen verwundbar, materiell wie immateriell.
  • Erwartete positive Intention: Es besteht die Annahme, dass der andere wohlwollend und kooperativ handelt.
  • Freiwilligkeit: Vertrauen wird freiwillig gewährt und kann nicht erzwungen werden.

Vertrauen ist dabei kein statisches Konstrukt, sondern ein dynamisches Gefüge, das sich im Laufe der Zeit entwickelt und verändert. In Organisationen bildet Vertrauen beispielsweise die Grundlage für effektive Zusammenarbeit, offene Kommunikation und Innovationsfähigkeit. Die Entwicklung dieses sozialen Schmierstoffes ist ein wechselseitiger Prozess. Mitarbeitende bringen eine gewisse Vertrauensbereitschaft in eine Beziehung und/oder der Organisation gegenüber mit, die durch das aktuelle oder rückblickend beobachtete Verhalten von Führungskräften und Kolleg:innen innerhalb von Teams entweder gestärkt oder geschwächt wird.

Allerdings ist Vertrauen ein sensibles Gut – nicht nur wegen möglicher Verluste, sondern auch wegen der Art und Weise, wie diese zustande kommen. Eine Studie der Harvard University (2004) konnte eindrücklich zeigen, dass Menschen Vertrauensentscheidungen anders bewerten als rein risikobasierte Entscheidungen. Selbst wenn der materielle Verlust gleich hoch ist, empfinden sie ihn als belastender, wenn er durch das Verhalten einer vertrauten Person verursacht wurde. Dies nennen die Autoren „betrayal costs“ – Kosten des Verrats, die über den objektiven Schaden hinausgehen. Wird entgegengebrachtes Vertrauen einmal gebrochen, kann dies nämlich weitreichende Konsequenzen haben, nicht nur für die direkt Beteiligten, sondern auch für unbeteiligte Dritte, das Team oder gar für gesamte organisationale Gefüge. An dieser Stelle setzt der Betrayal Spillover Effect an, den wir im nächsten Abschnitt näher betrachten wollen.

Vertrauensbruch: Der Betrayal Spillover Effect

Der „Betrayal Spillover Effect“ beschreibt das Phänomen, dass ein einzelner Vertrauensbruch nicht nur das Verhältnis zwischen den direkt Beteiligten belastet, sondern auch das Vertrauen in andere Mitglieder beeinträchtigen kann, die eine Zugehörigkeit zu der betreffenden Person oder derjenigen Gruppe oder Organisation haben, die das Vertrauen gebrochen hat. Diese generalisierte Misstrauensreaktion basiert auf der Tendenz, negative Erfahrungen auf ähnliche Kontexte zu übertragen.

In einer Reihe von Studien untersuchten Chou und Kollegen (2022) dieses Phänomen und fanden heraus, dass Personen, die einen Vertrauensbruch durch eine bestimmte Organisation erlebt hatten, weniger geneigt waren, anderen Organisationen mit derselben Gruppenidentität Vertrauen entgegenzubringen – selbst wenn diese Gruppenidentität nur minimal und rein nominell ist, wie zum Beispiel derselbe Gruppenname oder dasselbe Symbol. Dieser Effekt trat sowohl in kontrollierten Experimenten als auch in realen Entscheidungssituationen, wie etwa Spendenverhalten gegenüber Wohltätigkeitsorganisationen, auf.

Die Forscher identifizierten zwei Hauptmechanismen, die diesen Effekt antreiben:

  1. Erwartungsverletzung: Ein Vertrauensbruch verletzt die grundlegende Erwartung, dass sich andere fair und verlässlich verhalten.
  2. Verletzung des Glaubens an eine gerechte Welt: Menschen neigen dazu, an eine gerechte Welt zu glauben, in der gute Taten belohnt und schlechte bestraft werden. Ein Vertrauensbruch erschüttert diesen Glauben und führt zu generalisiertem Misstrauen.

Das Erleben einer Erwartungsverletzung deutet dabei eher auf einen automatischen Auslöser des Effekts hin. Wenn jemand unser Vertrauen enttäuscht, widerspricht das unseren grundlegenden Erwartungen an zwischenmenschliches Verhalten, was zu einem sofortigen und generalisierten Misstrauen gegenüber anderen führen kann. Eine Verletzung des Glaubens an eine gerechte Welt würde den Effekt hingegen als überlegtes und kalkuliertes Verhalten erscheinen lassen. Er erfordert eine reflektierte Auseinandersetzung mit dem Ereignis und stellt somit einen bewussten Verarbeitungsprozess dar.

