Charisma ist ein Faszinosum. Viele suchen es, möchten es gar besitzen, aber es bleibt ein rarer Zustand der Verbundenheit vom Menschen. Im nachfolgenden Beitrag werden wir den evolutionären Grundlagen von Charisma nachspüren und dabei zumindest erkennen können, welcher Voraussetzungen es bedarf, um sie entstehen zu lassen.

Jehyun Sung

Charisma, gerne auch als ein Magnetismus beschrieben, der andere Menschen anzieht, ist definitionsgemäß selten. Eine außerordentliche, herausragende Beziehung zu einer anderen Person einzugehen, weil diese Person so heraussticht, unterscheidet diese Beziehung spürbar von anderen, durchaus auch guten Beziehungen. Dann natürlich die Willigkeit, dieser Person mit Freude zu folgen und wie in Organisationen eine Zielerreichung „beyond expectations“ anzustreben. Kann man sich eine solche Beziehung daraus erklären, dass sie für die Überlebensfähigkeit des Menschen einen besonderen Vorteil generierte? Leadership Insiders wirft einen Blick auf die evolutionäre Bedeutung.

Charismatische Führung

Die charismatische Führung gilt gemeinhin im engen Sinne als der erfolgversprechendsteüberhaupt, weil sie mit einem „Motivationssyndrom“ bei den Geführten einhergeht, das sich in weit überdurchschnittlicher Leistungsbereitschaft, Aufopferungsbereitschaft, Hingabe, sowie einem harmonisch-konfliktfreien Miteinander zwischen Führenden und Geführtem bzw. innerhalb der Geführtengruppe ausdrückt. Empirisch ist dies belegt (vgl. dazu Weibler 2023). Im Grunde wird damit ein nahezu umfassender Zugriff des Führenden auf das Verhalten der Geführten in Aussicht gestellt. Das ist der besondere Charme (und aus anderer Sicht die Gefahr) der charismatischen Führung.

Das Problem: Eine charismatische Führungsbeziehung entsteht nicht durch ein entsprechendes Wollen seitens der Führungswilligen, sondern durch eine Zuschreibung von Charisma seitens der Geführten. Sie müssen also bei ihren Bedürfnissen und Befindlichkeiten abgeholt werden, um den Funken des Charismas zu entzünden. Dies ist dort, wo sich eine bedrohliche Situation für die Geführten offenbart, besonders gegeben. Damit ist bereits die Beziehung zu Überlebensfähigkeit von Gemeinschaften vorgespurt, da Krisen und Ähnliches dies tangieren.

Evolutionäre Führung

Die evolutionäre Führung ist ein Teilgebiet der Führungslehre. Man darf sagen, dass es ein Besonderes ist, da es wie kein zweites die Entstehung und Entwicklung von Führung vom Ursprung her versucht zu fassen. Ausgangspunkt ist die Frage, welche selektive Mechanismen unter welchen Bedingungen dazu beigetragen haben, dass bestimmten Menschen eine besondere Verantwortung für das Wohl und Wehe von Gemeinschaften zuerkannt wird, in welcher Form sich das abspielt und wann diese Zuerkennung wieder entzogen wird. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die hohe Funktionalität damaliger Merkmale bis heute unsere Entscheidungen mit beeinflusst, obschon die Kontinuität der Funktionalität nicht gesichert sein muss und vielfach auch nicht ist.

Ein Forscherteam um Allen Grabo, selbst beheimatet an der Universität Amsterdam, sieht die Entstehung von Charisma am besten durch ein Wechselspiel erklärt, dass folgende Faktoren kennt: sich evolutionär entwickelnde Mechanismen des Folgens, kontextuelle Begebenheiten, physische und soziale Hinweise, die auf potenziell führungsstarke Persönlichkeiten schließen lassen und dem aktiven Signalisieren von außerordentlichen Fähigkeiten durch Führungsaspiranten. Als Hauptaufgabe wird die Koordination von Gruppenaktivitäten gesehen, um das Wohlergehen der Gruppe durch beispielsweise verbesserte Nahrung zu steigern, innere Konflikte zu schlichten und/oder sie vor feindlichen Bedrohungen zu schützen. Da das Führungspotenzial nicht direkt beobachtet werden kann, ist hier eine Einschätzung anzunehmen, die zunächst auf der Wahrnehmung der Umwelt basiert, beispielsweise Krieg, Frieden, Stabilität oder Wandel, da eine Umweltlage wiederum die Art und Weise der verlangten Koordinationsqualität bestimmt. Die wahrgenommene Eignung wird evolutionär durch physische (Größe, Attraktivität, Gesichtsausdruck) wie soziale (Reputation, Größe des eigenen Netzwerks, im Besonderen die Größe der Verwandtschaftsbeziehungen, die Fähigkeit, eigene Stärken zu signalisieren) Hinweisreize beeinflusst. Diese kann man zu Vergleichszwecken in einem Leadership-Index zusammenfassen. Klar ist im Übrigen damit, dass es weder ein einzelnes Führungsgen gibt, das Führungsfähigkeiten impliziert, noch dass es eine Konstellation von festgefügten Eigenschaften ist, die darauf hinausläuft. Dass Dispositionen unerheblich sind, beispielsweise in Form kontextspezifischer interindividueller Genvariationen (Allele), ist damit wiederum auch nicht gesagt.

