Gesundheit ist für ein glückliches Leben essentiell. Wir müssen jedoch lernen, folgen wir dem salutogenetischen Modell nach Antonovsky, dass Krankheit und Gesundheit keine Gegenätze sind, sondern lediglich die jeweiligen Endpunkte eines Kontinuums darstellen, auf dem wir wechselnd positioniert sind. Es wird gezeigt, wie der Einzelne sich auf diesem Kontinuum in Richtung des Gesundheit symbolisierenden Pols bewegen kann.

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Arbeit ist ein zentraler Faktor unseres Lebens. Es ist offensichtlich, dass die tagtäglichen Arbeitsbedingungen einen Einfluss auf das körperliche wie seelische Wohlbefinden haben. Die Führungskraft spielt in diesem komplexen Geflecht von arbeitsbedingten Einflussfaktoren auf die Gesundheit von Geführten eine besondere Rolle. Gesundheit ist ein großes Wort, und eben nicht das Gegenteil von Krankheit, wie uns Aaron Antonovsky lehrt. Leadership Insiders referiert kommentierend seinen Salutogenetischen Ansatz und liefert damit Führungskräften wie Geführten entscheidende Anhaltspunkte, um das Wohlbefinden nachhaltig zu erhöhen.

Gesundheitsgefährdung Arbeitsplatz

„Mehr Stress – und mehr psychische Erkrankungen“ titelt im Dezember 2019 die Onlineausgabe der „Frankfurter Allgemeine“. Sie bezieht sich auf eine DGB-Studie, in der beispielsweise mehr als Hälfte der Befragten angaben, sich häufig gehetzt zu fühlen. Psychische Erkrankungen werden in Berichten von Krankenkassen parallel dazu als kontinuierlich steigend ausgewiesen und erreichen immer neue Höchststände. Zwar sind Gefährdungen, die vor allem im Rahmen der ergonomischen und schadstofforientierten Arbeitsmedizin für die Gesundheit herangezogen werden, geringer geworden, doch sind Arbeitsverdichtung, Flexibilisierung und Entgrenzung von Arbeit sowie Angst vor einem Arbeitsplatzverlust beständige Themen und als potenzielle psychische Belastungen anzusehen. Dass der Arbeitsplatz wiederum auch die psychische Gesundheit zu stärken vermag, sofern dort angemessene Herausforderungen, ansprechende soziale Kontakte und bereichernde Erlebnisse erfahren werden, steht dem nur scheinbar entgegen. Denn es kommt, wie so oft, auf das Ausm der Belastungen an, auf das, was dem entgegenzustellen ist und auf das Erfahren von positiven Emotionen, bevor eine Bilanz gezogen werden kann. Wir könnten auch formulieren: Person und Situation spielen auch hier wieder zusammen und sollten zueinander passen.

Diese ambivalente Gesamtsituation trägt sicherlich auch dazu bei, dass immer wieder eine Diskussion geführt wird, die unter dem Stichwort Work-Life-Balance die Ausgewogenheit von beruflichem und nicht beruflichem Dasein des Menschen thematisiert und eine wie auch immer im Detail definierte Balance zwischen diesen beiden Lebenswelten anstrebt. Das, worum es in dieser Suche nach Balance letztendlich am Ende geht, ist sicherlich die Frage nach einer gelingenden Lebensführung. Und da sind wir natürlich wieder bei der Gesundheit, denn ein gelingendes Leben wird durch eine Beeinträchtigung der Gesundheit erst einmal erschwert. Aber was ist Gesundheit? Die viel zitierte, durchaus anspruchsvolle Definition der Weltgesundheitsorganisation (1946, S. 1; nicht kursiv) sieht es folgendermaßen:

„Die Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen“

Der israelisch-amerikanische Medizinsoziologe Aaron Antonovsky (1997) kritisiert jedoch diese implizite und anderswo anzutreffende Trennung von Krankheit und Gesundheit (0/1-Logik) und hat deswegen ein international beachtetes eigenständiges Modell entwickelt, das der Salutogenese. Es ermöglicht nach seinen Worten eine ganzheitliche Betrachtung des Individuums und betont vor allen Dingen die aktive Auseinandersetzung mit bedrohlichen wie hilfreichen Szenarien für das eigene Wohlbefinden. Die 1946iger WHO-Definition der Gesundheit beschreibt danach nur noch eine regulative Idee, einen wünschenswerten Idealzustand („vollkommen“), und damit für uns in der und durch die Führungspraxis aber kein ernsthaft zu erreichendes Ziel. Was er damit meint, schauen wir uns nun genauer an.