Spillover-Effekte in Organisationen

Erleben wir einen Vertrauensbruch, sind wir geneigt, diesen als Hinweis darauf zu deuten, wie sich auch andere Mitglieder derselben Gruppe in ähnlichen Situationen verhalten würden. Die Tendenz, vergangene Vertrauensbrüche auf neue Beziehungen zu übertragen, kann auch für Organisationen von entscheidender Bedeutung sein: So kann etwa das enttäuschte Vertrauen in eine einzelne Führungskraft Misstrauen gegenüber weiteren Vorgesetzten nach sich ziehen – selbst wenn diese unbeteiligt sind. Umgekehrt kann auch ein einzelner Vertrauensbruch eines Mitarbeiters das Vertrauen der Führungskraft in das gesamte Team beeinträchtigen. Dies kann zu erhöhter Kontrolle, weniger Delegation und einer Atmosphäre des Misstrauens führen – die denkbaren negativen Folgen sind hier vielfältig. Auch zwischen Teammitgliedern wirken Vertrauensbrüche weitreichend: Unehrlichkeit oder das Brechen von Zusagen kann das soziale Gefüge destabilisieren und die Teamleistung mindern. Nicht zuletzt übertragen sich Vertrauensbrüche auch über Organisationsgrenzen hinweg: Mitarbeitende, die in der Vergangenheit einen psychologischen Vertragsbruch erlebt haben, zeigen oft anhaltendes Misstrauen gegenüber neuen Arbeitgebern. In einer Studie zu psychologischen Vertragsbrüchen konnten Coyle-Shapiro und Kollegen (2019) die Annahme bestätigen, dass ein Spillover-Effekt nicht nur Auswirkungen auf die Mitarbeiter-Organisation-Dyade, sondern auch auf die breitere soziale und berufliche Umgebung des Mitarbeiters haben kann.

Im Fall der eingangs aufgezeigten übergangenen Mitarbeiterin wird dies in besonderer deutlich: Der Wortbruch ihrer direkten Führungskraft stellte eine klare Verletzung ihrer Erwartungen dar – ein automatischer Mechanismus, der häufig unmittelbar Misstrauen gegenüber vergleichbaren Personen auslöst. Zugleich wurde auch ihr Glaube an eine gerechte Welt erschüttert: Die Annahme, dass Leistung, Loyalität und Ehrlichkeit im Arbeitskontext belohnt werden, kam ins Wanken. Die Folge war ein Rückzug und Misstrauen innerhalb der Organisation. Auch eine anhaltende Skepsis gegenüber Führungskräften beim nächsten Arbeitgeber und damit ein Übertragungseffekt über Organisationsgrenzen hinweg ist möglich.

Dem Effekt des Vertrauensbruchs entgegenwirken und Vertrauen stärken

Von Warren Buffet wird folgende Aussage überliefert:

It takes 20 years to build a reputation and five minutes to ruin it. If you think about that, you’ll do things differently.“

Diese Aussage bringt auf den Punkt, wie fragil Vertrauen sein kann – und unterstreicht damit, wie wichtig es für Führungskräfte ist, die eigene Vertrauenswürdigkeit aktiv zu fördern. Wir haben uns vielfach bereits mit solchen Fragen beschäftigt und dabei fünf zentrale Faktoren herausgestellt, durch welche die Vertrauenswürdigkeit von Führungskräften gefördert werden kann:

  • Erstens durch Integrität, die sich in verantwortlichem Handeln, Gerechtigkeit, Authentizität und Verlässlichkeit zeigt.
  • Zweitens durch Gutwilligkeit, also das erkennbare Fehlen eigennütziger Absichten, die ehrliche Sorge um das Wohlergehen der Mitarbeitenden sowie die Schaffung eines unterstützenden Klimas, das auch emotional anspricht.
  • Drittens durch aufgabenbezogene Führungsfähigkeiten, wie etwa die kompetente Setzung von Zielen, das Einbringen von Fachwissen, das Etablieren hilfreicher Strukturen und das Festlegen verbindlicher Normen.
  • Viertens durch eine offene und transparente Kommunikation, die Klarheit schafft und Vertrauen stärkt.
  • Fünftens durch gelungene Interaktionen, Kooperationen etc. in der Vergangenheit.

Wer dem Betrayal Spillover Effect entgegenwirken will, muss sich bewusst machen, dass Vertrauensverlust nicht lokal begrenzt ist, sondern sich über Personen und Situationen hinweg ausbreiten kann. Es reicht daher nicht, Vertrauen punktuell aufzubauen – vielmehr muss Vertrauenswürdigkeit als konsistentes, sichtbares Führungsverhalten gelebt werden.

