Auf der verzweifelten Suche nach Innovationen verlassen sich Unternehmen nicht mehr nur auf die eigene Kreativität, die naturgemäß begrenzt ist. Der Kunde selbst soll es bei der Neuproduktentwicklung nun richten. Social Media sind dafür ein ideales Austauschforum. Nachfolgend wird gezeigt, wann und wie eine Integration des Kunden in den Prozess der Neuproduktentwicklung erfolgreich gelingen kann, was dies für das Unternehmen bedeutet und wie der Kunde sogar ein Stück weit eine Führungsfunktion für das Entwicklungsteam übernimmt.

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Flache Hierarchien, offene Kommunikation, Imitation einer Start-up Kultur in holzvertäfelten Meeting-Sälen und natürlich weg mit den Krawatten. Alles Maßnahmen, um Innovationen hervorzubringen. Wir wissen, das hat seine Grenzen. Deshalb geht der Blick heute verstärkt nach außen. Während neue Produkte früher fast ausschließlich durch Mitarbeitende der Unternehmen (auf Basis der Marktforschung) entwickelt wurden, ist inzwischen auffällig, dass zunehmend Kunden direkt in den Prozess der Neuproduktentwicklung (NPE) integriert werden – dies auch unter Verwendung der Social Media. Doch warum ist es zu dieser Entwicklung gekommen? Inwieweit ist sie sinnvoll? Und mit welchen Risiken ist sie behaftet? Leadership Insiders taucht diesmal in die Tiefen des Technologiemanagements und des Marketings ein, um zu diesen aktuellen Fragen Stellung zu beziehen. Und wie sich zeigt, geht für die Führung hiermit am Ende eine zentrale Botschaft einher.

Innovationen überlagern alles

Der Bedarf an neuen Produkten wird bei kürzeren Produktlebenszyklen immer größer, der Markt darum umkämpfter und die Ansprüche der Kunden an sie höher und vielfältiger. Daher sind Innovationsprozesse im Allgemeinen und der Prozess der Neuproduktentwicklung im Besonderen die durch nichts zu ersetzenden Voraussetzungen erfolgreicher Unternehmensführung. Und dabei gilt immer mehr: Die Definitionsmacht des Erfolgs liegt beim Kunden!

„Innovation is the ability to deliver new value to a customer. After all, it is not innovation until the customer says it is”

Dieses Zitat von José Campos, Gründer von Rapid Innovation, verdeutlicht, dass eine Innovation einen Mehrwert für den Kunden besitzen muss, den letztlich nur er selbst empfinden kann. Das stets unvollständige interne Wissen von Unternehmen reicht zu oft nicht aus, den erforderlichen Customer Value punktgenau zu bestimmen. Deshalb werden Unternehmen mehr oder minder dazu getrieben, den Kunden in den Prozess der Neuproduktentwicklung zu integrieren. Dies ist allerdings nicht trivial.

Prozess der Neuproduktentwicklung

Vor der Kundenintegration steht zunächst die Vorstellung darüber, wie der Prozess der Neuproduktentwicklung überhaupt aussehen soll. Typisch ist hier eine Aufteilung des NPE-Prozesses in verschiedene Phasen. Hakil Moon von der Eastern Michigan University macht mit seinem Team dazu in 2018 einen sehr zielführenden und praktikablen Vorschlag, indem er schlicht drei Phasen unterscheidet:

Konzeptentwicklung – Produktentwicklung – Implementierung

Während der Konzeptentwicklungsphase werden neue Ideen generiert, die es braucht, um ein neues Produkt zu entwickeln. Dafür sammelt das Unternehmen Informationen von den Kunden, kreiert hieraus Ideen für Produktkonzepte und betreibt schließlich ein Konzepttesting, das die vorliegenden Ideen sorgfältig prüft und fortentwickelt. Dabei gilt, dass im Schnitt lediglich ein Produkt aus 3000 Ideen erfolgreich kommerzialisiert wird.

