Die Führungsforschung wie die Führungspraxis liebt immer wieder die heroische Führung. Warum eigentlich? Leadership Insiders liefert die Erklärung, zeigt auf, warum sich dies nicht ändern wird und was wir trotzdem machen könnten, um Distanz zu wahren.
Romantisierung von Führung
Vor etwas mehr als 30 Jahren erschien ein Aufsehen erregender Artikel über die menschliche Neigung, Führung zu romantisieren. Gemeint ist damit, dass das Konzept der Führung in unserem kollektiven Bewusstsein tief verankert ist und Menschen regelmäßig dazu übergehen, Ereignisse und Entwicklungen im Guten wie im Schlechten über Gebühr mit einer Führungsperson zu verknüpfen. In Organisationen manifestiert sich dies prominent daran, eine überdurchschnittliche, gar außerordentliche Leistungsbilanz mit dem dafür für verantwortlich gehaltenen Entrepreneur bzw. CEO zu verknüpfen. Oder, allgemeiner, die besondere Leistung eines Teams ursächlich mit der fachlichen Kompetenz und dem sozialen Geschick der Teamleiterin in Verbindung zu bringen. Wichtig dabei: Umgekehrt gilt dies gleichermaßen! Läuft es nicht gut, ist der Blick auch vorrangig auf die Leitung gerichtet.
Interessanterweise ist diese Neigung zur Romantisierung, die aufgrund der Schlichtheit der Zuschreibung einer Ursache für ein Ereignis unterkomplex ist, auch bei neueren Führungstheorien nicht automatisch außen vor. So kann beispielsweise die Auffassung von einer kollektiven Führung, die zu Erklärung eines Ergebnisses herangezogen wird, sehr wohl die personale Seite zulasten situationaler Faktoren übergewichten, d.h. das „Wir“ verkennt die Günstigkeit der Situation oder übersieht den reinen Zufall. Warum ist die Romantisierung der Führung eigentlich so stabil?
Romantik und Romantisierung
Der Begriff, der in der Führungsforschung vor allem durch James Meindl geprägt wurde, spricht das Verlangen der Menschen an, Sehnsüchte, Leidenschaften, Hoffnungen oder Kontrolle der Umwelt auf andere zu projizieren, die all dies stellvertretend für einen selbst einlösen oder besser: einzulösen scheinen. Dies ordnet die Welt, vereinfacht sie und bietet denen, die nicht im Mittelpunkt stehen wollen oder können, Sicherheit und ein gutes Gefühl, gegebenenfalls auch materiellen Profit.
Der Begriff der „Romantisierung“ ist offensichtlich die Anwendung des Gedankengutes der Romantik auf ein Führungsphänomen. Die Romantik, eine kulturgeschichtliche Epoche, die zwischen dem späten 18. Jh. bis Mitte des 19. Jh. datiert wird, lebt passenderweise selbst bereits von der Idealisierung einer Welt. Sie schiebt die tiefste innere Bestimmung und die Antriebe des Menschen in den Vordergrund, hebt damit die Entfremdung des Menschen im Hier und Jetzt auf, und verkörpert, wie Friedrich Schlegel es für die romantische Dichtung proklamiert, ein beständiges Werden denn ein starres Sein. Bewegung ist ihr als Leitmotiv ebenso wie der Führung immanent.
David Collinson, zusammen mit Keith Grint und Owain Jones (2017), sehen in der Romantik eine Reaktion auf die Aufklärung, die ihrerseits ja das Rationale und Technische in eine Hegemonie der Vernunft überformte und dabei auch eine „Entzauberung der Welt“ (Max Weber) mit sich brachte. Die Romantisierung der Führung vergegenwärtigt, so wie ich es sehe, somit den inneren Wunsch des Menschen, sich wie seit Urzeiten fest in eine Gemeinschaft eingebunden zu verstehen und die erforderliche Kraft zur Alltagsbewältigung und mehr aus dieser Eingebundenheit zu schöpfen.
Um das für die Führung klarzubekommen: Der in der Führungsforschung gewählte Begriff der „Romantisierung“ drückt ableitend aus dieser Eingebundenheit dann eine ebenso zeitlose wie aktive, wenngleich unbewusste Neigung des Menschen aus, die menschliche Gestaltungsmöglichkeit im Guten wie im Schlechten zu überhöhen. Es handelt sich um eine Überdehnung, die aber auch angesichts zunehmender Komplexität der Verhältnisse nicht fallengelassen wird. Der Grundbegriff gründet dabei in der kulturgeschichtlichen Epoche der Romantik, die in Ergänzung zum bisher Gesagten die Welt der Mythen besonders pflegte. Und der Mythos ist das noch fehlende Element, um die prominenteste Form der romantisierenden Führung, den (charismatischen) Helden in den Blick zu nehmen.
