Aneinander gereihte Buntstifte vor weißem Hintergrund

Jess Bailey/Unsplash

Die Führungsidentität ist Teil eines umfassenderes Selbstbildes. Der Begriff Selbstbild bezeichnet die Vorstellung, die eine Person von sich selbst hat. Es umfasst die Wahrnehmung der eigenen Persönlichkeit, Fähigkeiten, Werte, Stärken und Schwächen. Das Selbstbild wird durch persönliche Erfahrungen, soziale Interaktionen und gesellschaftliche Einflüsse geformt. Eine Führungsidentität zu besitzen, heißt zu wissen, dass das Führen mit der eigenen Person verbunden wird und – je nach Lebenslage und/oder Umständen – in dem Wunsch, der Motivation, mündet, Führung zu übernehmen. Des Weiteren kann es mit konkreten Vorstellungen verbunden sein, wann und wie eine Führung auszuüben ist. Die Führungsidentität kann stark oder schwach bis überhaupt nicht ausgeprägt sein. Gesellschaft, Gemeinschaften oder Organisationen sehen Positionen vor, in denen Führung ausgeübt werden sollte. Ob dies dann gelingt, hängt davon ab, wie es um die Führungsidentität der betreffenden Person steht und ob sie von den anderen, denen sie vorsteht, als Führungsperson akzeptiert wird. Sonst leitet sie nur eine Einheit, denn diese Leitungsfunktion ist fraglos mit einer dafür vorgesehenen Position verbunden, aber sie führt eben dann nicht. Und wir wissen: Führung und nicht Leitung macht den Unterschied. Um einen Unterschied zu machen, sollte man also als eine Führungskraft im wahrsten Sinne des Wortes angesehen werden.

Herausbildung einer Führungsidentität – Der Prozess

Eine bedeutsame interaktionsorientierte Betrachtung der Herausbildung einer Führungsidentität haben DeRue und Ashford (2010) vorgelegt (dazu im Folgenden Weibler 2023). Sie stellen die Frage: „Who will lead and who will follow?“ Es geht darum, aufzuzeigen, wie in Organisationen Prozesse zwischen Organisationsmitgliedern ablaufen, die in einer Führungsrolle („who will lead“) und Geführtenrolle münden („who will follow“). Ausgangspunkt ist unter anderem die Idee, dass sich Beziehungen zu Führungsbeziehungen entwickeln, wenn die beteiligten Individuen im Rahmen ihrer Interaktion entsprechende Leadership-Identitäten im Sinne einer Differenzierung in eine Leader-Identität („leader identity“) und eine Follower-Identität („follower identity“) aushandeln.

Startpunkt ist die Annahme, dass grundsätzlich keine a priori Festlegung von Führung, sehr wohl natürlich von Leitung, erfolgt. Wer „führt“ und wer geführt wird bzw. sich also in eine Follower-Rolle begibt, muss erst ausgehandelt werden. Eine einseitige, aber unbestätigte Führungsidentität einer Führungskraft nutzt alleine nichts. Es ist so, als wenn jemand bei einer Stadtführung ein Fähnchen hochhält und losgeht, aber andere suchen ihre eigenen Wege, manche bleiben einfach stehen und wieder andere bilden kleinere Gruppen und marschieren auf eigene Faust los.

Im Organisationsalltag bilden sich potenziell Leadership und Followership beständig heraus, übrigens auch dann, wenn dies formal gar nicht vorgesehen ist (informelle Führung). Wir beziehen uns aber hier auf die formal vorgesehenen Positionen wie Teamleitung und Teammitglied. Identitätsarbeit verläuft nach DeRue/Ashford nicht in einem linearen Prozess. Ein z. B. Teamleiter, der eine Bereitschaft hat, zu führen, versucht durch sein Verhalten eine legitime Leader-Identität – zu etablieren („Akt der Beanspruchung“).  Im Zuge dieses Prozesses trifft er sie mit seinen Bestrebungen auf bekräftigende oder abwehrende Antworten der Teammitglieder, die durch verbale und nonverbale Kommunikation, Symbolik, Verhalten usw. vermittelt werden können. Derartige Rückkoppelungen (reziproke Identitätsarbeit) tragen (im Idealfall) dazu bei, Mehrdeutigkeiten aufzulösen und Klarheit sowie Akzeptanz über die Führungsbeziehung herzustellen. Der Führungsanspruch würde also gewährt, eine nur Leitung der Einheit entscheidend angereichert.