Fallbeispiel DHL

DHL bietet Innovationsworkshops an, in denen Best Practices geteilt und Anwendungsfälle in und außerhalb der Industrie besprochen werden sowie über die Zukunft in der Logistikbranche nachgedacht wird. In den „Idea Generation Workshops“ entwickeln Kunden gemeinsam mit DHL Ideen für neue Produkte, Services und Prozesse. Ein weiterer angebotener Workshop ist der sogenannte „Trend Workshop“. In Zusammenarbeit mit Experten der DHL definieren Kunden ihren eigenen persönlichen Trend Radar, basierend auf ihren Anforderungen an die Industrie. Alle Workshops werden durch Moderatoren begleitet.

Die Produktentwicklungsphase fokussiert sich auf die Einschätzung des aktuellen Marktes und der erforderlichen Technologie, die Bestimmung des finalen Produktdesigns und die Herstellung des neuen Produktprototyps. Detaillierter wäre es hier, noch nach Entwicklung und Design, Kostenkalkulation, Prototypenentwicklung und Produkttests aufzufächern. Das Ziel dieser Phase ist die Über­führung des Produktkonzeptes in ein vermarktbares Angebot.

Die Implementierungsphase umfasst alle Aktivitäten, die mit der Komplettierung eines Prototypen in Verbindung stehen, was Produkttests zur Überprüfung der Leistung ebenso beinhaltet wie die Planung der Produktion. Außerdem sind alle Aktivitäten zur Kommerzialisierung des Produktes inbegriffen, wie etwa Marketingplanung und Werbung für die Produkteinführung. In dieser Phase sind Markttests, Beobachtungen des Kundenverhaltens und die Generierung von Kundenfeedback von großer Bedeutung.

Fallbeispiel Coca-Cola

Ein Beispiel, das gleich alle Phasen berührt, wäre Coca-Cola Freestyle. Coca-Cola hat Automaten ent­wickelt, mit denen Kunden sich ihre eigene Geschmacksrichtung kreieren können (vgl. Coca-Cola Journey 2019). Etwa 300 solcher Automaten sind zurzeit in Deutschland im Einsatz. Für den Gastwirt hat dies den Vorteil, dass er eine sehr große An­zahl an Getränken anbieten kann. Dafür ist es nicht notwendig, extra Lagerfläche anzu­mieten, da der Automat kaum Platz und nur einen Wasseranschluss benötigt, da die unter­schiedlichen Geschmacksrichtungen aus Kartuschen geschaffen werden. Sicherlich kann man den Automaten selbst als ein Neuprodukt ansehen, der die obigen Phasen der Neuproduktentwicklung unter Beteiligung des Kunden durchlaufen hat (Burger King Filialen als Testphase).

Interessanter ist hier aber die Perspektive, Coca-Cola Journey aus individueller Sicht zu sehen und das jeweilige Getränk mit persönlicher Geschmacksrichtung als ein Neuprodukt (zumindest für den Kunden) zu betrachten. Danach lässt sich für Coca-Cola Freestyle zunächst die Phase der Konzeptentwicklung identifizieren, in der die Idee des Konsumenten zu einer Geschmacksrichtung produktbil­dend ist. Die Phase der Produktentwicklung ist aus Kundensicht dann (vorläufig) abge­schlossen, wenn er oder sie die bevorzugte(n) Geschmacksvariante(n) zusammengestellt hat. Die Phase der Implementierung ist abgeschlossen, wenn der Kunde das Getränk erhält.

Alle drei Phasen werden also innerhalb kürzester Zeit durchlaufen. Coca-Cola hat mittels der Automaten die Voraussetzungen für eine permanente Neuproduktentwicklung durch Kundenintegration geschaffen. Dabei behalten sie sich vor, besonders beliebte Varianten als Standarderfrischungsgetränk auf den Markt zu bringen. Solche krea­tiven Geschäftsmodelle gründen also auf der aktiven Beteiligung von Millionen an Kun­den, die jenseits der Produktinnovation auch eine Stärkung der Kundenlo­yalität gegenüber dem Unternehmen erzeugt.

Gemeinhin wird unterstellt – und das zeigen diese Beispiele sofort ­–, dass die Integration des Kunden eine positive direkte oder indirekte Wirkung besitzt. Ein Grund dafür ist, dass es erfolgreiche Innovationen zumeist erfordern, bestehendes Wissen, in diesem Fall internes wie externes, neu zu kombinieren. In der Regel, wenn auch nicht immer, wissen die Kunden am besten, was sie wollen. Das so quasi gemeinsam geschaffene Produkt führt i.d.R. auch zu einer erhöhten Akzeptanz seitens der Kunden. Die Firmen sind ihrerseits mit dem technischen Produktionswissen zur Erfüllung dieser Kundenbedürfnisse ausgestattet. Eine oftmals perfekte Kombination, natürlich mit einer asymmetrischen Auszahlungsmatrix.

