Vorbemerkung: Dieser Abriss basiert, oftmals wortwörtlich, aber mit größeren Auslassungen, auf Ausarbeitungen meines Werkes „Personalführung“ (3. Auflage 2016, Vahlen Verlag, München). Dort finden sich auch die Angaben zur hier verwendeten Literatur. Diese Teile sind im Gegensatz zu vielen anderen nicht immer leicht für Führungspraktiker zugänglich und bedürfen einer ruhigeren Phase des Lesens. Das gelegentliche Nachlesen von Hintergründen oder von Originalliteratur erleichtert wie immer das Verständnis. Dennoch bringe ich auch bei Leadership Insiders immer wieder einmal solche Reflexionen, weil am Ende des Tages mehr Erkenntnis und Gewissheit aus dieser eigenen Anstrengung erwächst als aus der 333. Anleitung zum Führungserfolg in 55 Minuten. Wo bekommen Führungskräfte auch sonst die Chance, auf vergleichsweise wenig Raum ihren kritischen Verstand in einem eng begrenzten Zeitraum zu schulen? Das wagt ja kaum noch jemand (stattdessen immer, Executive Summaries, Elevator Pitches und Point-to-Point Responses.). Hat alles eine Berechtigung (auch ich arbeite damit), aber alles ist das nicht, oder?

Fangen wir also an:

Sergey Nivens / Shutterstock

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Das Studium der Menschheitsgeschichte ist immer auch ein Studium der in ihr hervorgetretenen Führungsgestalten gewesen (Bass/Bass 2008). Damit fing alles an. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts begann die wissenschaftliche Analyse dazu, zunächst zu den Eigenschaften der Führenden, dann zu ihrem Verhalten, ggf. situationsspezifisch, dann zu der Interaktion von Führenden und Geführten, dann zu den Geführten selbst und gerade jetzt zur Bedeutung des Kontexts auf das Führungsgeschehen. Natürlich verlief dies nicht so linear und überschneidungsfrei, aber die Richtung stimmt.

Oswald Neuberger, ein inzwischen emeritierter Kollege, gab bereits vor längerer Zeit eine unverändert gültige bildhafte Zustandsbeschreibung zur Güte dieser Forschung (1995a, S. 2f.):

Will man sich auf dem Gebiet der Führung orientieren, so trifft man auf unübersichtliches Gelände: Es gibt beeindruckende Pracht-Straßen, die aber ins Nichts führen, kleine Schleichwege zu faszinierenden Aussichtspunkten, Nebellöcher und sumpfige Stellen. Auf der Landkarte der Führung finden sich auch eine ganze Reihe Potemkinscher Dörfer, uneinnehmbarer Festungen oder wild wuchernder Slums.

So ist es nun an uns, metaphorisch gesprochen, die Landkarte der Führung lesen zu lernen. Dies ist kein leichtes Unterfangen, wurde doch der Umfang der in der Führungsliteratur dokumentierten Studien im ausgehenden letzten Jahrhundert allein im englischsprachigen Raum auf über 10.000 geschätzt (vgl. Hunt 1991). Natürlich hat sich diese Zahl zwischenzeitlich deutlich erhöht. Der Führungsforscher Dennis Tourish (2014a) hat mit Stand November 2014 allein 96.017 bei Amazon gelistete Bücher ausgewiesen, die „Leadership“ in ihrem Titel tragen. Dem stehen im Übrigen nur 253 Bücher mit dem Ausweis „Follower“ gegenüber. Geschrieben wird also auf allen Ebenen zumindest viel über das Thema – und hier sind die Berichte der einflussreichen Medien noch außen vor. Das und Weiteres (z.B. die Arbeit von Beratungen) lässt so manchen mit kritischem Unterton von einer Leadershipindustrie sprechen (Alvesson/Spicer 2014).

