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Unsere derzeitige BANI-Welt (Cascio 2020) – Brittle (brüchig), Anxious (unruhig), Non-linear (nichtlinear), Incomprehensible (unverständlich) – verlangt von Führungskräften einiges ab. Nicht ohne Grund werden im Gegenzug in den letzten Jahren verstärkt Themen wie Resilienz, Achtsamkeit und aufmerksames Zuhören, Entschleunigung, Mental Health, Deep (Focus) Work, Digital Detox, Work-Life-Balance, Digital Literacy und Remote Leadership als mögliche „Heilmittel“ erörtert. Die klassischen Methoden des Zeit- und Selbstmanagements haben in der Führung nicht an Bedeutung verloren, sie umzusetzen ist in unserer durch Dauerablenkung und mediale Überreizung geprägten Gegenwart allerdings noch herausfordernder geworden. Dies alles zu reflektieren und die Bedeutung für einen selbst bewusst zu machen (Selbstreflexion), erscheint dringender denn je.
Selbstreflexion in modernen Führungsansätzen – in überraschender Vielfalt
Selbstreflektiertes Handeln spielt in einer Fülle moderner Führungsansätze eine bedeutsame, so kaum vermutete Rolle. Hier eine Skizzierung für die bekanntesten Ansätze, bei denen Selbstreflexion gegenwärtig besonders thematisiert wird (Weibler 2023; Rybnikova/Lang 2021):
Letztlich tritt Selbstreflexion teils explizit, teils implizit in all jenen aktuellen Führungstheorien in Erscheinung, die auf Sinn, Beziehungs- und Kooperationsorientierung, Nachhaltigkeit, systemisches Denken und vor allem auf die persönliche Reifung der Akteure ausgerichtet sind. Zunehmend wird von Idealvorstellungen abgerückt, die Führungskräfte zu allwissenden und allmächtigen Superhelden verklären. Auch Führungskräfte sind Menschen mit Ecken und Kanten, Vorzügen und Unzulänglichkeiten, unvollkommene Wesen, die wie viele andere auch um Vervollkommnung ringen, dabei aber Versuchungen ausgesetzt sind und Fehler begehen. Bei allem Verständnis um eine realistischere, bisweilen übertrieben psychologisierende Sicht auf Führungskräfte dürfen die ökonomischen Zwänge, denen sie unterliegen, nicht ignoriert werden. Die Erreichung organisationaler Ziele und damit der eigene Beitrag zur Gewinnerzielung bleiben unverrückbare Basisvoraussetzungen (es sei denn, man bewegt sich im staatlichen Sektor oder hängt von Subventionen ab).
Selbstreflexion in praktischer Umsetzung
„[L] eaders grow through an increasingly better understanding of who they are and how others see them”
Selbstreflexion lässt sich zu allen Zeiten und Gelegenheiten praktizieren, indem etwa bewusst ruhige Momente des Tages, die Fahrt zur Arbeit oder ein kurzes Alleinsein zur Kontemplation und Introspektion genutzt werden. Dabei kann es helfen, die Gedanken zu verschriftlichen (Journaling, Reflexionstagebuch) oder auch auf ein Diktiergerät aufzunehmen, um sie dauerhaft festzuhalten. Speziell Schreiben präzisiert, ordnet und verdichtet die eigenen Gedanken, schafft aber auch mehr Verbindlichkeit als die rein mündliche Äußerung. Des Weiteren ist zu klären:
- Versuche ich selbst Antworten auf mir wichtige Fragen zu finden oder suche ich mir Hilfe bei anderen (Multi-Source-Feedback)? Unterstützung kann von Freunden, dem Partner, dem Team, von einem Coach, Mentor, Kunden, von Stakeholdern, Kollegen, Vorgesetzten oder auch von der als Sparringspartner eingesetzten KI kommen. Im Falle der Unterstützung geht es um den Abgleich von Selbst- und Fremdbild. Eine verbreitete kollektive Reflexionstechnik im Führungsbereich ist das auf den britischen Physiker Reginald Revans (1907-2003) zurückgehende Action Learning. Dabei treffen sich Führungskräfte einmal im Monat untereinander, teilweise unterstützt durch einen Facilitator, sprechen ungelöste Probleme an, deren mögliche Lösung direkt in ihrer Abteilung umgesetzt werden. Im nächsten Treffen wird die (nicht) erzielte Wirkung besprochen und erneut darüber reflektiert, was getan werden kann. Das geht so lange, bis schließlich eine stabile Lösung gefunden wird (Busch 2015, S. 432-457).
