Eine aktuelle Studie der Boston Consulting Group (BCG) weist auf Basis der Befragung von rund 5000 Führungskräften und Angestellten aus, dass nur sieben Prozent der Mitarbeitenden in Deutschland in den kommenden fünf bis zehn Jahren eine Führungsposition übernehmen möchten. Bei den Managerinnen und Manager, seien es gerade noch rund 40 Prozent, die auch in Zukunft eine Führungsposition innehaben möchten (Brücken 2019). Das größere Problem scheint der Sprung in eine Führungsposition zu sein. Der Nachwuchs steht damit im Fokus. Leadership Insiders nimmt dies zum Anlass, darzustellen, wovon es grundsätzlich abhängt, damit sich Frauen wie Männer in Organisationen erstmals für eine Übernahme von formaler Führungsverantwortung entscheiden.
Führungsmotivation
Wer eine Führungsposition anstrebt, hat bereits einen Willen, der seine Aufmerksamkeit in diese Richtung lenkt. Dies kann sich beispielsweise in der Lektüre von Fachliteratur, Erlebnisberichten oder intensiven Gesprächen mit älteren Führungskräften oder dem Besuch eines einschlägigen Seminars ausdrücken. Wir interessieren uns dafür, was diesen Willen bei Mitarbeitenden entstehen lässt. Synonym spreche ich von „Führungsmotivation“ und „Motivation to Lead“.
Zur Erinnerung: Eine Motivation entsteht, wenn ein entsprechendes Motiv angeregt ist. Dies verweist auf ein Zusammenspiel von Faktoren, die im Inneren einer Person begründet sind, und Faktoren, die in der äußeren Situation liegen. Im Idealfall wirken sie unterstützend aufeinander ein. Das heißt auch, dass die Motivation unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann. Im ungünstigen Fall können Signale aus der Umwelt, die eine Führungserwartung anderer transportieren oder eine Führungsmöglichkeit eröffnen, statt eines beherzten Zugreifens Ängste, Unlust und infolge dessen ein regelrechtes Vermeidungsverhalten provozieren. Am Ende steht sogar eine negativen Führungsmotivation. Ein Forschungsteam um den Psychologieprofessor Jörg Felfe, Universität der Bundeswehr Hamburg, hat mit dem „Hamburger Führungsmotivationsinventar“ ein Messinstrument dazu entwickelt (2012) wie auch die allgemeine Diskussion dazu vorangetrieben.
Zentrale Komponenten der Führungsmotivation
Schauen wir uns die Studienlage genauer an. Frühe und bis heute maßgebliche Erkenntnisse lieferten Kim-Yin Chan und Fritz Drasgow (2001), die drei Komponenten der Führungsmotivation unterschieden, von denen die erste als die stärkste gilt:
- Die affektive Komponente spricht positive Emotionen an, die mit der Vorstellung der Übernahme von Führung einhergehen. Führung wird dann mit Spaß und Freude verbunden. Man ist intrinsisch motiviert, zu führen.
- Die non-kalkulative Komponente zielt auf die Bedeutung des eigenen Nutzens ab, der mit der Übernahme einer Führungsposition verbunden ist. Wer wenig an den eigenen Nutzen denkt, übernimmt Führung häufiger, zumal er sich nicht aktiv und systematisch um die Fallstricke kümmert. Wer nutzenbezogen kalkuliert, wird weniger Gelegenheiten sehen, da die Übernahme von Führung immer auch Kosten und Unwägbarkeiten nach sich zieht. Da müssen die Vorteile schon eine deutliche Strahlkraft besitzen, denn die Kosten (z. B. Mehrarbeit) sind wesentlich konkreter als der Nutzen. Aber gerade diese Strahlkraft war bislang im Wirtschaftssektor ein mächtiger Anreiz, da nur mit dem Erklimmen von Führungspositionen materielle (Einkommen) wie immaterielle (Ansehen) Vorteile zu verbinden waren. Diese waren solange vergleichsweise gut zu beziffern, sofern normierte Karrieren vorlagen und statusmäßig gewürdigt wurden. Ein Risiko verblieb selbstredend auch dort immer. Diese Strahlkraft scheint für viele Jüngere seit einiger Zeit zu verblassen, da ein trade-off zur Freizeit oder zur Gesundheit gesehen wird. Hinzu treten mögliche Diskrepanzen zwischen eigenen Werten und bestimmten Produktionsweisen und den damit verbundenen individuellen oder gesellschaftlichen Folgen.
- Die sozial-normative Komponente, die die Übernahme von Führung aus einem Gefühl der Verpflichtung heraus bestimmt. Diese kann selbst auferlegt sein oder gesellschaftlich erwartet werden. Beispielsweise ist die Tochter die einzige Nachfolgerin des inhabergeführten Geschäftes. Oder ein Absolvent einer staatlichen Universität empfindet eine Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft, sodass er beschließt, einer öffentlichen Organisation oder einer NGO in einer besonders verantwortungsvollen Positionen zu dienen.