Der Heldenmythos als prominenteste Form der Romantisierung von Führung
Einer Führungsperson wird allein definitorisch von der Bezugsgruppe eine besondere Stellung, beispielsweise durch eine herausgehobene Verantwortlichkeit für Ereignisse oder Ergebnisse, die für die Bezugsgruppe relevant sind, zuerkannt. Die Zuschreibung des Heldenstatusist die höchste Form der Anerkennung. Aus Literatur und Geschichte kennen wir unzählige Beispiele hierfür. Im Management hatte im letzten Jahrzehnt wohl niemand besser die Position besetzt als Steve Jobs, dessen dunkle Seiten da eher beiläufig durchschienen. Je weiter eine Person von konkreter Greifbarkeit entfernt ist, umso größer im Übrigen die Chance, einen Heldenstatus zu erlangen, denn „[d] ie Geführten sehen [aus der Nähe] allzu deutlich das Allzumenschliche“ (Neuberger 2002, 120). Deshalb sind Sagen immer das bessere Anschauungsbeispiel:
Herkules (Herakles) erledigte mit immenser Stärke, Tapferkeit und List als Buße für eine schreckliche Tat zwölf extrem herausfordernde Aufgaben mit Bravour. Heldenhaft! Zwar wurde er später durch seine eifersüchtige Ehefrau, die Königstochter Delaneira, unbeabsichtigt in einen schmerzhaften Tod getrieben, erlangte damit aber immerhin Unsterblichkeit im Olymp, wo er auch gleich eine neue Weggefährtin fand. Nicht alle Helden finden sich am Ende so gut aufgehoben.
Solche Heldenbilder sind zwar weit weg von unserem Alltag, gar dem Berufsalltag, prägen nichtsdestotrotz unsere Wünsche, wie wir uns Führende vorstellen, in erheblichem Maße. Dazu muss man sehen, dass auch diese Geschichten von Menschenhand erschaffen wurden und in sich selbst, quasi in Reinform, die erfolgreiche Auseinandersetzung des Menschen mit einer prinzipiell feindlichen Umwelt zum Ausdruck bringen – und so, wie der Philosoph Hans Blumenberg (2001) betont, auf eine beruhigende Zukunft verweisen.
Wird diesem Wünschen eine feste Form gegeben und wird diese Geschichte in einer Kultur identitätsstiftend etabliert, dann entsteht ein Mythos, hier der Heldenmythos.
Mythen sind mündliche und später dann schriftliche Überlieferungen, die zum Selbstverständnis einer Kultur und der in ihr lebenden Menschen beitragen.
Mythen reduzieren die Komplexität der Wirklichkeit und erleichtern das Leben. Damit befriedigen Mythen als „anthropologische Konstante“ (Jamme 2011, 89) in Form einer erzählenden Geschichte sublime Wünsche, wie jene nach Erhabenheit, Schönheit, Dramatik, Liebe, Versöhnung oder Erlösung. Dazu müssen sie, wie wir es ja auch aus der Herkules-Geschichte kennen, die Schattenseiten des Lebens mit erzählen, da deren Überwindung oder Akzeptanz eines der tragenden Motive des Mythos ist. Bei der Heldengeschichte ist dies besonders auffällig (vgl. dazu Weibler 2013).
Brauchen Erwachsene Helden?
Otto Rank (1884-1939), Weggefährte von Sigmund Freud, lieferte bereits 1909 eine sehr eindrückliche Interpretation dafür, warum Menschen Helden benötigen und eine besondere Form der Führung gerne mit Heldentum in Verbindung bringen.
Die Sympathie des Menschen für den Helden sieht er, ganz in psychoanalytischer Tradition, in der Kindheit begründet. Indem wir dem Helden unbewusst unsere eigene Kindergeschichte unterlegen, identifizieren wir uns gleichsam mit ihm:
So ein Held war ich auch.
Der Beobachter versetzt sich also zurück in die Zeit, wo er selbst ein Held war und vergegenwärtigt sich seine erste Heldentat, die er begangen hat: Die Auflehnung gegen den Vater (heute, wo man sich Helden nicht nur maskulin vorstellt, könnte man allgemeiner von der Auflehnung gegen die Eltern sprechen).
Der Erwachsene reproduziert also den Heldenmythos bei Anlass beständig mittels des Zurückphantasierens in die eigene Kindheit, wobei er seine Kindergeschichte dem Helden zuschreibt (82). Daraus zieht er tiefe innere Befriedigung, die, wie oben formuliert, aufgrund einer inneren Bestimmung notgedrungen immer aufs Neue gesucht wird.
Sind Führende also Helden?