Zusammenfassend formuliert, hat sich damit ein Wandel „from value creation for to value creation with customers“ vollzogen. Kunden mutieren hier sozusagen zu Co-Entwicklern auf Augenhöhe oder gar zu Innovationsführern. Folge: eine erhöhte Produktqualität, ein geringeres Risiko von Fehlentwicklungen, wachsende Effizienz und erhöhte Marktakzeptanz bei erfolgreicher Integration.

Social Media in der Kundenintegration

Social Media (Facebook etc., aber insbesondere auch Plattformen, die das Unternehmen selber geschaffen hat) erhalten ihren Mehrwert im Rahmen der Kundenintegration dadurch, dass sie etwas ermöglichen, was bei traditionellen Einbindungsmethoden nicht oder nicht in dieser Art funktioniert, bspw. die regelmäßige, unkomplizierte und schnelle Kommunikation mit den Kunden. Besonders hervorzuheben ist hier auch die Kommunikation der Kunden untereinander, die entscheidend dazu beitragen kann, dass sich die emotionale Verbundenheit mit dem Produkt und Unternehmen erhöht. Herauszustellen sind somit die entstehenden Geschwindigkeiten, in denen Informationen ausgetauscht werden, wie auch die Gruppendynamiken, die hier entstehen. Als „digital natives“ sind insbesondere Kunden der Generation Y und Generation Z Enthusiasten innovativer (mobiler) Technologien.

Fallbeispiel Lego

Auf der Website „Lego Ideas“ haben Lego Fans aus der ganzen Welt die Möglichkeit, ihre eigenen Sets zu designen (vgl. Lego 2019). Diese Ideen werden anschließend auf der Website veröffentlicht und zur Abstim­mung freigegeben. Erreicht ein Vorschlag innerhalb einer gewissen Zeit mehr als 10.000 Likes, wird er von einer Gruppe von Lego-Mitarbeitern bewertet. Verläuft auch diese Bewer­tung positiv, wird das Set produziert und regulär in den Geschäften vertrieben. Innerhalb der Community haben die Nutzer ein eigenes Profil, auf dem die verschiedenen Vorschläge zu sehen sind und kommentiert werden kön­nen. Ersichtlich sind die Vorschläge aber auch über die Startseite der Com­munity. Nach der Markteinführung werden die Entwickler am Gewinn beteiligt. Bei diesem Fallbeispiel obliegt die Konzept- wie auch die Produktentwicklung allein dem Kunden. Das Unternehmen ist erst ab der dritten Phase, der Implementierung, an der NPE beteiligt.

Trotz der genannten Vorteile werden Social Media von den meisten Unternehmen allerdings noch nicht zur NPE verwendet. So hapert es neben der Unkenntnis der Möglichkeit an sich vielfach an Mut wie auch an Umsetzungskompetenz. Überdies spielt aber auch die Unsicherheit darüber, wie und wann die Kunden via Social Media am besten einzubinden sind, eine Rolle. Dazu kommt, dass es nicht allein ausreicht, dieses Wissen zu erlangen, sondern es muss auch in einer angemessenen Weise in den NPE-Prozess des Unternehmens integriert werden. Dazu sind wiederum spezielle organisatorische Fähigkeiten notwendig. Dies macht deutlich, dass positive Effekte der Kundenintegration maßgeblich von der Stärke der Unternehmung auf diesem Gebiet abhängig sind.

Führung durch den Kunden?

Unternehmen sollten zu Beginn definieren, was sie sich genau von der Zusammenarbeit mit den Kunden erhoffen. Wer beispielsweise radikale Produktentwicklungen anstrebt, der sollte den Kunden bereits in der Konzeptentwicklung hinzuziehen. Lead-User können die Kommunikation zwischen dem Unternehmen und Kunden hier vereinfachen. Wem eine kürzere „Time to Market“ wichtig ist, der sollte den Kunden nicht unbedingt in die Phase der Produktentwicklung integrieren. Wem hingegen vor allem an einer positiven Einstellung des Kunden zum Produkt gelegen ist, dem ist zu einer möglichst frühzeitigen Einbeziehung zu raten. Und wer ein Feedback zu einem entwickelten Produkt vor dessen Markteinführung benötigt, um bspw. inkrementelle Verbesserungen vornehmen zu können, der integriert den Kunden idealerweise in der Implementierungsphase.