Das Modell der Salutogenese

Das Modell der Salutogenese beruht auf der Annahme, dass Gesundheit und Krankheit keine sich ausschließende Gegensätze sind. Vielmehr sind es die Pole eines eindimensionalen Kontinuums. Jeder von uns findet dort zu einem bestimmten Zeitpunkt seinen Platz, der sich jedoch theoretisch wie faktisch mal mehr in die eine, mal mehr in die andere Richtung verschiebt. Im Unterschied zu vielen Gesundheitskonzepten, in denen Gesundheit als Gleichgewicht und damit als homöostatisch beschrieben wird, ist das menschliche Leben nach Aaron Antonovsky durch ein anhaltendes Ungleichgewicht (Heterostase) gekennzeichnet. Menschen verbleiben also nicht von alleine in einem gesunden Gleichgewicht, sondern sind vielfältigen Stimuli ausgesetzt, die einer kontinuierlichen Anpassung und einer aktiven Bewältigungsleistung bedürfen. Einprägsam formuliert er dazu (1997, S. 92):

„Niemand geht sicher am Ufer entlang“

Die salutogenetische Orientierung bedeutet Antonovsky zufolge, über die Faktoren nachzudenken, die uns in sicherere Gefilde versetzen und uns zu fragen, was uns gesund erhält und nicht so sehr, was uns krank macht. Das bedrohliche Mindset einer Krankheitsorientierung wird durch das kräftigende Mindset einer Gesundheitsorientierung ersetzt. In diesem Zusammenhang wird auch der Stress rehabilitiert, der in unserer Alltagswahrnehmung doch recht negativ konnotiert ist. Ihm wird eine Mobilisierungskraft für den Körper zugeschrieben, bleibt aber unbewältigt weiterhin die extreme Bedrohung.

Als Stressoren kommen die uns vertrauten Gefährdungen der psychischen wie physischen Unversehrtheit in Betracht: für uns ungünstige Viren und Bakterien, den Körper angreifende Umweltgifte, private oder berufliche Anforderungen, auch Minderanforderungen, Zeitdruck, Konflikte, toxische Vorgesetzte, Scheitern von Plänen, traumatische Ereignisse usw. Diese treten uns entsprechend der kognitiven Stressforschung als Belastungen gegenüber und werden in Konfrontation mit unseren körperlichen, emotionalen und geistigen Voraussetzungen einschließlich des individuellen Umgangs damit zu aktuellen Beanspruchungen. Deren Folgen hängen von der Intensität, Dauer, Verlauf und Zeitpunkt des Auftretens ab.

Auf alle Fälle wirken sie auf die gegenwärtige Position des Menschen innerhalb seines Krankheits- Gesundheitskontinuums ein. Verschiedene Faktoren haben bei entsprechender Ausprägung einen positiven Einfluss auf den konstruktiven Umgang mit Stressoren. Diese werden als Widerstandsressourcen bezeichnet. Dies ist ein Strauß von individuellen (physische Konstitution, neben der Genetik also vor allem Ernährung und Bewegung, Ich-Identität, Wissen, Coping-Strategien; materielles Vermögen, Besitz, Geld), sozialen (Nähe, Unterstützung, Beziehungen) und gesellschaftlich-kulturellen Kräften (spirituelle Überzeugungen, stabile Umwelt, Wohlstandsniveau). Die Folgen einer durch Stressoren bewirkten Beanspruchung – für den Einzelnen, sicherlich in Aggregation über viele auch für die Gemeinschaft, in der sich bewegt wird –, sind danach zu beurteilen, wie der Mensch letztendlich damit umgeht. Folgen können positiv wie negativ sein.

Wir denken dabei oft zu schnell an die negative Seite, da sie stärker ins Auge sticht und uns emotionaler berührt, verkennen aber, dass durch Spannungsbewältigung auch produktive Zustände generiert werden, die uns versichern, Belastungen gewachsen zu sein, durch die lernende Auseinandersetzung damit unser Selbstbild stärken und besser auf Zukünftiges vorbereiten. Jene, die das Letztere schaffen, wandern gestärkt in Richtung Gesundheitspol, während jene, die (teilweise) daran scheitern, sich Richtung Krankheitspol bewegen.

