Führende sollten die Zukunft im Blick haben. Zukunft heißt irgendwann immer Wandel. Also ist Wandel prinzipiell eine Führungsaufgabe. Eine ganze Führungsindustrie hat sich darüber entwickelt: Unternehmensberater, Organisationsentwicklerinnen, Seminaranbieter, Coaches, Verlage und Hochschulen – sie alle befeuert durch Medien, die ihrerseits davon profitieren. Leadership Insiders zeigt, warum diese berechtigte Fokussierung auf Wandel (Change) Transformationsprojekte in Organisationen eher schwächen denn stärken kann und was in diesem Fall zu tun ist.
Wandel (Change) als Dauerthema
Ein Blick in die Bücherkategorie von Amazon offenbart es sofort: Wandel (Change) ist ein Megathema. Mehr als 20.000 Werke werden ausgewiesen, alles wird durchdrungen: Der Journalist und Physiker Ranga Yogeshwar erzählt in „Nächste Ausfahrt Zukunft“ Geschichten aus einer Welt im Wandel, ein Unternehmensberater verspricht, zu zeigen, „Wie Wandel gelingen kann“ und andere meinen, ein „Change Leadership“ entworfen zu haben.
In der Weiterbildung sieht es noch gedrängter aus. Rund 3.360.000 Treffer liefert die Suchmaschine für die Kombination „Weiterbildung Wandel Management“ und immerhin 444.000 in Kombination mit „Veränderung“. Darunter viele Hochschulangebote und Seminare, aber eben auch Stichworte und Abhandlungen.
Dauerthemen haben es aber nun einmal so an sich, dass die Zielgruppe mit der Zeit bei inflationärem Gebrauch der Thematik und seiner Begrifflichkeiten zunehmend abstumpft, selbst wenn das Phänomen an sich weiterhin Aufmerksamkeit verdiente. Es veralltäglicht, wird unspezifisch, damit irgendwie allgemein und letztlich – Standard. Fatal für die Sache, denn, wie eine gerade gehypte soziologische Zeitgeiststudie wieder einmal herausarbeitet, emotionalisiert nur das Besondere in unserer „Gesellschaft der Singularitäten“.
Das Allgemeine und das Besondere
Der Soziologe und Kulturwissenschaftler Andreas Reckwitz hat in seinem Werk „Gesellschaft der Singularitäten“ (2017) aus seiner Sicht einen Strukturwandel der Moderne aufgezeichnet, wonach unsere Gesellschaft nach rund 250 Jahre Moderne nun in der Spätmoderne angekommen ist. Sein Kernsatz zur Charakterisierung unserer Gesellschaft steht gleich zu Beginn seines Buches:
„Wohin wir auch schauen in der Gesellschaft der Gegenwart: Was immer mehr erwartet wird, ist nicht das Allgemeine, sondern das Besondere.“
Dies meint, dass unsere gesamte gesellschaftliche Entwicklung die Logik des Allgemeinen zwar kennt und nach wie vor benötigt, dass aber die Logik des Besonderen, die das Einzigartige verehrt – also das, was nicht austauschbar und nicht vergleichbar ist – im Eigentlichen hervorhebt und bevorzugt. Und hiervon ist praktisch jeder Lebensbereich betroffen: Ökonomie, Arbeitswelt, Lebensstile, Kultur, Politik.
Konkret benennt er fünf Einheiten des Sozialen, die alle Gegenstand von Prozessen der Singularisierung werden können:
- Objekte (Kunstwerke, Kleidungstücke, Maschinen, Gärten, die Alpen…).
- Subjekte (Menschen/Personen)
- Räumlichkeiten als „Orte“ (Städte, Straßen, Herrschaftsanlagen, Büros…)
- Zeitlichkeiten als Ereignisse, Events, Projekte (Olympische Spiele, Festival, Agenda 2010…)
- Kollektive (Nationen, Organisationen, Teams…)
Singularität entsteht allerdings nur dann, wenn das Objekt, das Subjekt, die Räumlichkeit usw. Eigenkomplexität und Dichte in den Augen des Betrachters besitzt. Zweck ja, aber das reicht nicht. Vielmehr geht es beispielsweise um eine besondere Form der Kommunikation, die dadurch ermöglicht wird, oder um eine Geschichte, die damit verbunden ist, und vor allem um eine intensive Emotion, die damit einhergeht (Paris als Stadt in der Menschen wohnen, eben wie in Rosenheim, vs. Paris als „Stadt der Revolution“ oder der „Liebe“). Nur dann ist eine solche „Einheit des Sozialen“ unverwechselbar, wird ihr der Charakter des Besonderen und damit des Authentischen wie Werthaltigem zugestanden. Dass in diesem Wettbewerb um Aufmerksamkeit erst Ungleichheiten, dann Ungerechtigkeiten („the winner takes it all“) entstehen, ist naheliegend wie richtig.
