Die Führungskultur in deutschen Unternehmen ist nach wie vor von einem „Mann an der Spitze“ geprägt. Deutschland ist, was die Beteiligung von Frauen in der Führung betrifft, immer noch „Entwicklungsland“ (AllBright 2019). Mit der Berufung von Jennifer Morgan als erste Co-CEO eines Dax-Unternehmens wird nicht nur deutsche Unternehmensgeschichte geschrieben, sondern zugleich ein moderner Co-Leadership Ansatz ins Rampenlicht gerückt. Was ist dieser auffällige Gegenentwurf eines Co-Leadership zur traditionell vorherrschenden One-Man-Show eigentlich? Ein Aufbruch in neue Führungswelten? Leadership Insiders liefert das notwendige Wissen dazu und zeigt auf, wovon das Gelingen in der Praxis abhängt.
Fakten zur Ausgangssituation
Deutschland ist mit Blick auf die Beteiligung von Frauen in der Führung auf Top-Managementebene immer noch Entwicklungsland. 2018 nahm Deutschland im internationalen Vergleich, was den Frauenanteil in den Vorständen der 30 führenden Börsenunternehmen betrifft, im Vergleich zu Frankreich, Großbritannien, Polen, den USA und Schweden den letzten Platz ein. Weiterhin war Deutschland das einzige Land im vorgelegten internationalen Vergleich, in dem keines der großen Dax-Unternehmen überhaupt einen Frauenanteil von 30 Prozent im Vorstand erreicht (AllBright Stiftung 2018).
2019 ist eine leichte Steigerung bei den Vorstandspositionen zu verzeichnen. Die Vorstände der 160 deutschen Börsenunternehmen sind mit 641 Männern und 66 Frauen besetzt (Stand 01.09.2019). Das ist im Vergleich zum Vorjahr eine Steigerung des Frauenanteils von 8 Prozent auf 9,3 Prozent. Der Männeranteil beträgt damit aber immer noch 90,7 Prozent (AllBright Stiftung 2019).
Jennifer Morgan und Christian Klein – Die neuen Co-CEOs bei SAP
Und dann das: Jennifer Morgan wurde als erste Frau zum Co-CEO von SAP ernannt. Damit ist sie die erste Vorsitzendende eines Dax-Unternehmens. Sie übt diese Funktion bei SAP zusammen mit Co-Chef Christian Klein aus. Auf diese Weise soll eine moderne Co-Leadership Form etabliert werden.
Und SAP ist nicht „irgendwer“. SAP ist der derzeit wertvollste deutsche börsennotierte Konzern. Die aktuellen Zahlen können sich sehen lassen: Umsatz und Gewinn kletterten unerwartet kräftig. Der Erlös konnte im Jahresvergleich um 13 Prozent auf 6,8 Milliarden Euro gesteigert werden. Unter dem Strich blieben mit 1,26 Milliarden Euro 30 Prozent mehr Gewinn übrig. Zu verdanken ist dies besonders dem Geschäftsbereich der Cloudsoftware. Im Vergleich zum Geschäft mit den Softwarelizenzen, legte die Cloudsparte mit einem Plus von mehr als 30 Prozent besonders kräftig zu (FAZ.net; Fuest und Kunz 2019). Die Zahlen – vor allem mit Blick auf die gewinnträchtige Cloudsparte – sind ein Ausrufezeichen hinter Jennifer Morgans Berufung. Denn sie verantwortete diesen Bereich maßgeblich.
Biographie der ersten Co-CEO eines Dax Unternehmens
Jennifer Morgan (Jahrgang 1971) hat Betriebswirtschaftslehre an der staatlichen James Madison University (Harrisonburg, USA) studiert. Danach bekleidete die US-Amerikanerin verschiedene Managementrollen bei Accenture und Siebel Systems. Im Jahr 2004 kam sie zu SAP und übernahm später die Leitung von SAP-Nordamerika. Seit 2017 ist sie Vorstandsmitglied der Firmengruppe SAP und trägt die Verantwortung der Konzernstrategie für die Regionen Amerika und Asien-Pazifik-Japan.
Auf der SAP-Homepage lesen wir:
Als vormalige Leiterin der Cloud Business Group der SAP hatte Jennifer Morgan die Gesamtverantwortung für die Cloud-Geschäftsbereiche des Unternehmens (…) Morgan steuerte die schnelle und gezielte Umstellung des Unternehmens auf das Cloudgeschäft und verantwortete Umsatz, Produktentwicklung, Forschung, Softwareentwicklung, operatives Geschäft sowie Vertrieb und Marketing in den Cloud-Sparten der SAP. 2018 überstiegen die SAP-Clouderlöse die Softwarelizenzerlöse zum ersten Mal in der fast fünfzigjährigen Geschichte des Unternehmens.