Ein Team um den bekannten Führungsforscher Micha Popper, University of Haifa, Israel, erweitert diese Liste noch um zwei weitere Komponenten: Der Übernahme von Führung aus ideologischen Gründen und der Übernahme aus patriotischen Gründen. Während bei der ideologischen Komponente (Weltanschauung; Führung zur Durchsetzung eigener, fixer Auffassungen) eine Nähe zu kalkulatorischen Momenten besteht, zielt die patriotische Komponente auf die Sicherung der Unversehrtheit der Nation ab. Dies kann auch gegen andere, gar vorherrschende Ideologien gerichtete sein. Seine Befragung, unternommen in Einheiten des israelischen Militärs, ist nun so zu interpretieren, dass diese beiden Komponenten eher in Ausnahmesituationen die gewichtigste Lead-Rolle für die Motivation spielen.
Inklusive der anderen drei „Klassiker“ war das dortige Forschungsteam in der Lage, ca. 50% der Ausprägung der Führungsmotivation bei ihren Befragten aufzuklären. Das ist sehr bemerkenswert. Noch ist jenseits dieses Beispiels allerdings unklar, inwieweit den jeweiligen Komponenten in spezifischen Führungsrollen eine jeweils besondere Bedeutung zukommt (informelle Gruppen, Projektgruppen, Unternehmen vs. Staat etc.).
Ergänzende Überlegungen für eine „Motivation to Lead“
Wodurch wird aber nun die affektive Komponente, die unsere intensivste Aufmerksamkeit verdient, überhaupt herausgebildet? Eine schwierige Frage, der Gwen Elprana in 2015 nachgegangen ist. Ihre Forschungen und die anderer zeigen, dass es insbesondere der Persönlichkeitsfaktor der „Extraversion“ ist (Frohsinn, Durchsetzungsfähigkeit, Aktivität, Erlebnishunger, Geselligkeit), der sie beeinflusst.
In diesem Zusammenhang ein etwas amüsanter Befund. Einer Experimentalstudie zufolge waren extravertierte männliche Personen signifikant (noch) führungsmotivierter, wenn als attraktiv wahrgenommene Beobachterinnen das Gruppengeschehen verfolgten (Campbell u.a. 2003). Auch hier zeigt sich, dass wir zwar den Dschungel verlassen haben, der Dschungel in uns aber partiell weiterlebt (anders: eine evolutionstheoretische Erklärung bietet sich an).
Daneben hat die eigene Führungserfahrung, die im Laufe des Lebens gemacht wurde sowie die Überzeugung, durch Führung Einfluss auf Dinge nehmen zu können („Selbstwirksamkeit“), einen Einfluss auf die Führungsmotivation. Weitere Faktoren wie eine bestimmte Kombination aus Machtmotiv, Leistungsmotiv und Anschlussmotiv werden als Fundament des Öfteren benannt. Gelegentlich wird auch die Bedeutung einer Emotionalen Intelligenz v. a. für die affektive Führungsmotivation angeführt. Daneben sind es bestimmte Wertüberzeugungen, mündend in dem Streben nach Autonomie; Bestätigung und Wachstum, die des Weiteren in der Diskussion auftauchen.
Der Wille zur Führung bei Frauen und Männern
Das affektive Führungsmotiv ist gleichsam bei Frauen und Männer am besten von allen geeignet, eine Motivation to Lead vorherzusagen. Dabei haben die Frauen eine etwas geringere Ausprägung, die möglicherweise indirekt auch durch eine realistische Sicht der Dinge mitbewirkt sein kann: Die Wahrscheinlichkeit, dass sie es im Wettbewerb mit den Männern schaffen, eine Führungsposition zu bekommen, ist geringer.
„Think Leadership – Think Male“ gilt nach wie vor, vor allem für Top-Positionen. Dieser Befund wird durch eine weitere Untersuchung der Boston Consulting Group aus 2019 bei den 100 größten deutschen börsennotierten Unternehmen hinsichtlich der Besetzung von Vorstandspositionen wieder einmal erhärtet:
Die Diversity Spitzenreiter des vergangenen Jahres entwickeln sich weiterhin gut, in den restlichen Unternehmen lässt der Fortschritt in Richtung Geschlechterparität allerdings zu wünschen übrig…Der Fortschritt hat in Deutschland Ladehemmung (S. 3).
Anmerkung: Die Aufnahme des Geschlechts in die Diversity-Kategorie ist gängig. Ich erachte dies jedoch als unpassend, streng genommen als diskriminierend. Dadurch werden Frauen gegenüber Männern automatisch in eine Sonderrolle gepresst und ihre „Andersartigkeit“ wird sogar noch betont. Zudem erlangt das Geschlecht eine identische Bedeutung mit dem Alter, der ethnischen Herkunft oder der sexueller Orientierung. Das Geschlecht ist aber eine Fundamentalkategorie jeder Gesellschaft. Warum eine Hälfte dieser Fundamentalkategorie nun problematisiert und in einer Unterkategorie „verfrühstückt“ wird, erschließt sich mir nicht. Vielmehr blendet es aus, dass es zuvorderst Geschlechterstereotype und Umstände sind, die sich zu ändern haben, um Frauen eine gleiche Startchance im Wettbewerb um Führungspositionen zu geben. Das Problem liegt primär nicht bei den Frauen, wie es dieser einseitige Blick suggeriert („Ein wenig Nachhilfe und Unterstützung, dann klappt das schon. Aber wer nicht lernen will…“). Persönlich spreche ich hier von der „Diversitätsfalle“ (Diversity Trap).