Organisation und Arbeit als mögliche Singularitätserfahrung
Die Suche nach dem Besonderen macht auch vor der Organisation und der Arbeit nicht halt. Prinzipiell gelten auch hier dieselben Mechanismen. Das heißt, dass beides nur dann als besonders erlebt wird, wenn entsprechende Zuweisungen von emotionsgebender Authentizität und Werthaltigkeit vorliegen. Eine Organisation ist in diesem Sinne singulär, wenn sie faszinierende Autos baut (und nicht nur Fortbewegungsmittel), Frauen oder Männer aufregend einkleidet, oder das Wissen der Welt in demokratischer Utopie allen verfügbar machen möchte. Und was wäre eine Singularisierung innerhalb der Arbeitswelt (Reckwitz, S. 182)? Auf alle Fälle eine Abkehr von standardisierter Güterproduktion des immer Gleichen,
„eine Umstrukturierung der Arbeitsverhältnisse, in der eine für die moderne Berufswelt ungewöhnliche Orientierung an Einzigartigkeit prägend wirkt“.
Verbunden damit ist die Arbeit an Singularitäten, also das kreative Erschaffen von kulturell aufgewerteten Gütern und Dienstleistungen in flexiblen (Projekt-)Strukturen, die von Personen („Arbeitssubjekte“) mit einem einzigartigen Profil aus Kompetenz und Potenzial erdacht werden.
Diese Anforderung an die Personen kann man anschaulich im Rahmen der Personalauswahl erkennen: So reicht es eben heute für einen Bewerber, der nicht austauschbar sein möchte, schlicht nicht mehr aus, einen fachlich hinreichenden Lebenslauf vorweisen zu können. Nein, dieser Lebenslauf muss im Vergleich zu anderen hervorstechen. Während das Besondere vor 15 Jahren beispielsweise noch ein Praktikum im Ausland gewesen ist, muss dieser Auslandsaufenthalt heute etwas Besonderes in sich tragen.
Was kann das sein? Pointiert gesprochen bspw. die Vertiefung des Logistikschwerpunktes im Studium in Form eines Praktikums bei einer renommierten oder smarten Ausrüsterfirma anlässlich der Vorbereitung auf die Rallye Paris-Dakar. Besser noch, beim Ereignis selbst begleitend dabei sein! Gut, das digitale Logistikzentrum des Hamburger Hafens wäre auch noch klar auf der Habenseite, aber die informationsgestützte Optimierung von Touren beim Spediteur vor Ort erbrächte allenfalls noch einen Punkt für das Erreichen eines formalen Kriteriums, auch wenn prozentual mehr Personen ihren späteren Job hier oder vergleichbar finden werden. Das Besondere ist so gesehen immer auch relativ.
Sicher gibt es Organisationen, die als singulär wahrgenommen werden, und in denen die Arbeitsverhältnisse typischerweise auch diesen Anforderungen entsprechen und in denen Personen arbeiten, die im Großen und Ganzen gegenüber ihrer Vergleichsgruppe hervorstechen. Ein Charme der Theorie der Singularität liegt nun darin, dass nicht alles zusammenkommen muss, sondern dass, bleiben wir innerhalb der Organisation, dort einzelne Räume, Personen, Ereignisse, Produkte oder Teams existieren können, die als besonders wahrgenommen werden und damit emotional beeindrucken. Diese Überlegung bringt uns zurück zum Transformationsprojekt.
Transformationsprojekte benötigen Energie
Nützlichkeit, Sachlichkeit, Funktionalität und formalisierte Standards zeichnen das Allgemeine aus. Ein Affektcharakter kommt ihnen wie gesagt nicht zu. Organisationen benötigen aber neben aller Routine immer wieder energiegebende Affekte, um Sachen ans Laufen zu bringen oder so zu halten. Dazu gehört typischerweise auch ein Transformationsprojekt.
Ergo: Das Besondere ist auch in Organisationen und ihren Transformationen gefragt.