Morgan wurde 2017 zum President der Regionen Amerika und Asien-Pazifik-Japan ernannt und als erste Amerikanerin in den SAP-Vorstand berufen. In dieser Funktion verantwortete sie die Strategie, den Umsatz und den Kundenerfolg der SAP in den Regionen Nordamerika, Lateinamerika und Asien-Pazifik-Japan, in denen über 43.000 Mitarbeiter und rund 230.000 Kunden beheimatet sind.
Vor ihrer Berufung in den Vorstand war Morgan President von SAP Nordamerika, wo sie die schnelle Umstellung der Region auf die Cloud vorantrieb, die Region noch stärker auf Wachstum und Innovation für die über 155.000 Kunden ausrichtete und den Aufbau einer Kultur unterstützte, die SAP Nordamerika die erstmalige Aufnahme in die Liste der 100 besten Arbeitgeber des Fortune-Magazins einbrachte. Morgan trug zudem maßgeblich dazu bei, dass die Region ihre führende Stellung im Bereich Vielfalt und Inklusion festigen konnte.
Erreicht wurde dies unter anderem durch Programme wie „Autism at Work“ und insbesondere den Erhalt der EDGE-Zertifizierung, die dem Unternehmen vom Weltwirtschaftsforum für seinen Einsatz für die Gleichstellung und gleiche Entlohnung von Männern und Frauen verliehen wurde.( …) Jennifer Morgan wurde vom Fortune Magazine zu einer der einflussreichsten Frauen in der Wirtschaft gekürt. Forbes wählte Morgan in die Liste der 100 einflussreichsten Frauen der Welt sowie in die Top-20-Liste der einflussreichsten Frauen in der Technologie.
Damit ist sofort klar, warum es Jennifer Morgan bis nach ganz oben schaffte. Sie hat genau die Biographie, die zum Unternehmen passt (technologieaffin, international, kundenorientiert, innovativ – technologische wie soziale Neuerungen) und verantwortete im Besonderen die Konzernstrategie für den wichtigen amerikanischen Markt. Genau dieser Strategieaspekt ist es, der als erstes mit einer CEO-Position in Verbindung gebracht (vgl. Weibler 2016) und der bei den Genderstereotypen weiblichen Führungskräften am ehesten abgesprochen wird, wenn es zum Schwur des Aufsichtsrates kommt. Dass sie extrem erfolgreich war und dieses auch an entscheidenden Stellen registriert wurde, ist natürlich eine notwendige Voraussetzung für eine solche Top-Karriere in einem Konzern, der viele kluge Köpfe bündelt.
Co-Leadership – Was hat es damit auf sich?
Nun, die Berufung von Jennifer Morgan ist leider bislang in Deutschland als solche schon ungewöhnlich, doch ist es die Form als Co-Vorsitzende des Konzerns nicht minder. Viele dürften sich fragen, was denn das genau ist und wie es einzustufen ist.
Dazu dies: Co-Leadership ist eine Form von Plural Leadership. Plural Leadership ist ein Schirmbegriff für Führungsformen, bei denen mehrere Personen zusammen Führungseinfluss ausüben. Führung wird also „im Plural“ ausgeübt, wie wir in unserem aktuellen Werk (Endres und Weibler 2019a) umfassender ausgeführt haben.
Unter Plural Leadership verstehen wir allgemein die kombinierte Ausübung von Führung durch eine Mehrzahl an Personen.
„Kombiniert“ meint, dass die Personen in der Führungsausübung in einer gewissen Weise aufeinander angewiesen sind und sich ihre Führungsrollen entsprechend überlappen. Es muss somit eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Interdependenz zwischen den Führenden vorhanden sein. Dies ist der Fall, wenn sich die Führungsaktivitäten Einzelner gegenseitig bedingen oder die eine Führungsaktivität Basis für eine andere Führungsaktivität ist oder erst alle Führungsaktivitäten zusammen das gewünschte Resultat bewirken. Dort, wo jeder für sich autonom und ohne erkennbare Folgen für die anderen führt, ist der Begriff Plural Leadership fehl am Platz.
Im vorliegenden Fall haben wir es formal mit einer so genannten Dualen Führung zu tun. Diese resultiert aus der gemeinsamen Besetzung einer ungeteilten Führungsposition (formal: z.B. Doppelbesetzung eines Vorsitzes). Keiner der beiden (grundsätzlich gleichrangigen) Positionsinhaber kann wesentliche Entscheidungen alleine treffen bzw. umsetzen (hohe führungsbezogene Interdependenz). Alle Führungsaktivitäten fließen zusammen (vollständiges Co-Leadership).