Dazu passt der Befund von Laura Guillén u.a. (2015) sehr gut, dass der Wille zur Führung dann steigt, wenn der soziale Vergleich mit konkreten historischen oder gegenwärtigen Führungspersönlichkeiten der eigenen Identität gut entspricht oder man generell meint, den prototypischen Vorstellungen einer Führungskraft den eigenen Standards nach zu entsprechen. Für Frauen (im Management) war dies aufgrund der gesellschaftlichen Entwicklung bislang nicht im selben Ausmaß möglich.
Dies erklärt mit, warum die aktive Vermeidung von Führung bei Frauen empirisch höher ausgeprägt ist. Eine die Führung vermeidende Person strebt nicht in Führungssituationen, weil sie ihnen nichts Positives abzugewinnen vermag. Sie befürchtet gar negative Konsequenzen für sich, sollte sie in eine verantwortliche Rolle überwechseln. Aber auch hier sind die absoluten Unterschiede in den zitierten Forschungen nicht wirklich groß.
Sobald die Frauen selbst keine traditionelle Geschlechterrolle einnehmen, ein Bewusstsein über eine Ungleichbehandlung besitzen und – ganz wichtig – gleichgeschlechtliche Rollenvorbilder haben, verlieren sich die geringfügigen Unterschiede ohnehin. Wenn sich Erwartungen an die Übernahme einer Führungsrolle nicht ändern oder Strukturen sakrosankt sind, nützt dies jedoch nur bedingt etwas.
Wie kann die Führungsmotivation erhöht werden?
Gesellschaften wie Organisationen sind darauf angewiesen, dass sich Frauen und Männer bewusst für die Übernahme einer Führungsposition entscheiden. Auch wenn sich der Führungsbedarf zur Besetzung zukünftig bei gut ausgebildeten Mitarbeitenden, eigenverantwortlichen Teams und abgeflachten Hierarchien (formal weiter) verringert dürfte, bleibt die Besetzung mit talentierten Personen nichstdestotrotz erfolgskritisch.
Drei Empfehlungen für Organisationen liegen nun zur Stärkung der Führungsmotivation auf der Hand:
- Erstens muss es Raum geben, um Führungserfahrungen zu machen. Dies könnte durch die Begleitung von Führungskräften erfolgen, wobei allein durch Anschauung eine Auffassung darüber entsteht, was Führung im Guten wie im Schlechten bedeuten kann.
- Zweitens müssen Personen, die erkennen lassen, Verantwortung übernehmen zu wollen, sehr schnell gefördert werden, etwa durch Einsatz in kleineren Projekten. Eine Begleitung durch Mentoren wäre zu wünschen, eine „Erfolgsbeurteilung“ zu Beginn zu vermeiden. Führung muss experimentell erprobt werden, um herauszufinden, was zu einem passt, was geht und was scheitert. Die mit Führung verbundenen Gefühle sollten stets auch Gegenstand eines mentoriellen Austausches sein.
- Drittens muss die Erweiterung von Führungsverantwortung durch Entwicklungsprogramme unabhängig vom Geschlecht unterstützt werden, die (a) persönlichkeitsbildend (dazu gehört auch eine diagnostische Einschätzung der Persönlichkeitsstruktur) und (b) informativ sind (Seminare, praktische Übungen). Und natürlich ist (c) der große Bereich an nicht zuletzt durch HR mit zu verantwortende Maßnahmen zu nennen, wie z.B. formale Stellvertretungen oder die Leitung von wichtigeren Projektteams. Zentral hier: Rückmeldungen der Mitarbeitenden. Denn es gilt:
Führung entsteht in einer Führungsbeziehung und ob eine Person hier als eine Führungsperson wahrgenommen wird, entscheiden die, die mitgenommen werden sollen.
Führungsmotivierte Personen sind, das zeigen Studien, bestrebt, sich fachlich zu qualifizieren. Motivation und Qualifikation sind die individuelle Basis für eine erfolgreiche Führerschaft, fördernde Strukturen und eine entsprechende Führungskultur müssen stimmig kombiniert hinzukommen. Ansonsten hat eine Organisation nur Talente in Wartestellung. Talente warten allerdings nicht lange auf eine mögliche Chance!
Das Beste , was man dem Nachwuchs mitgeben kann, ist aber wohl zu verdeutlichen, dass Führung einem selbst trotz der damit verbundenen Last vor allem Freude bereitet und dass es Spaß macht, andere zu unterstützen, ihre Potenziale zu entfalten. Wo dies nicht gelingt, wird sich keine herausragende Führung entwickeln können, vermutlich noch nicht einmal etwas, was den Namen „Führung“ verdient.