Weiter ist festzuhalten, dass es keine Phase gibt, die per se für die Kundenintegration (un-)geeignet ist. Die Integrationsphase muss vielmehr individuell den Zielen des jeweiligen Unternehmens als Ganzes angepasst werden. Dann kann die Integration dem Unternehmen in jeder Phase einen Mehrwert bieten.

Deutlich zu machen ist ferner, dass die Unternehmen bei der Integration der Kunden stets auch Risiken zu bedenken haben, die mit dem erwarteten Nutzen abzugleichen sind. Neben einem möglicherweise unschönen Wissensabfluss an die Konkurrenz sowie vielleicht auch eher umständlichen Annäherungen an den Kunden kann sich bei eben diesem zuletzt auch eine große Unzufriedenheit entwickeln, sollte das Projekt scheitern. Schließlich hat der Kunde eigene Ressourcen investiert und erwartet dementsprechend, dass seine Ideen berücksichtigt werden und das neue Produkt auch wirklich auf den Markt gebracht wird. Im schlimmsten Fall beeinflussen solchermaßen frustrierte Kunden auch noch die Einstellungen anderer Personen in ihrem Umfeld.

Abschließend bleibt festzuhalten, dass Einbindungen von Kunden in die NPE zweifelsohne die Grenze der Organisation nach außen flüssiger macht. Faktisch übernimmt der Kunde ein Stück weit die Führung im Innovationsprozess. Indem er inspirierend auf das interne NPE-Team einwirkt, anregt, anders als bisher an eine Sache ranzugehen oder ggf. sogar bereits Problemlösungen offeriert, beeinflusst er die Denkweise, den Zeit- und Ablaufplan sowie den Output des Entwicklungsteams, dem er im Grenzfall sogar virtuell für eine Zeitspanne angehört. Es wird also in wesentlicher Weise in die Organisation der Produktentwicklung durch den Kunden eingegriffen. Sofern sein Einfluss direkt oder indirekt akzeptiert wird, liegt eine phasenweise Führung durch den Kunden vor, auch wenn er nicht die formale Entscheidungskompetenz für irgendetwas besitzt.

Dies ist aus der Führungswarte keine unproblematische Entwicklung, denn die gesamte Verantwortung für die Folgen verbleibt im internen NPE-Team. Dessen Leitung steht im Misserfolgsfall vor einem Dilemma: Verwehrt sie aus Überzeugung den Führungsanspruch des Kunden und die Konkurrenz macht das Rennen, heißt es: „Es lag doch alles auf dem Tisch, wie konntet ihr das nicht sehen“. Kommt sie dem nach, und es floppt, heißt es: „Wofür werdet ihr eigentlich bezahlt, wenn der Kunde hier sagt, wo es langgeht“. Hier müsste auch forschungsbezogen genauer hingeschaut werden. Für die Praxis kann die Empfehlung momentan nur lauten, die Spielregeln mit der Geschäftsführung vorab festzulegen und möglichst viel eigene Erfahrung mit der Kundenintegration in dem Innovationsprozess zu sammeln.

Coca-Cola Journey (2019): Dein Geschmack – deine Mischung: Coca-Cola Freestyle. https: //www.coca-cola-deutschland.de/stories/coca-cola-freestyle, Zugriff: 07.04.2019

Lego Ideas (2019): https://ideas.lego.com/#all, Zugriff: 07.04.2019

Moon, H. / Johnson J. L., Mariadoss, B. / Cullen, J. B. (2018): Supplier and Customer Involvement in New Product Development Stages: Implications for New Product Innovation Outcomes. International Journal of Innovation and Technology Manage­ment, 15(1), S. 1850004-1-1850004-21.

Volgmann, Kira (2018): Integration des Kunden in den Neuproduktentwicklungsprozess unter besonderer Berücksichtigung von Social Media – Eine systematische Darstellung und kritische Würdigung. Bachelorarbeit, TU Dortmund.