Anders wäre prinzipiell eine der weiteren Formen von Plural Leadership zu sehen, das Führungsdual. Dabei handelt es sich um unterschiedliche Positionen auf etwa derselben Hierarchiestufe (z.B. kaufmännischer und medizinischer Direktor in einer Klinik). Führungsduale stellen quasi funktionale Doppelspitzen dar. Sie findet sich vielfach auch in Sozialunternehmen oder Kreativ-Organisationen (Theater, Opernhäuser, Filmbranche, Mediensektor). Derartige Führungskonstellationen zeichnen sich einerseits durch relativ klar abgegrenzte Zuständigkeiten die Kernaufgaben betreffend aus (geringe Rollenüberlappung). Andererseits gibt es übergeordnete Bereiche, die ein gemeinschaftliches Vorgehen erfordern. Keiner der Verantwortlichen kann sich bei grundlegenden Entscheidungen sowie Prozessen mit Querschnittswirkung über den anderen hinwegsetzen. Man muss sich also zwingend auch hier zusammenraufen, um Prozesse nicht zu blockieren. Umso mehr ist dies erforderlich, wenn man etwas bewegen möchte. Es geht dann in entscheidenden Angelegenheiten eben nur gemeinsam.
Gemeinschaftliche Ausübung von Führung – Praktische Umsetzung
Die Führungsausübung ist insbesondere bei der Dualen Führung durch die „Doppelköpfigkeit“ anspruchsvoll. Sie ist nur mittels fein abgestimmter Kommunikationspraktiken der Co-Leader möglich. Kritisch sind immer Entscheidungen, die Weichenstellungen vornehmen. Zu denken ist aber nicht nur an die strategische Führungsarbeit, sondern auch an die alltägliche, die sich beispielsweise in Meetings abspielt, in denen das Führungsduo gemeinschaftlich auftritt.
Im Mittelpunkt stehen dann die Interaktions- und Beziehungsdynamiken, die von den Anwesenden gerade zu Beginn genau beobachtet und seziert werden: Wer ist besser vorbereitet? Wie verstehen sich die beiden? Gibt es kompatible Botschaften? Versucht jemand, zu dominieren oder werden sich einander die Bälle locker und treffsicher zugespielt?
Im Idealfall können am Ende die Kräfte der beiden Co-Leader synergetisch zu einem gemeinschaftlichen Einflussprozess zusammenfließen, im Worst Case erste Erosionsprozesse beschleunigen.
Rollenüberlappung
Eine komplette Rollenüberlappung und damit ein potenziell „vollständiges“ Co-Leadership dürften bei der SAP Co-CEO Konstellation wohl aber nicht vorliegen. Denn internen Berichten zufolge könnte sich eine funktionsbezogene Aufgabenverteilung abzeichnen, die sich aus den bisherigen Aufgabenschwerpunkten der beiden Vorsitzenden ergibt. Im Führungsduo dürfte Christian Klein eher die Leitung des Konzerns im Inneren zufallen. Die Amerikanerin Jennifer Morgan, die schon bisher die Cloudsparte verantwortete, gilt dagegen als Vertriebsspezialistin (Rottwilm 2019). Solche Aufgabenteilungen lassen für beide eine stärkere Autonomie zu. Damit sind Charakteristika von funktionalen Doppelspitzen erkennbar, die inhaltlich dem Führungsdual zuzuordnen sind. Praktisch haben wir also eine Mischform, die „Bereichsentscheidungen“ durch je einen Co-CEO in festzulegenden Rahmenbedingungen ermöglichen kann. „Große“ Entscheidungen können aber nur gemeinsam getroffen, verantwortet und umgesetzt werden.
Der Erfolg eines Führungsduos hängt immer maßgeblich davon ab, inwiefern es gelingt, sich bei Konflikten zusammenzuraufen. Dies ist ein weites Feld, doch möchten wir einen wesentlichen Bereich hier nach vorne bringen: Sachliche versus emotionale Konflikte. Wendy Reid und Rekha Karambayya, Forscherinnen an der HEC Montréal und York University, Kanada, zeigen hier Verlaufsformen und gravierende Gefahren in ihrer empirischen Studie bereits 2009 wegweisend auf.
Sie fanden heraus, dass aufgabenbezogene Konflikte vorwiegend innerhalb der Duos ausgetragen, während emotionsgeladene Konflikte tendenziell auch eher in die Organisation hineingetragen werden. Interessanterweise werden emotionsgeladene Konflikte im Gegensatz zu anderen Konfliktarten zur Lösung auch eher nach oben (an den Vorstand, oder wie hier dann: den Aufsichtsrat) abgetreten.