Manchmal vielleicht, in der Regel hingegen nicht. Dass Menschen Heldengeschichten lieben (Hollywood weiß das!) und Befriedigung daraus ziehen, sich mit der Geschichte von Helden zu identifizieren, sagt natürlich überhaupt nichts darüber aus, ob jemand, der führt, auch nur annähernd in diese Kategorie fällt. Empirisch gesehen gilt das Gegenteil, denn das Unverständnis über Führung ist weitaus größer als die Zufriedenheit mit ihr. Und von diesem Status quo aus ist es ein überaus weiter Weg zum zuerkannten Heldentum.
Dessen ungeachtet besteht auch heute, auch oder gerade wegen aller Aufgeklärtheit und Rationalisierung, bei Beobachtern vielfach die Neigung, von Führenden heldenhaftes Verhalten zu erwarten. Zumal, wenn es sich um herausragende Führung handeln soll. Die charismatische Führung kann als unmittelbarer Ausfluss dieses Heldenmythos gesehen werden, wobei die faszinierende Kraft der Geschichte sich hier in der Einzigartigkeit der Ausstrahlung einer Person manifestiert. Und welche enorme Bedeutung hat das Charisma nach wie vor im Führungsdiskurs!
Deshalb wird es schlicht nicht möglich sein, die Suche nach dem Heldenhaften in der Führung bzw. die Suche nach heldenhaft Führenden zu unterbinden. Dazu ist es einfach zu fest in das kollektive Gedächtnis eingegraben. Mit Blick auf die charismatische Führung, die den Heldenmythos versteckt in den Alltag der Führung transformiert, ist Folgendes, bisher kaum Beachtetes zusätzlich anzumerken. Es demonstriert gleichzeitig, wie stark eine Aussage wie „Die hat aber Charisma“ eine gedankliche Konstruktion des Betrachters, also beispielsweise Ihnen, und keine Eigenschaft der beobachteten Person selbst ist. Und dann noch das:
Menschen neigen dazu, die verstorbenen „Helden“ ein größeres Charisma als zu Lebzeiten zuzusprechen.
Eine sehr originelle Studie des von Nils Steffens angeführten Forschungsteams von der University of Queensland und der Goethe-Universität in Frankfurt/M. zeigte jüngst, dass die Wahrscheinlichkeit einer Charismazuschreibung im Durchschnitt gleich um 100% steigt, sofern diese – hier: politische Personen (Staatsoberhäupter i.w.S.) – nicht mehr lebten. Tendenziell ein gleichlautendes Ergebnis fand sich neben dieser bibliografischen Analyse im Politikbereich auch bei einer experimentellen Vorher-Nachher-Studie, gemünzt auf einen dem Gemeinwohl verpflichteten Naturwissenschaftler.
Besonders einflussreich für eine höhere Einschätzung post mortem ist, dass diese Person sich um die Gemeinschaft (Nation, Gruppe…) vorbildhaft gekümmert hat, sofern deren Handeln den Werten des Beobachters entspricht. Dann steht diese Führungsperson auch für das, was mir ganz persönlich (extrem) wichtig ist und lässt, bei aller von mir anerkannten herausgehobenen Verkörperung des mir Wichtigen durch diese Führungsperson, die notwendige „Wir“-Assoziation zu.
Helden, Mythos, Charisma: Was tun?
Auch Erwachsene suchen unbewusst Helden. In der psychoanalytischen Theorie, die von der verallgemeinernden Interpretation von Fällen oder anderen Beobachtungen lebt, ist natürlich keine Aussage zu einer empirischen Verteilung, was das Ausmaß und die Streuung des „Heldenwunsches“ betrifft, zu erwarten. Das ist ihre Methodologie nicht. Immerhin liefert sie aber eine durchaus spektakuläre Erklärung für diesen Sachverhalt, der wiederum empirisch mannigfaltig, gerade mit Führungsbezug, als eine spezifische anthropologische Konstante festzustellen ist. Der Sachverhalt an sich ist unstrittig.
Eine anthropologische Konstante ist nicht aus dem Weg zu räumen, es ist mit ihr umzugehen! Das Einzige, was ich angesichts dieser Situation deshalb betonen möchte, ist, dass es unsere eigenen Phantasien sind, die uns nach dem Helden in einer Führungsgestalt suchen lassen. Wir projizieren unsere Erwartungen, Emotionen etc. auf Führende, denen sie, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, real nicht entsprechen (können).
Deshalb gilt der Aufruf an Führende wie Geführte, diese hier vorgestellten Beschreibungen und Einsichten zu reflektieren, denn nur dadurch ist eine beidseitige Selbstregulation möglich, die überdehnte Anforderungen reduziert und vor allem Führende (vor sich selbst) schützt. Dies ist noch keine gängige Praxis, gerade auch nicht in der politischen Führung, wie wir sie gegenwärtig hier und da sehen. Aber es wäre anzustreben. Und, wer es dennoch übertreibt, sollte gewarnt sein:
Der Held von heute kann bereits morgen der Narr von gestern sein.