 Vertrauensbruch: Fazit

Economists now recognize that trust is required if a society is to prosper

(Bohnet/Zeckhauser 2004, S. 479)

Der „Betrayal Spillover Effect“ verdeutlicht auf eindrucksvolle Weise, wie tiefgreifend ein Vertrauensbruch wirken kann – nicht nur innerhalb des Ausgangspunktes, in der Regel eine Interaktion, beispielsweise innerhalb einer engeren Beziehung, sondern auch über Menschen und Organisationen hinweg. Umso wichtiger ist es, zu verstehen, wie vergangene Vertrauensbrüche sich unbemerkt in unsere Interaktionen mit anderen einschleichen und künftige Entscheidungen beeinflussen können.

Doch der Umgang mit Vertrauensbrüchen darf insbesondere in Organisationen nicht nur reaktiv erfolgen. Vielmehr sind Führungskräfte gefordert, proaktiv zu handeln, um dem Effekt entgegenzuwirken und Vertrauen langfristig zu stabilisieren. Es ist immer wieder ist zu beobachten, dass absichtlich durch eigentlich vertrauenswürdige Personen verursachte Vertrauensbrüche besonders schwer wiegen. Denken wir an den bislang als wohlwollend wahrgenommenen Patriarchen eines mittelständischen Unternehmens, der seine privaten Entnahmen aus dem Betrieb maßlos steigert, aber Wünsche nach Lohnerhöhungen mit dem Argument der Überforderung des Betriebes ignoriert, an den hochgeschätzten Vorsitzenden einer Gewerkschaft, der sich durch Netzwerkbeziehungen bereichert oder an den Würdenträger einer religiösen Institution, der Schutzbefohlene sexuell missbraucht. Gerade der letzte Fall verdeutlicht die Folgen, wie der hier: kriminell angelegte Vertrauensbruch einer Personen oder einer größeren Anzahl von Personen der gesamten Institution extremen Schaden zufügen kann (was im Konkreten natürlich auch durch die Summe solcher weltweiten Vorfälle und dem Umgang dieser Institution damit geschuldet ist).

Folglich gilt es für Organisationen, Führungskräfte wie Mitarbeitende über dieses sensible Thema zu informieren und die Inhalte an der Organisationsspitze tatsächlich wie symbolisch vorzuleben. Vertrauen ist nicht zu substituieren. Wer denkt, ohne auskommen zu können, wird in Kontrollspiralen investieren müssen, die zu einem Offenbarungseid hinsichtlich Empathie und Emotionen führen werden. Die Folge wird vermutlich ein defensives, misstrauensorientiertes Verhalten bei anderen sein. Dies ist extrem kostenintensiv, uninspirierend, fördert den Dienst nach Vorschrift und lähmt freiwillige Aktivitäten. Wer hingegen verlässlich bleibt, achtsam mit Erfahrungen umgeht, Verantwortung übernimmt und in transparente, faire Beziehungen investiert, macht Entscheidendes richtig.

Bohnet, Iris/Zeckhauser, Richard (2004): Trust, risk and betrayal. In: Journal of Economic Behavior & Organization, Vol. 55 (4), S. 467-484

Chou, Eileen Y./Hsu, Dennis Y./Myung, Noah (2022): Once bitten, twice shy: The Negative Spillover Effect of seeing betrayal of trust. In: Journal of Experimental Psychology: Applied, Vol. 28 (2), S. 360-378

Coyle-Shapiro, Jaqueline A.-M./Pereira Costa, Sandra/Doden, Wiebke/Chang, Chiachi (2019): Psychological contracts: Past, present and future. In: Annual Review of Organizational Psychology and Organizational Behavior, Vol. 6 (1), S. 145-169

Weibler, Jürgen (1997): Vertrauen und Führung. In: Klimecki, Rüdiger/Remer, Andreas (Hrsg.): Personal als Strategie. Luchterhand, München, S. 185-214

Weibler, Jürgen (2017): Führung und Vertrauen – Führungswissen für die erfolgreiche Mitarbeiterführung. URL: https://www.leadership-insiders.de/fuehrung-und-vertrauen-fuehrungswissen-fuer-die-erfolgreiche-mitarbeiterfuehrung/, abgerufen am 14.05.2025

Weibler, Jürgen (2023): Personalführung, 4. Aufl., Vahlen, München