Kohärenzgefühl

Eine besondere Bedeutung in diesem Modell – und weit darüber hinaus – besitzt das Kohärenzgefühl („Sense of Coherence“). Es ist entscheidend für die seelische Gesundheit, da es den Umgang mit zukünftigen Belastungen moderiert. Es entwickelt sich im Laufe des Lebens auf Basis der (sich teils verändernden) Widerstandsressourcen in Auseinandersetzung mit Ereignissen. Hieraus entstehen Lebenserfahrungen, die sich auf das Kohärenzgefühl auswirken. Dieses durchdringende, andauernde, aber dennoch dynamische Gefühl, das so eine entscheidende Auswirkung auf unsere Bewegung innerhalb des Kontinuums besitzt, setzt sich aus drei Vertrauensüberzeugungen zusammen.

  • Erstens, dass die Zukunft vorhersehbar ist oder doch zumindest eingeordnet und erklärt werden kann (Verstehbarkeit);
  • Zweitens, dass man in der Lage ist, Antworten auf Herausforderung zu finden, die einen bedrohen und mit den Schicksalsschlägen des Lebens umgehen lassen (Handhabbarkeit);
  • drittens Lebensbereiche zu besitzen, die einem wichtig sind und für die man sich anstrengen und engagieren möchte (Sinnhaftigkeit).

Dieses Kohärenzgefühl korreliert positiv mit vielen Standard-Maßen, die Gesundheit messen.

Führungspraktische Folgen

Auf dieser Grundlage ist es Aufgabe einer Führungskraft, sei es unter der Flagge der Nachhaltigkeit oder der Ethik, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern durch ihre Arbeit Möglichkeiten zu eröffnen, sich auf dem Kontinuum in Richtung Gesundheit zu bewegen und alles Erdenkliche zu tun, um Bedingungen, die eine Bewegung in Richtung Krankheit nach sich ziehen, zu vermeiden.

Wie dies gelingen kann, zeigt die positive Psychologie auf (vgl. Seligman/Csikszentmihalyi 2000; Seligman 1998). Dieser Ansatz greift bekannte Überlegungen beispielsweise aus den Forschungen zur Arbeitszufriedenheit, zur Gerechtigkeit oder zur intrinsischen Motivation auf. Es geht darum, die Fähigkeit des Individuums, positiv zu denken und sich den eigenen Interessen entsprechend positiv zu entwickeln, zu unterstützen. Zentrale Begrifflichkeiten sind hier Inspiration, Hoffnung, Vertrauen oder Optimismus, die durch Lernerfahrungen gestärkt werden können und den fundamentalen Gegensatz zum konträren Konzept der erlernten Hilflosigkeit bilden (vgl. Seligman 2010). Seligman spricht hier analog vom „gelernten Optimismus“ (1990), der zu einem authentischen Glücksempfinden führen könne (vgl. Seligman 2002). Ein Glücksempfinden forme sich dann aus, wenn man positive Emotionen auslebe und Fähigkeiten entwickle, diese zu stützen, eigene Stärken entfalten könne und seine Talente für eine Anbindung und Einbindung in etwas verspüre, dass über das eigene Selbst hinausgehe. Und warum eigentlich? Entsprechend der Broaden-and-Build Theorie (vgl. Frederickson 2002) erweitern positive Emotionen die kognitiven Denkprozesse und bilden damit die Basis für den Aufbau neuer handfester Ressourcen und Fähigkeiten (z. B. soziale Unterstützung oder Wissen), die dann wiederum langfristige Auswirkungen auf das psychische und physische Wohlbefinden haben, was wiederum positive Emotionen auslöst.

Eine gesundheitsorientierte Führung sollte sich daher neben offensichtlichen (Notfall-)Maßnahmen und dem Bereinigen von mehr oder minder objektiven Belastungen zuallererst der Auswirkungen von Emotionen bewusst sein. Dazu haben Wendelin Küpers, Professor für Leadership und Organization Studies an der Karlsruher Karlshochschule, und ich bereits vor mehr als einer Dekade eine einführende Betrachtung mit Bezug auf Organisationen vorgelegt (2005). So haben Menschen beispielsweise eine bessere Wahrnehmung, sind aufmerksamer und achtsamer, wenn sie positive Emotionen empfinden. Des Weiteren hat die Balance zwischen positiven und negativen Emotionen einen Einfluss auf das subjektive Wohlbefinden. Insgesamt kann positiven Emotionen zugeschrieben werden, dass sie zur Widerstandsfähigkeit, sozialen Integration und Leistungsfähigkeit von Individuen beitragen.