Es ist angesichts dieser Materialfülle ohne Weiteres nachvollziehbar, dass kein konsistentes Bild innerhalb der selbstverständlich vorliegenden Systematisierungsversuche zu zeichnen ist (vgl. Goethals/Sorenson 2006). Dies liegt nicht zuletzt daran, dass Führung bis heute mit einer Fülle von Bedeutungsinhalten belegt ist oder oftmals sogar unbeschrieben bleibt, wenn sich auf sie bezogen wird (und sie dadurch möglicherweise erst zu einer verbindenden Projektionsfläche wird). So wird der Beitrag der Führungsforschung oder ihrer einzelnen Stränge zur Erhellung des Führungsphänomens wenig überraschend unterschiedlich bewertet (vgl. neben vielen anderen z.B. Endres/Weibler 2016; Anderson/Sun 2015a; Carter u.a. 2015; Dinh/Lord/Gardner u.a. 2014).

Nun, es sind nicht nur die verschiedensten Führungsphänomene, die zur Heterogenität beitragen. Denn es ist klar, dass die sehr wichtige Frage nach den evolutionsbiologischen Ursachen der Führung, wo es um die Entstehung wie die Form der Führung geht (individuell vs. kollektiv), etwas anderes hervorbringt als die nach dem Einfluss des nächsthöheren Vorgesetzten auf die Führungsbeziehung oder die nach der Entwicklung einer Führungsbeziehung im Zeitablauf. Oder gar die nach dem Controlling des Führungserfolgs. Ebenso ergeben sich differierende Blickwinkel, wenn Einzelpersonen, Gruppen oder Organisationen als Ganzes betrachtet werden. Aber so ist nun mal die Realität der Führung: Vielfältig und nicht selten komplex.

HammerVielmehr sind es auch die unterschiedlichen Paradigmen in der Forschung, die den Blick entscheidend lenken. Ein wissenschaftliches Paradigma ist hiernach (vgl. z.B. Diaz-Bone 2015, S. 304f.) ein allgemeiner Begriff für die implizite oder explizite Weltsicht oder die zentralen Annahmen sowie theoretischen Leitsätze, die von einer Wissenschaftsgemeinde geteilt werden. Ludwik Fleck (1980 [1935] ) nutzte hierfür den einfacheren Begriff des Denkstils, der alles andere nach sich zieht. Dies spiegelt sich konkret in der Anwendung spezifischer Praktiken der Erkenntnisgewinnung wider. Und nur aus dem, was ich beobachte, kann ich meine Empfehlungen heraus formulieren.

Sie kennen vielleicht das bekannte Beispiel des österreichisch-amerikanischen Kommunikationspsychologen (und mehr) Paul Watzlawick. Wer einen Hammer hat (das wäre das Paradigma), sucht immer nach Nägeln (das wären Anwendungsfelder) bzw. sieht in jedem Problem einen Nagel, den er versenken kann (das wären die immer gleichen Ergebnisse). Wo sich keine Nägel finden, existiert nichts. Und dass man auch schrauben kann, um eine andere Art der Befestigung mit anderen Belastungskennziffern zu erreichen, bleibt unbekannt. Wenn der Hammer bifunktional ist, kann man zumindest einen Nagel, der nicht ganz versenkt ist, wieder herausziehen. Damit hat man sein Repertoire immerhin um 100% erhöht. Aber wer sägen, bohren und fräsen kann, sieht in Sekundenschnelle andere Betätigungsfelder, Probleme oder Problemlösungshilfen.

Nun aber zu den Paradigmen in der Führungsforschung. Ein nützlicher Zugang zu den Paradigmen ist eine Dreiteilung. Danach wird ein funktionalistisches, interpretatives und kritisches Paradigma unterschieden.

Die funktionalistische Herangehensweise basiert auf der Annahme, dass Führung die Funktion hat, Organisationsprozesse zu verbessern. Ziel sind in der mehrheitlich praktizierten Umsetzung universelle Aussagen, die eine Gültigkeit unabhängig von Raum und Zeit haben (wohlwissend, dass dies im Sozialen nur eine Annäherung sein kann). Idealerweise werden vorab Theorien gebildet, die an der als objektiv erfahrbar gesehenen Wirklichkeit überprüft werden. Eine führerzentrierte Sichtweise dominiert, ebenso das Bemühen, Ergebnisse, die mit Führung verbunden werden, auszuweisen. In der Führung manifestieren sich diese Vorstellungen beispielhaft in der Eigenschaftstheorie der Führung, den Führungsstilansätzen oder der variablenbezogenen Situationsanalyse für Führungsbeziehungen. Dass es eine Beziehung zwischen den Akteuren gibt, wird vorausgesetzt  (vgl. beispielsweise klassisch Fiedler 1967).

