Der Begriff der Critical Leadership Studies (CLS) – gesprochen wird zuweilen auch von einer Critical Leadership Theory bzw. einem Critical Leadership Teaching – steht für eine Position innerhalb der Führungsforschung, welche Wissenschaftler eint, die der Überzeugung sind, dass die herrschende Forschung und Lehre (Mainstream) durch Sichtweisen geprägt sei, die die Führungsrealitäten unpassend abbilden, weil sie unvollständig oder gar unwirklich seien. Leadership Insiders skizziert drei zentrale Kritiken, welche gegenüber dem Mainstream erhoben werden, und diskutiert die Begründungen wie auch Konsequenzen solcher Einwände.
Die Vertreter der Critical Leadership Studies (CLS) weisen sich in ihren Schriften eher selten explizit als solche aus und haben sich schon gar nicht formell in einer Vereinigung zusammengeschlossen. CLS-Protagonisten erkennt man vielmehr daran, dass sie vorherrschende Sichtweisen innerhalb der Führungsforschung, der Führungslehre und damit letztlich auch der Führungspraxis höchst grundsätzlich in Frage stellen und sich hieraus ergebende Veränderungen einfordern. In einem der seltenen Beiträge, welche sich ausdrücklich mit dieser Forschungsrichtung befassen, definiert David Collinson von der Lancaster University den Terminus wie folgt:
Kritische Studien stellen hegemoniale Perspektiven in der Mainstream-Literatur in Frage, die dazu neigen, sowohl die Komplexität der Führungsdynamik zu unterschätzen als auch davon ausgehen, dass Führungskräfte verantwortliche Personen sind, die Entscheidungen treffen, und dass Geführte diejenigen sind, die lediglich Befehle ‚von oben‘ ausführen.1Collinson 2011, S. 181
Blicken wir zunächst auf den zweiten Aspekt dieser Definition, also auf die Kritik, dass unser Führungsdenken zu sehr auf die Person des jeweils Führenden bezogen sei, womit die übrigen Bestimmungsgrößen einer erfolgreichen (oder eben erfolglosen) Führung unzulässig außer Acht gelassen würden.
Leader Centrism – Zum Romantizismus in der Führung
Der Vorwurf des Romantizismus innerhalb der Führungstheorie und -praxis besteht schon seit den 1980er Jahren, als Meindl und Kollegen (1985) unter dem Signum der „Romance of Leadership“ davor warnten, Erfolge von Unternehmen ausschließlich auf die Person des Unternehmers bzw. obersten Top-Managers (CEO) zurückzuführen – und diesen Zielpersonen umgekehrt dann ebenso die Alleinschuld im Falle anhaltenden Misserfolgs zuzuschreiben. Im Rahmen der Personalführung vergegenwärtigt sich Leader-Zentrismus am markantesten wohl in der Idee einer transformationalen Führung, die Führende dazu anhält, nicht nur „einfach“ das Handeln, sondern vielmehr auch das Denken, die Werte und letztlich das gesamte Bewusstsein der Geführten nachhaltig zu verändern – oder wie es euphemistisch heißt: auf eine „höhere Ebene“ zu transformieren (auf der in der Regel die formalen Organisationsziele angesiedelt sind). Unterhalb dessen liegt ein Leader-Zentrismus immer dann vor, wenn davon ausgegangen wird, dass die für Führungsprozesse charakteristische Verhaltensbeeinflussung im Wesentlichen nur top-down erfolgen kann – was dann unmittelbar auch auf ein Geführtenverständnis verweist, welches pointiert wie folgt umschrieben werden kann:
Mainstream-Ansätze tendieren dazu, die Geführten als eine Art ‚leeres Gefäß‘ zu sehen, was nur darauf wartet, vom Führenden geführt oder sogar transformiert zu werden.2Goffee/Jones 2001, S. 148
Diese Kritik der CLS am Mainstream kann allerdings – zumindest für die deutschsprachige Forschungslandschaft – zurückgewiesen werden. Denn tatsächlich stellt sich diese insofern recht differenziert dar, als die Bedeutung der Geführten im Führungsprozess in zahlreichen Führungsansätzen ausdrücklich anerkannt und einbezogen wird (z.B. partizipative Führung, organisationales Lernen, Führung von unten), wie auch die Bedeutung der Führungssituation (z.B. Organisationskultur/-struktur, wirtschaftliches/gesellschaftliches/kulturelles Umfeld der Führung) für den Führungserfolg weithin unbestritten ist. Von daher kann mit einiger Berechtigung eine Art „post-heroisches“ Führungsverständnis konstatiert werden, wie es exemplarisch in der Konzeption eines „Plural Leadership“3Endres/Weibler 2019 zum Ausdruck gebracht wird und