Die Auswirkungen der Konfliktkonstellationen wurden mit Blick auf drei Bereiche erfasst:
(1) Operative Funktion (Aufgabenerfüllung),
(2) Leadership-Attribution, als Maßstab für den Führungseinfluss (inwiefern das Führungsduo als Leader von den Mitgliedern respektiert und anerkannt wird) und
(3) die „Moral“ der Organisationsmitglieder (inwiefern die Mitglieder an eine erfolgreiche Zukunft ihrer Organisation glauben; Gefühl, als Kollektiv Erfolg zu haben).
Insgesamt zeigen sich die destruktivsten Wirkungen bei emotionsgeladenen Konflikten. Und dies insbesondere dann, wenn sie aus dem Führungsduo nach oben (an den Vorstand bzw. den Aufsichtsrat) zur Entscheidung weitergereicht werden – was ja quasi einer frustrierten Kapitulation gleichkommt. In diesem Fall leiden nicht nur die operative Aufgabenerfüllung, sondern auch die zugeschriebene Führungsstärke (Leadership-Attribution) und damit die Einflussmöglichkeiten des Leadership-Duos. Gravierend negativ ist zudem die signifikant demoralisierende Wirkung auf die Organisationsmitglieder (Verlust an „Moral“ bzw. an kollektiver Erfolgszuversicht).
Weniger negative bzw. sogar positive Wirkungen treten bei aufgabenbezogenen Konflikten auf, wenn sie intern gelöst werden oder andere Mitglieder als Ratgeber (von unten) einbezogen werden. In diesen Fällen gehen Co-Leader tendenziell sogar gestärkt aus dem Konflikt hervor – mit stabilisierender und motivierender Wirkung auf die gesamte Organisation.
Die Symbolwirkung von Co-Leadership?
Co-Leadership steht für einen Teil des Zeitgeistes, der Perspektivenvielfalt, Wissensamalgamation, Flexibilität, gemeinsames Lernen und Kooperation betont. Es ist eine postheroische Form der Führung, die individuelle Grenzen akzeptiert und Erfolg durch gemeinsame Anstrengung symbolisiert (Endres und Weibler 2017, 2019b). SAP signalisiert mit seiner Entscheidung natürlich auch, dass die Geschlechter gleiche Chancen im Konzern besitzen. Dazu passt dann auch, dass Jennifer Morgan die Förderung weiblicher Talente ausdrücklich betont.
SAP ist ein Clou geglückt ist, der im Wettstreit um die Work Force von morgen für Konkurrenten in Sachen Chancengleichheit und Führungskultur die Latte sehr hoch legt, im Übrigen auch, wenn man das Alter des an dieser Stelle vernachlässigten Co-CEOs Christian Klein – Jahrgang 1980 (!) – berücksichtigt. Alles zusammen genommen weckt SAP damit zuvorderst die Aufmerksamkeit für die nun in den Erwerbsprozess drängende Generation und die der „Young Professionals“.
Alles in allem wird diese Entscheidung den Blick auf Plural Leadership schärfen, deren Variantenreichtum damit noch nicht erschöpft ist, wie wir anderenorts niedergelegt haben. Eine gelingende kooperativ und überzeugend mit Leben gefüllte Plural Leadership an der Unternehmensspitze kann im Idealfall eine nicht zu unterschätzende Signalwirkung auf das gesamte Unternehmen haben und dort ebenfalls die Kooperation („Wir“) sowie eine plurale Führungskultur fördern, die im Übrigen auch in der trendigen New Work-Debatte propagiert wird. Damit sind Organisationen durch Optionenvielfalt besser zur Bewältigung anstehender Transformation gewappnet als durch eine tradierte One-Man-Show.
Nachtrag: Zum 30. April 2020 hat sich SAP von Jennifer Morgan getrennt. Als Grund wird die Notwendigkeit zu einem schnellen und entschlossenen Handeln bei klarer Führungsstruktur in einer ausgeprägten Krisenzeit angegeben. Christian Klein ist nun alleiniger Vorstandssprecher. Aus der Äußerung, dass diese Entscheidung zurück zu dem alten Führungsmodell aufgrund der auch für SAP schwierigen Situation schneller als geplant gefallen sei, muss gefolgert werden, dass die Voraussetzungen, die in diesem Beitrag als essentiell zur Sicherung des Erfolgs einer pluralen Führung genannt werden, nicht mehr erfüllt sind oder möglicherweise von vornherein nicht erfüllt waren.