Wie sieht das führungspraktisch aus: Ein direkter verbaler Akt des Beanspruchens einer Leader-Identität wäre etwa ein direktes Statement, dass man hier der oder die Führende sei. Ein direkter verbaler Akt des Beanspruchens einer Follower-Identität, wäre die Aussage, dass man der vorgeschlagenen Richtung folge, oder dass man erwarte, der andere möge eine Richtung vorgeben oder eine Entscheidung treffen. Die schlichte Aussage, „Das müssen Sie entscheiden“ – und damit die Einforderung von Führung durch eine andere Person – wäre hier ein Beispiel für einen direkten verbalen Akt des Beanspruchens einer Follower-Identität. Oder nehmen wir als einen direkten nonverbalen Akt beispielsweise die Symbolik. Hier „gibt“ man sich wie ein Leader – etwa durch eine hervorstechende, aber passende Kleidung, oder indem man bei einem Meeting den Platz am Kopf des Konferenztisches (als erster) wie selbstverständlich einnimmt. Eine nonverbale Beanspruchungstaktik für eine Follower-Identität wäre etwa, sich in einem Meeting nur auf direkte Aufforderung zu Wort zu melden. Ähnlich kann eine Person Leader-Identität gewähren, indem sie den Platz am Kopf des Konferenztisches einer anderen Person anbietet. Dies muss nicht alles auf einmal passieren, sondern ergibt sich teils im Zeitverlauf, je nach Reaktion des anderen. Dieser Prozess wird von anderen beobachtet und nachgeahmt oder verworfen. Die Summe der einzelnen Entscheidungen führt dann je nach Ergebnis zu einem breiten Konsens über Führung und geführt werden, einer Zerfaserung der Auffassungen darüber, wer die Führungskraft ist oder zu einer Gruppe, die nur Leitung, aber keine Führung kennt.

Herausbildung einer Führungsidentität unterbleibt – Der Prozess wird erst gar nicht in Gang gesetzt

Wenn sich der obige Vorgang des Beanspruchens und Gewährens positiv ereignet, entsteht Führung. Was aber, wenn die Beanspruchung selbst ausbleibt? In diesem Fall hat sich bislang keine Führungsidentität herausgebildet. Woran liegt das? Folgen wir dazu einer Gruppe um die Professorin für Management und Organisation, Julian Lee Cunningham, von der University of Michigan, USA. Zunächst einmal ist klar, dass die Identität stark von sozialisatorischen und situativen  Faktoren wieeigenen Erlebnissen beeinflusst wird. Laufen die an dem, was irgendwie mit Führung zu tun hat, vorbei, ist die spätere Herausbildung einer Führungsidentität bereits erschwert.

Dann sollten wir an antizipierte Image-Risiken denken. Mitarbeitende befürchten, dass die Übernahme einer Führungsrolle ihr Image negativ beeinflussen könnte. Drei wesentliche Aspekte stehen hierbei im Vordergrund: (1) Furcht, als herrisch wahrgenommen zu werden: Führung wird oft mit Dominanz und Durchsetzungsvermögen assoziiert. Viele vermeiden daher die Rolle, um nicht als „bossy“ oder unsympathisch zu erscheinen. (2) Zweifel an der eigenen Qualifikation: Wer sich selbst nicht als ausreichend kompetent empfindet oder Angst vor Versagen hat, vermeidet Führungsaufgaben. Besonders Personen mit einer fixen Denkweise („Leadership ist angeboren, nicht erlernbar“) scheuen das Risiko. (3) Sorge, sich von der Gruppe zu entfremden: Führung erfordert Distanz zu bisherigen Kollegen. Die damit einhergehende soziale Isolation hält viele davon ab, eine Führungsidentität ernsthaft auszubilden und eine Führungsrolle zu übernehmen.

Und dann sind da noch jenseits des Individuellen die kulturellen und organisationalen Hemmnisse. (1) Fehlende Vorbilder und Mentoren, die eine Führungsidentität stärken könnten. (2) Eine Unternehmenskultur, die Leadership primär als hierarchische Autorität und weniger als flexible, teamorientierte Kompetenz versteht- zumindest grenzt dies den Kreis der willigen ein. (3) Mangelnde Unterstützung und Entwicklungsprogramme, die Mitarbeitende an die Führungsrolle über eine Identitätsbildung heranführen. (4) und vergessen wir nicht eine fehlende finanzielle Honorierung der Verantwortung, die in einer Untersuchung von Andrea Derler als wichtigster Faktor ausgewiesen wurde. Für die Übernahme einer Führungsrolle ist dies empirisch erhärtet, für die Herausbildung der vorauslaufenden Führungsidentität als anreizhemmend zu vermuten.