Transformation der Organisation oder Transformation in Organisationen muss also als etwas Besonderes wahrgenommen werden, wenn es ansprechen und nicht nur gelangweilt zur Kenntnis genommen werden soll. Sie darf also nicht als eine Variante des immer Gleichen daherkommen. Und diese Besonderheit ist nach Möglichkeit von allen jenen zu empfinden, die an dieser Transformation mitarbeiten. Damit sind natürlich zuallererst die Mitarbeiter gemeint, die jede Transformation, das Veränderte, ja umzusetzen haben (z.B. in Prozessen, in der Kommunikation, gegenüber dem Kunden). Das geplant Neue bleibt hingegen merkwürdig kalt und belanglos, und damit ohne Energie, wenn es nicht gelingt, ein emotional aufgewertetes Erlebnis daraus zu machen. Und dies misslingt leider bei den allermeisten Transformationsprojekten, die wohl auch deshalb selten als Erfolgsgeschichte erscheinen (geradezu prototypisch: Mergers & Acquisitions).
Wo das Besondere fehlt, droht mitarbeiterseitig Rückzug, teilnahmslose Akzeptanz, möglicherweise sogar Widerstand, der als Folge des „Genervtseins“, des Machtverlustes oder der begründet anderen Sachauffassung eine Emotion ganz anderer Natur hervorruft.
Nimmt man dies ernst, verlagert sich der Blick auf die Frage, wie ein beabsichtigter Wandel den Charakter des Besonderen erhalten kann. Mit Blick auf die Einheiten des Sozialen handelt es sich um ein Ereignis. Dies sollte man zunächst verstehen, denn ein „Ereignis“ hat eine andere Erlebnisqualität als eine „Aufgabe“.
Also ist eine Transformation wie ein Ereignis zu behandeln. Ein Ereignis hat einen Vorlauf, einen Anfangspunkt, eine Phase, die den Kern des Ereignisses ausmacht, und einen definierten Schluss. Ein Ereignis ist eine Komposition, die gelingen oder misslingen kann.
Grundsätzlich kann an drei Ebenen angesetzt werden, um Transformationen den Charakter des Besonderen zu geben:
Die erste Ebene ist die Bedeutung des Ereignisses selbst (unverwechselbare Story). Die zweite Ebene ist die Person, die das Ereignis offensichtlich choreografiert (eine hervorstechende Führungsfigur). Die dritte Ebene ist die Gemeinschaft, die das Ereignis für sich zum Ereignis macht (spannende Teamplayer, je nach Größe und Kultur mit temporären Teilführerschaften). Das Besondere verlangt, die konkrete Ausformung dem vorherrschenden Standard entsprechend hervorhebend auszugestalten.
Nur im günstigen Fall darf davon ausgegangen werden, dass alle drei Ebenen gleichermaßen „besonders“ ausgestaltet sind. Zwingend ist die dritte Ebene, sprich: die Mitarbeitenden müssen die Besonderheit in jedem Falle empfinden, um sich mit für sie guten Gründen am Transformationsprozess zu beteiligen. Die zweite Ebene ist hingegen die, über die am meisten geschrieben, die aber gleichzeitig am seltensten eingelöst wird. Warum ist klar, auch wenn dies nicht alle gerne hören: Hervortretende Führungsfiguren sind definitionsgemäß selten, gute Storys gibt es satt. Schon der deutsche Soziologe Max Weber hatte vor rund 100 Jahren treffend festgestellt, dass derartige Persönlichkeiten rar sein müssen, denn wären sie es nicht, gäbe es auch kein mit ihrer Person verbundenes Faszinosum. Als eine zwar herausfordernde, aber durchaus machbare Art der Führung ist eine transformationale Führung, die nicht so spektakulär, aber effektiv ist, ein Mittel der Wahl.
Permanenter Wandel: rationaler Kurzschluss mit Verlust des Besonderen
Entgegen der vorherrschenden Auffassung, eine Transformation als eine gewisse Regelhaftigkeit in Organisationen zu begreifen („permanenter Wandel“), kommt man meiner Ansicht nach mit der Singularitätstheorie zu dem Schluss, eine Transformation gerade nicht als Normalfall zu propagieren, möchte man sich nicht aller Möglichkeiten berauben, Führungskräfte wie Mitarbeiter mit auf die Reise zu nehmen. Das Normale ist das Allgemeine und daher wenig anziehend. Wichtige Projekte sind deshalb im Kleinen wie im Großen so zu kommunizieren, dass sie jeweils, greifen wir nicht zu hoch, zumindest etwas Besonderes verkörpern. Und wichtig: Gemeint ist nicht zuallererst „besonders für die Organisation“, sondern besonders für diejenigen, die das Ereignis tragen und erst zum Ereignis machen. Beispielsweise Sie!