Nehmen wir einmal das Beispiel einer kriegerischen Bedrohung. Dort wird dann nach einer Person Ausschau gehalten, die körperlich in der Lage ist, sich im Kampf zu bewähren. Hinweise für körperliche Kraft sind die Größe, dann die Schädelform, ein ausgeprägtes Kinn und eine breite Nase. Diese werden nämlich teilweise durch das Testosteron-Level beeinflusst, was wiederum für eine höhere Aggressivität und Gewaltbereitschaft steht. Dort, wo körperliche Kämpfe ausgetragen wurden, sicherlich von Bedeutung. In Friedenszeiten dürften Führungsaspiranten mehr Erfolg haben, die signalisierten, dass sie die Dringlichkeit und die Bedeutung einer intensiven Kooperation für den Gruppenerfolg erkennen und selbige meistern können. Dort, wo Wandel angesagt ist, hatten vermutlich jüngere Führungsaspiranten eine größere Wahrscheinlichkeit, als charismatisch wahrgenommen und akzeptiert zu werden, da sie bereit sind, ein größeres Risiko im Vergleich zu älteren einzugehen und offener für neue Ideen sind.

Aber auch die physische Attraktivität erleichtert eine Charisma-Zuschreibung. Gemeinhin wird die Symmetrie des Gesichts mit physischer Attraktivität am ehesten verbunden. Evolutionär signalisierte physische Attraktivität eine hohe genetische Qualität, Gesundheitsstand und soziale Fähigkeiten. Schon Kinder fixieren attraktive Menschengesichter länger. Es existieren Indizien dafür, dass in einer Umgebung, in denen Krankheiten weitverbreitet sind, der physischen Attraktivität noch mehr Gewicht beigemessen wurde. Der stärkste Zusammenhang zwischen physischer Attraktivität und Charisma besteht dort, wo keine weiteren Informationen über die betreffenden Personen vorliegen, was umgekehrt heißt, dass spezifische Informationen zur Person, die der Problemlösung dienen, der Vorzug gegeben wird: Suche ich den schnellsten Läufer, wähle ich den, der die schnellste Zeit läuft, und nicht den, der am attraktivsten ist.

Charisma-Zuschreibung: Eine vergängliche Signalisierung einer Problemlösung

Bereits der deutsche Soziologe und Jurist Max Weber, dem wir die besondere Aufmerksamkeit in der politischen Theorie und in der Führungslehre für Charisma ursprünglich verdanken, hat darauf hingewiesen, dass Charisma des Erfolgs bedarf. Charisma ist in dem Sinne eine zuerkannte bzw. geliehene emotionale Bindung an eine Person aufgrund prinzipiell rationalisierbarer Erwartungen, die in einer schwierigen, bedeutsamen Situation die beste Problemlösung verspricht. Diese Erwartungen können durch geschickte Signalgebungen provoziert werden, wozu auch die kommunizierbare Bereitschaft gehört, besondere Lasten zur Übernahme der Führungsposition zu tragen. So ist es beispielsweise für indische Führende im politischen Bereich gang und gäbe, das Freisein von familiären Bindungen zu betonen, da familiäre Bindungen dort mit Korruption verbunden werden. Auch ist es förderlich, eine geringe Stundenzahl an Schlaf anzugeben, denn wer schläft, so die dortige Auffassung, kann nicht für die Gemeinschaft arbeiten.

Deutlich wird gerade nach der Auseinandersetzung mit evolutionären Erkenntnissen zur Führung wieder einmal, dass Führung ursprünglich mit einem Problemversprechen und anhaltende Führung mit einer Problemlösung für die Gruppe (Gemeinschaft) verbunden war und dass sich erst durch die Hierarchisierung von Lebensverhältnissen Führende erlauben konnten, sich davon zu entfernen, solange ideologische Rechtfertigungen, die akzeptiert wurden, oder Machtmittel zu Sicherung der Führungsposition bestanden – dies natürlich nur so lange, bis die Kosten des Geführtseins zu hoch wurden oder Alternativen bereitstanden. Prinzipiell hat sich bis heute daran nichts geändert, allein dass wir je nach Gesellschaftstyp mehr formale/mediale Mechanismen besitzen, unsere Unzufriedenheit auszudrücken und entsprechend zu agieren (z. B. Wahl).

Eine charismatische Führungsbeziehung ist eine Ausnahme und wird es bleiben. Aber eine gelingende Führung ist nicht von einer Charisma-Zuschreibung abhängig, wie ich gezeigt habe (2023, z. B. 675ff.) – glücklicherweise für uns alle.

Grabo, A. / Spisak, B.R. / van Vugt, M. (2017): Charisma as signal: An evolutionary perspective on charismatic leadership. In: Leadership Quarterly, 28, 473-485

Weibler, J. (2023): Personalführung, 4. Auflage, München