- Reflektiere ich zielorientiert oder lasse ich meine Gedanken zweckfrei schweifen, indem ich ein Selbstgespräch führe oder einer Tagträumerei nachhänge? In unserer stark verwertungsorientiert ausgerichteten Kultur wird das ziellose Träumen häufig als Zeitverschwendung abgetan. Außerdem wird vor überbesorgtem Gedankenkreisen, vor nicht endender Grübelei (overthinking) gewarnt. Dennoch kann auch diese Form des Nachdenkens, des Wiederkäuens (Rumination) – richtig dosiert – kreativitätssteigernd wirken, muss also nicht gleich in Selbstzweifeln oder depressiven Verstimmungen enden.
- Betreibe ich vor allem eine rückschauende Reflexion (Retrospektive), indem ich lebensdefinierende Momente oder auch nur emotional aufwühlende Erlebnisse Revue passieren lasse und nach Gründen meines Handeln suche, oder reflektiere ich ebenso vorausschauend (Prospektive), indem ich künftige Herausforderungen und Szenarien inklusive meiner Reaktionen darauf gedanklich durchspiele?
- Konzentriere ich mich auf Stärken oder Schwächen? Seit Peter Drucker gilt im Managementbereich das Credo, die eigenen Stärken zu stärken, die Schwächen eher links liegen zu lassen, da eine Abschwächung der Schwächen uns bei diesen bestenfalls auf ein durchschnittliches Niveau im Vergleich zu Talentierteren bringen kann (Drucker 2014, S. 79 ff.). Hier sollte natürlich unterschieden werden, ob es sich um charakterliche Defizite handelt, an denen man arbeiten sollte, oder um fachliche Defizite, für deren Kompensation im Zuge der Delegation besser geeignete Personen im Umfeld eingesetzt werden können.
- Reflektiere ich meine Persönlichkeit (Wer bin ich? Wie fühle, denke, handle ich? Was motiviert mich? Welche Situationen sprechen mich an, welche stoßen mich ab?) oder auch die Wirkung, die ich auf andere habe? Um Konsistenz herzustellen, müssen beide Aspekte kontinuierlich beobachtet und reflektiert werden (Busch 2024, S. 40).
- Inwiefern helfen mir Leitfragen, um meiner Lebensgeschichte näher zu kommen? Beispiele hierfür sind: Welche Menschen hatten einen bedeutenden Einfluss auf mein Leben und warum? Wie habe ich schwierige Zeiten in meinem Leben durchgestanden? Was weiß ich heute über das Leben, das ich gerne schon zu meiner Schulzeit gewusst hätte? Was war der beste Rat, den mir jemand gegeben hat? Welche Bücher oder Filme haben mich geprägt und was sagt das über mich aus? Gibt es ein Zitat oder Lebensmotto, das mir besonders gefällt? Welche Sicht auf das Leben kommt darin zum Ausdruck? Was können andere daraus lernen? Was würde ich beruflich tun, wenn ich frei wählen könnte und warum (Cleverley-Thompson 2018, S. 132 ff.)? Diese Fragen dienen nicht nur der Selbstreflexion, sondern auch der Erschließung individueller Potentiale. Der Übergang zur Erkundung der eigenen Berufung ist dabei fließend.
Zu fragen ist auch, wie tiefgehend die Reflexion gehen soll (Swift/West 1998, S. 11 ff.).