Die interpretative Herangehensweise basiert auf der Annahme, dass Führung zwischen Individuen erst konstruiert wird. Damit ist sie nicht von außen ohne vertiefenden Einblick in das Geschehen zu begreifen. Vielmehr wird sie durch die Beziehungen der Akteure zueinander und deren vor allem kommunikativen Prozesse erst mit Leben erfüllt. Führung versteht sich relational, was den isoliert denkenden und nur aus sich heraus Handelnden als Fiktion entlarvt (vgl. Endres/Weibler 2016). Somit ist dieser Prozess der Beziehungsbildung von besonderem Interesse (empirisch interessanterweise weniger das Scheitern oder ihr Bruch). Wirklichkeit, so wie sie von den Akteuren gesehen und empfunden wird, ist in dem Sinne real; sie ist insofern aber doch sozial konstruiert, als sich Wirklichkeitsauffassungen zwischen Personen unterscheiden und fortlaufend in ihrer Gestaltung vor Ort im Fluss sind. Dabei wird unter anderem die Fragmentierung des Manageralltags gesehen (vgl. Tengblad 2012; Mintzberg 1975) und Führung hierzu in Bezug gesetzt. Insbesondere ist jedoch offen, welche Rollen später dann Führende und Geführte spielen oder welche Wirkungen, auch negative, Führung in Organisationen besitzt. Führung ist damit prinzipiell vielgestaltig (vgl. z.B. die in sich z.T. sehr unterschiedlichen Ansätze von Fairhurst/Grant 2010; Holmberg/Tyrstrup 2010; Carroll/Levy/Richmond 2008; Drath u.a. 2008; Hosking 2007; Wood 2005). Übergänge bestehen nichtsdestoweniger zum funktionalistischen Paradigma, vor allem aber auch zum nachstehend geschilderten kritischen.

Die kritische Herangehensweise basiert auf der Annahme, dass Führung sich in keiner sterilen, klinischen Atmosphäre abspielt oder entwickelt. Stattdessen weiß sich Führung in aller Regel einseitigen Interessen verpflichtet, spielt sich eben nicht zwischen macht- und ggf. wissensbezogenen Gleichrangigen ab und ist im Verbund mit anderen organisationalen Vorkehrungen (z.B. getakteten Strukturen, prekären Arbeitsverhältnissen) ein Instrument der rigiden Verhaltensformung über gesichtslose Geführte und damit der Dominanz über Abhängige. Gefragt wird beispielsweise, wer überhaupt mit welchem Recht Anforderungen an die Führung definiere. Diese kritische Herangehensweise (vgl. übergreifend zu den Critical Management Studies illustrativ Blom/Alvesson 2015a, S. 413ff.) ist u.a. inspiriert von der Labour-Process Debatte (vgl. früh Braverman 1974) und dem Poststrukturalismus (zur Übersicht Münker/Roesler 2012). Wesentliche Treiber einer Leadershipindustrie seien daran interessiert, zu zeigen, mit welcher Grandiosität heute Verantwortliche ihre Führungsaufgabe wahrnehmen (z.B. sichtbar an der Heraushebung von CEOs). Andere Formen der Koordination von Aktivitäten in Organisationen würden nicht oder weniger beachtet, die dunkle Seite der Führung untergewichtet, ebenso ihre immer noch stereotyp maskuline Zurschaustellung (vgl. z.B. Brown u.a. 2015; Tourish 2015; Crevani/Lindgren/Packendorff 2010; Collinson 2005a; Grint 2005a). In diesem kritischen Zugriff werden funktionale wie teilweise interpretative Paradigmen beidseitig hinterfragt, sei es, wegen ihrer Ideologie oder ihrer Methoden, sei es wegen ihrer (angeblichen) Naivität.

Halten wir fest: In den gewählten Zuordnungen werden paradigmatische Unterschiede, die die Führungsforschung prägen, sehr deutlich. Nimmt man die jeweiligen Perspektiven für sich, wissen wir zwar genauer, worauf wir zu schauen haben. Absolutieren wir sie, verschließen wir damit jeweils wesentliche Bereiche der Führungsrealität.