Handlungsempfehlungen zur Beeinflussung der Führeridentität

Grundsätzlich müssen wir die Herausbildung einer Führungsidentität als einen dynamischen Prozess verstehen. Eine einmal entwickelte Führungsidentität kann sich abschwächen – etwa durch führungsbezogene Misserfolge –, aber auch gefestigt und auf andere Bereiche übertragen werden, beispielsweise vom Freizeitsektor auf den beruflichen Kontext und dort über Sektoren hinweg.

Betrachten wir mögliche Handlungsempfehlungen, ergeben sich diese zunächst spiegelbildlich aus den Hemmnissen: Sie wirken indirekt auf die Führungsmotivation ein, indem sie eine angegriffene Führungsidentität stärken. Mein übergreifender Ratschlag jedoch gleich zu Beginn: Die Möglichkeit, Führung zu übernehmen, sollte aus biographischer Sicht möglichst frühzeitig geschaffen und altersgerecht gestaltet werden. Im Beruf sollten Experimentierräume zur Entwicklung von Führung bereitgestellt werden – etwa durch rotierende Stellvertreterregelungen oder die Übernahme von (Teil-)Projektleitungen – zunächst in physischer Präsenz, nachgelagert in virtuellen Settings.

Ein oft unterschätzter Aspekt ist die Bedeutung positiver Vorbilder: Erfolgreiche Führungspersönlichkeiten sollten ihre Entwicklungsgeschichten transparent machen – inklusive Rückschlägen und Ängsten, aber auch der Strategien, mit denen sie diese Herausforderungen gemeistert und produktiv genutzt haben. Dies haben wir schon für den Fall der Wahrnehmung einer authentischen Führung nachgewiesen (Weischer/Weibler/Petersen 2013).

Gleichzeitig sollten die von Julia Cunningham empirisch identifizierten Image-Risiken bewusst adressiert werden, um die Angst vor einem negativen Selbstbild abzubauen. Menschen, die sich als kooperativ verstehen, fürchten möglicherweise, durch eine Führungsrolle als autoritär (herrisch) wahrgenommen zu werden. Deshalb sollte betont werden, dass Führung vor allem eine Chance ist, Dinge positiv zu gestalten und zu verbessern.

Führungsidentität kann gezielt entwickelt werden. Individuelle Entwicklungspfade sollten klar aufgezeigt, Führungskompetenzen schrittweise aufgebaut und durch positive Erfahrungen die Selbstwahrnehmung als Führungskraft gestärkt werden. Hier spielt insbesondere die Förderung der Selbstwirksamkeit eine zentrale Rolle.

Zudem sollte eine lernorientierte Haltung etabliert werden: Führung ist keine außergewöhnliche Gabe, sondern eine Fähigkeit, die erlernt werden kann und es ist wie bei allem zu vermitteln, dass Unterschiede in ihrer Erlangung und Ausübung existieren, was Ansporn denn Entmutigung sein sollte. Aber gerade die Basics sind kein Hexenwerk. Respekt vor anderen und ihren Lebensgeschichten wie beruflichen Anstrengungen ist eine davon. Diese Überzeugung muss aktiv vermittelt werden, um talentierte, aber zweifelnde Mitarbeitende anzusprechen. Eine weitere effektive Maßnahme ist eine soziale Unterstützung durch beispielsweise Coaching und Mentoring, um Ängste abzubauen und die Führungsrolle schrittweise zu verinnerlichen. Ergänzend können strukturierte Führungsprogramme angeboten werden. Dabei sollte jedoch ehrlich kommuniziert werden, dass eine gute Führung mit Herausforderungen verbunden ist. Gleichzeitig bietet sie die Möglichkeit, eigenverantwortlich zu gestalten und weniger von äußeren Einflüssen abhängig zu sein.

Nicht zuletzt müssen auch überzeugende finanzielle Anreize geschaffen werden, die mit der Übernahme einer Führungsrolle einhergehen. Ebenso wichtig ist es, ausreichend Zeit für die Einarbeitung und das Ausfüllen der Rolle einzuplanen. Zwar garantiert all dies nicht automatisch die Herausbildung einer Führungsidentität – aber es erhöht ihre Wahrscheinlichkeit erheblich.

Cunningham, J.L.; Sonday, L.; Ashford, S.J. (2023). Do I dare? The psychodynamics of anticipated image risk, leader-identity endorsement, and leader emergence. Academy of Management Journal, 66(2), 374-401.

DeRue, D.S.; Ashford, S.J. (2010). Who will lead and who will follow? A social process of leadership identity construction in organizations. In: Academy of Management Review 35(4), 627-647.

Weibler, J. (2023). Personalführung 4. Auflage, Vahlen Verlag, München.

Weischer, A.; Weibler, J.; Petersen, M. (2013): To thine own self be true”: The effects of enactment and life storytelling on perceived leader authenticity. In The Leadership Quarterly, 2013, 24, 477-495