Bei der oberflächlichen Reflexion geht es um Aufmerksamkeit, Überwachung eigener Leistungsprozesse, Selbstbefragungen und Beurteilungen: Habe ich alle mir zugänglichen Daten gesammelt? Weshalb waren bestimmte Handlungsweisen (nicht) erfolgreich? Außerdem werden in Analysen die Vor- und Nachteile von Zielen, Strategien und Prozessen überprüft und „verdaut“, d.h. es steht ausreichend Zeit für Überlegungen, Diskussionen und Entscheidungsprozesse zur Verfügung (Single-Loop-Learning). Das Lernen ist exploitativ angelegt. Es werden Verbesserungen in kleinen Schritten angestrebt, ohne den generellen Kurs in Frage zu stellen. Die moderate Reflexion hingegen folgt einem explorativen Lernansatz, indem Alternativen zum bisherigen Vorgehen evaluiert und Pläne zu deren Umsetzung entwickelt werden (Double-Loop-Learning).
Die tiefgehende Reflexion schließlich hinterfragt Grundannahmen des eigenen Verhaltens bzw. macht diese explizit im Sinne eines Deutero-Learning, eines Lernens auf der Metaebene. Hier wird nicht gefragt: Wie kann ich das, was ich mache, besser machen, sondern: Warum mache ich es überhaupt? Welche prinzipiellen handlungsbezogenen und weltanschaulichen Alternativen gibt es? In der Pädagogik wird in dem Zusammenhang auch von Metakognition gesprochen. Das Begeben auf die metakognitive Ebene macht die dem eigenen Lernverhalten zugrunde liegenden, weitgehend automatisiert ablaufenden Lernstrategien, den individuellen Lerntyp bzw. den kognitiven Stil und die Sensibilität gegenüber bestimmten Lernumgebungen bewusst und reflektiert sie hinsichtlich ihrer Effektivität. Ziel dabei ist ein wirksameres Lern- und Selbstmanagement. Allgemeines Ziel des Hinterfragens von Grundannahmen im Rahmen der tiefgehenden Reflexion ist ein vollkommener Musterbruch, wie etwa die Konversion zu einem anderen Glauben oder im Fertigungsbereich der Wechsel von einer tayloristischen zu einer toyotistischen Produktionsweise. Solche radikalen Neuausrichtungen kommen im Alltag eher selten vor, können sich aber als Folge von Sinnkrisen, existenzbedrohlichen Situationen oder Nahtoderlebnissen ergeben.
Selbstreflexion: Abschließende Bemerkungen
Wie in vielen menschlichen Bereichen sollte bei Selbstreflexionen nicht sofort die Lösung aller Probleme angestrebt werden, vielmehr macht es Sinn, drängende Einzelaspekte in Etappen nacheinander abzuarbeiten. Weniger ist auch hier mehr. Kleine Schritte, die realisiert werden, sind besser, als zu große Schritte, an denen man scheitert. Dabei gilt der Ausspruch des großen Seelenkenners Franz von Sales (1567-1622):
„Hab Geduld mit allen Dingen, vor allem aber mit dir selbst“.
Nicht vergessen werden sollte, dass Selbstreflexion und die damit wachsende Selbsterkenntnis auch immer etwas mit Selbsterweiterung zu tun hat, mit der Entdeckung bisher ungenutzter Fähigkeiten, deren Aneignung sich nicht ruckartig, sondern eher schleichend vollzieht, durch die kontinuierliche Bemühung und Konzentration auf einen bestimmten Bereich. Selbstreflexion hat also nicht nur eine introspektiv-rückwärtsgewandte, sondern ebenso eine expansiv-vorwärtsgewandte, nicht nur eine kritische, sondern ebenso eine affirmative Komponente, deren Ziel die Persönlichkeitsreifung, das persönliche Wachstum, die Bewusstmachung und Stärkung des eigenen Selbstkonzepts, der Fähigkeiten, der Denk- und Handlungsflexibilität ist.