Da Emotionen eine ansteckende Wirkung zugeschrieben wird, wäre es an den Führungskräften, im Rahmen einer gesundheitsorientierten Selbststeuerung als Vorbild dienen zu können. Eine „Emotionsarbeit“ ist damit nicht gemeint, da dieser Begriff zu oft für eine gekünstelte Zurschaustellung von Emotionen steht, die nicht nur von den Mitarbeitenden schnell dechiffriert wird, sondern auch als nachteilig für die eigene Gesundheit eingestuft werden muss. „Humor“ sei hier stattdessen anempfohlen, allerdings nur bei dem, der, wie es so schön heißt, ihn „kontextsensitiv“ anzuwenden versteht. Für alle, Führungskräfte wie Geführte, gilt jedoch, dass ausreichende tägliche wie periodische Erholung vielen Stressoren ihren Schrecken nehmen kann und die Resilienz stärkt. Hier treffen sich Alltagsweisheit und Wissenschaft perfekt. In seiner  Theorie der Ressourcenerhaltung (1989) hat Stevan Hobfoll  den Zusammenhang wie folgt beschrieben (Hobfoll, 2001): Das Fehlen von Ressourcen führt zum Verlust von weiteren Ressourcen, da Individuen nun weniger in der Lage sind, neue Ressourcen durch Investitionen zu gewinnen. Hier entsteht eine Verlustspirale. Dieses gilt auch umgekehrt: Viele vorhandene Ressourcen mindern die Anfälligkeit für Verluste. Individuen sind so eher in der Lage, in Ressourcen zu investieren, um den Ressourcenpool  weiter auszubauen (Gewinnspirale). Auch hier gilt also: Erfolg zieht Erfolg an. Die gute Nachricht ist allerdings, dass man sich jederzeit dafür entscheiden kann, zu den Gewinnern gehören zu wollen und dies aktiv anzustreben. Für Führungskräfte ist dies gegenüber den Geführten allerdings nicht als Option zu lesen, sondern als arbeitsrechtliche wie ethische Verpflichtung zu verstehen.

Antonovsky, A. (1993): Gesundheitsforschung versus Krankheitsforschung. In: Franke, A.; Broda, M. (Hrsg.): Psychosomatische Gesundheit, Tübingen, S. 3–14

Antonovsky, A. (1997): Salutogenese. Zur Entmystifizierung von Gesundheit, Tübingen

Frankfurter Allgemeine (2019): Mehr Stress – und mehr psychische Erkrankungen. Onlineausgabe. 05.12.2019

Fredrickson, B.L. (2002): Positive emotions. In: Snyder, C.R.; Lopez, S.J. (Hrsg.): Handbook of Positive Psychology, New York, S. 120–134

Hobfoll, S. E. (1989):  Conservation of resources: A new attempt at conceptualizing stress. In: American Psychologist, 1989, 44(3), S. 513–524

Hobfoll, S.E. (2001): The influence of culture, community, and the nested-self in the stress process: Advancing conservation of resources theory. In: Applied Psychology 50(3), S. 337–421

Küpers, W. / Weibler, J. (2005): Emotionen in Organisationen, Stuttgart

Seligman, M.E.P. (1990): Learned Optimism, New York (2. A. 1998)

Seligman, M.E.P. (2002): Authentic Happiness, New York

Seligman, M.E.P. (2010): Erlernte Hilflosigkeit. Mit einem Anhang von Franz Petermann. Weinheim und Basel

Seligman, M.E.P.; Csikszentmihalyi, M. (2000): Positive psychology: An introduction. In: American Psychologist 55(1), S. 5–14

WHO (1946): Verfassung der Weltgesundheitsorganisation vom 22. Juli 1946. AS 1948 1015: Stand 06.07.2020 (https://fedlex.data.admin.ch/filestore/fedlex.data.admin.ch/eli/cc/1948/1015_1002_976/20200706/de/pdf-a/fedlex-data-admin-ch-eli-cc-1948-1015_1002_976-20200706-de-pdf-a.pdf, abgerufen am 23.01.2021)