welches Alternativen zur führer-zentristischen „One-Man-Show“ aufzeigt. Vorsicht erscheint hier dennoch insofern geboten, als Rückfälle in heroische Führungsverständnisse niemals ausgeschlossen werden sollten – zumal mit den Protagonisten der CLS4bspw. Collinson 2011 davon auszugehen ist, dass auch und gerade in den Vereinigten Staaten das heroische Führungsverständnis anhaltend dominant ist. Die hier herrschende Fokussierung auf die charismatisch-transformationale Führung, zuletzt aber auch auf neuartige sog. ethisch-normative Führungstheorien (Ethische/Authentische/Dienende/Spirituelle Führung), die allesamt eine moralische Überlegenheit der Führenden gegenüber den Geführten zugrunde legen, könnte leichthin auch unsere „post-heroische“ Führungssicht unterminieren und eine Re-Heroisierung der Führung begründen. Anzeichen hierfür sind durchaus auszumachen, dies nicht zuletzt in dem für unsere (Nachkriegs-)Führungskultur doch recht ungewöhnlichen Kult um fast schon messianische Unternehmerpersönlichkeiten, so im Ersten der Hype um Steve Jobs, so im Weiteren jene um die „Celebrity CEOs“ und Multi-Milliardäre Jeff Bezos, Mark Zuckerberg – und derzeit allen voran: Elon Musk.
Feel-Good-Stories – Zum Harmonismus in der Führung
Harmonismus bezieht sich hier auf das Verhältnis von Erfolg und Ethik und besagt, dass Führungserfolg ohne Führungsethik letztlich (langfristig) unmöglich sei, derweil eine Führung, die unethisch agiere – also ein Bad Leadership – grundsätzlich immer zum Scheitern verurteilt sei. Eingedenk dessen wirft der kritische Führungsforscher Jeffrey Pfeffer (2015) dem Mainstream vor, vorrangig „Feel Good-Stories“ zu produzieren, die eine unbedingt positive Kausalität zwischen Erfolg und Ethik vorgaukeln, die in dieser Eindeutigkeit de facto nicht existiere. Pragmatisch wird dies, wenn wir an den üblicherweise propagierten Zusammenhang von Zufriedenheit und Leistung von Mitarbeitenden denken, der ja gemeinhin so vorgestellt wird, dass das Erste Voraussetzung für das Zweite sei5vgl. kritisch Kuhn/Weibler 2012, S. 24ff. – mehr Wertschätzung folglich höhere Wertschöpfung generiere6vgl. Frey et al. 2010 und „Happiness“ das Zukunftspotenzial von Unternehmen darstelle7vgl. Ruckriegel 2012. Dieses Narrativ der „Corporate Happiness“ wertet der CLS’ler David Collinson (2012) als eine Spielart des allgemein vorherrschenden „Prozac Leadership“ – wobei Prozac ein in den USA bekanntes und beruhigend wirkendes Psychopharmakon ist. Kurzum: Seine Analyse besagt, dass es in der Führungsforschung wie auch in der Führungslehre eine „Tyrannei des positiven Denkens“ gebe, die einerseits zwar naiv und weltfremd sei, es andererseits aber ermögliche, von „schwierigen Themen“ der Führung abzusehen, wie etwa Macht, Konflikte, Paradoxien, Dilemmata u. ä. m. Noch einen Schritt weiter geht die Kritik von Michael Mumford und Yitzhak Fried (2014), die den Leadership-Mainstream unter Ideologieverdacht stellen und dazu ausführen:
Ideologische Modelle haben das Kernkonzept der Führung, die Ausübung von Einfluss (…), so gestaltet, dass viele, potenziell ‚unattraktive‘ Führungsformen (z.B. Verhandlung, Koalitionsbildung, Disziplinierung der Geführten, Schaffung von In-Groups) ignoriert oder außer Acht gelassen werden.8Mumford/Fried 2014, S. 626
Diese Überlegungen verweisen erkennbar nun auf den ersten Aspekt der oben zitierten CLS-Definition, nämlich die Kritik, dass der Mainstream dazu neige, die Komplexität der Führungsprozesse zu unterschätzen bzw. sich vorzugsweise auf einfache und erfreuliche Botschaften zu kaprizieren. Wir teilen diese Kritik insofern, als wir in unserer Auseinandersetzung mit dem Realphänomen Bad Leadership9Kuhn/Weibler 2020 die vorherrschende (Harmonie-)These, wonach eine unethische Führung stets auch eine erfolglose Führung sein müsse, zurückgewiesen und stattdessen für ein komplexeres Denken im Sinne einer „Kontingenzthese“10s. kompakt Weibler 2023, S. 785ff. geworben haben. „Kontingent“ heißt in diesem Falle: Alle möglichen Kombinationen zwischen Ethik und Erfolg sind führungsrealistisch11s. konkret: Wood et al. 2021 – und damit eben auch eine höchst unethische Führung, die (dauerhaft) erfolgreich für den Führenden (wie auch für seine Entourage) verläuft.
Die Allgegenwart des Harmonismus innerhalb der Leadership-Forschung und -Lehre dürfte dabei vermutlich jedoch weniger darauf zurückzuführen sein, dass vor steigender Komplexität zurückgeschreckt wird, sondern eher darauf, dass man (aus hier nicht weiter bedachten Gründen) einer weithin unpolitischen Sicht der Dinge zugetan ist – Führung gleichsam als ein Prozess vorgestellt wird, bei dem im Grunde alle nur profitieren können. Dieses Win-Win-Win-Credo hat Werner Roth vor Jahren (1987) einmal treffend auf die Formel gebracht: „Mehr Zufriedenheit – höhere Leistung – größere Gewinne“. Insoweit, als diese Formel nicht selten wohl an den Realitäten der Führung vorbei geht, darf mit den Protagonisten der CLS gefordert werden, sich stärker als bislang üblich mit den interessenpolitischen Spannungen und Konflikten rund um den Führungsprozess zu befassen, in dessen Folge die Kategorien Macht und Moral als alternative Führungsgrundlagen kontrastierend zu erörtern wären und nicht zuletzt auch der Umgang mit „unschönen“, aber unvermeidlichen Güterabwägungen oder Dilemmata zum Kerngeschäft der Führung hinzuzuzählen wären.
Entweder so, oder so – Zum Dualismus in der Führung
„Überall taucht der Dualismus auf“12Harter 2006, S. 90 – so das Credo des dritten hier näher betrachteten Kritikpunktes der CLS am Leadership-Mainstream. Dualismen werden dabei synonym verstanden mit Dichotomien, Polaritäten und Binaritäten13vgl. Collinson 2014, S. 50, für die insgesamt festgestellt wird:
Diese dichotomisierende Tendenz ist in der Führungsforschung so weit verbreitet und tief verankert, dass sie einer weiteren Betrachtung wert ist.14Collinson 2014, S. 38
So abstrakt die Termini fürs Erste klingen, so konkret wird die Kritik, wenn man sich Beispiele für den Dualismus in der Führungstheorie vor Augen führt, die in der betriebswirtschaftlichen Aus- und Weiterbildung nahezu jedem irgendwann irgendwo begegnen – wie etwa: transformationale versus transaktionale Führung, Leadership versus Management, Führender versus Geführter, aufgabenorientierter versus mitarbeiterorientierter Führungsstil, Theorie X versus Theorie Y, intrinsische versus extrinsische Motivation, Motivatoren versus Hygienefaktoren, ethische versus unethische Führung – oder ganz generell: erfolgreiche versus erfolglose Führung. Und diese Liste ließe sich leicht fortschreiben. Die Fragen, die sich angesichts dieser tatsächlich ja sehr augenfälligen Tendenz zur Dichotomisierung stellen, lauten dabei: Ist alles wirklich immer so eindeutig 0 oder 1, gut oder schlecht, schwarz oder weiß? Gibt es nicht vielmehr unendliche Zwischenräume und Grautöne in der Praxis? Und wenn dem so wäre, würde das nicht schlicht bedeuten:
Dichotomisierung ist eine in der Führungstheorie und -forschung häufig verwendete Vereinfachungsstrategie.15Collinson 2014, S. 39
Und wenn Dualismen eine Simplifizierung der Führungsproblematik darstellen, dann folgt hieraus, dass sie eine Art Reflexionsstopp vergegenwärtigen, gemäß dem Motto: „Hier wollen wir jetzt nicht weiterdenken!“ Ein solcher Gedankenstopp hätte natürlich auch „positive“ Seiten, weil – ähnlich dem Harmonismus – eine duale Sicht der Dinge für Menschen immer bequemer ist als eine, die zur Auseinandersetzung mit Ambivalenzen und Ambiguitäten zwingt, die ihrerseits Gefühle von Unübersichtlichkeit, Chaos oder gar Anarchie auszulösen vermögen16vgl. Collinson 2014, S. 50.
Lassen wir diese Kritik wiederum vor dem Hintergrund eigener Arbeiten zur ethischen17Kuhn/Weibler 2012 wie auch zur unethischen Führung18Kuhn/Weibler 2020 Revue passieren, dann gilt es in der Tat einzuräumen, dass die Vorstellung, dass diese Führung hier eindeutig „ethisch“, derweil jene dort unzweifelhaft „unethisch“ sei, den Realitäten kaum gerecht zu werden vermag. Damit soll keineswegs einem ethischen Relativismus das Wort geredet werden, der uns bereits jenseits von Gut und Böse wähnt. Vieleher soll auf den Umstand rekurriert werden, dass Ethik regelmäßig kontrovers ist19Thielemann 2000, ethisch relevante Entscheidungen also kaum je konsensual verabschiedet werden können und auch ein nach allerbestem Wissen und Gewissen gefälltes Verdikt Widerspruch und Widerstand nach sich ziehen kann. Kurzum: Es liegt in der Natur der Sache, dass im Kontext einer (un-)ethischen Führung allzu oft Grautöne, Zwischenräume, Interpretationsmöglichkeiten und Wandlungen in der Zeit festzustellen sind. Entsprechend ist (zumindest) für diesen Themenkomplex ein glasklarer Dualismus – ethische versus unethische Führung – fehl am Platze und eine komplexere Sicht von Nöten, wie sie die Harvard-Professorin Barbara Kellerman202004, S. 38f mit Blick auf das Phänomen eines Bad Leadership exemplarisch wie folgt umriss:
Bad Leadership kann variieren und oszillieren, so etwa
- in Bezug auf die Intensität, d.h. manche Führer sind ethisch besehen sehr schlecht, andere vergleichsweise weniger,
- in Bezug auf die Bewertung, d.h. was manche für eine unethische Führung halten, kann anderen tatsächlich als eine ethische Führung erscheinen, sowie
- in Bezug auf den Zeitpunkt der Bewertung, d.h. was früher als ethische Führung angesehen wurde, kann später als zutiefst unethische Führung bewertet werden – und umgekehrt.
Wir sehen, die Dinge werden jenseits einer dualistischen Betrachtung deutlich schwieriger – was den Wunsch zur Herstellung einfacher „Wahrheiten“ vielleicht schon in sich trägt.
Fazit
Die meisten werden eingedenk des Umfangs mancher Führungslehrbücher oder der Themenvielfalt mancher Führungsseminare sicher die Kritik zurückweisen, dass die Leadership-Forschung und -Lehre unterkomplex sei – und dennoch dem Argument folgen, dass die allenthalben vorherrschenden Dualismen in aller Regel nichts anderes als Simplifizierungen von komplexeren Sachverhalten darstellen. Und natürlich pflichten wir alle „irgendwie“ der harmonischen Sichtweise bei, dass eine unethische Führung (bzw. das, was wir hierfür halten) auf Dauer keinesfalls erfolgreich sein kann (oder: darf?) – um abends in den Tagesthemen zu vernehmen, dass wieder einmal ein „Bad Leader“ in höchste Ämter gewählt bzw. dort zum wiederholten Mal bestätigt wurde (sofern sie sich überhaupt noch freien Wahlen stellen müssen). Und natürlich ist es für uns eine Selbstverständlichkeit, dass Führung weit mehr ist als nur „der Führende“ – um dennoch nach dem „starken Mann“ zu rufen, wenn die Probleme auszuufern drohen. So gesehen können wir die Kritiken der Critical Leadership Studies am Mainstream der Führungsforschung und -lehre heute als unbegründet zurückweisen, und morgen vielleicht doch deren Berechtigung einzuräumen. Im Alltäglichen heißt dies, dass wir immer dann, wenn Erfolge romantisierend auf das Charisma und Genie eines Unternehmers oder Top-Managers zurückgeführt werden, wenn harmonisierend behauptet wird, dass auf dieser Welt nur der erfolgreich sein könne, der stets mit einem gut justierten moralischen Kompass navigiert, oder wenn dualistisch behauptet wird, dass immer eindeutig zwischen richtig und falsch zu unterscheiden sei – dass es dann womöglich nicht schaden kann, sich der vorgestellten Kritiken zu entsinnen resp. sich kurz zu fragen: „Ist das nicht etwas zu einfach bzw. zu weltfremd gedacht?“