YAKOBCHUK VIACHESLAV

Die Psychoanalyse vertritt, dass die individuelle Entwicklung des Menschen und gesellschaftlich historische Entwicklungen von Kultur und Menschheit als Ganzes betrachtet werden müssen. Die Entwicklung des Selbstgefühls, das sich in einem Individuum breit macht, hängt stark von seinen psychischen Determinanten (Bindungsverhalten, Zuwendung, Geborgenheitsgefühl) in der frühen Kindheit ab. Das bleibt nicht ohne Auswirkungen auf seine Führungsambitionen und sein Führungsverhalten.

Frühe Entwicklungsprozesse formen Menschen

Frühe Entwicklungsprozesse sind aus psychoanalytischer Sicht in zweierlei Hinsicht zu beachten. Zum einen zeigt sich durch die Säuglingsforschung, dass die Bindung zwischen Säugling und primärer Bezugsperson eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung des Selbstgefühls spielt. Bei einer sogenannten stabilen Bindung kann sich der sich entwickelnde Mensch mit Selbstrepräsentanzen (Wahrnehmungen über sich selbst auch in der Differenz zur Außenwelt) ausstatten, die ihm Sicherheit in der Welt verschaffen, in der er sich selbst geachtet und anerkannt fühlt und auch Außenobjekte wohlwollend betrachtet, ohne diese in irgendeiner Weise entwerten zu müssen. Bei instabilen Beziehungen hingegen kann es zur Entwicklung eines pathologischen Größenselbst kommen, womit sich erwachsene Menschen oberflächlich betrachtet sozial geordnet verhalten. Einerseits zeigt sich häufig eine extreme Selbstbezogenheit, ein übermäßiges Bedürfnis nach bewundert werden, Neid und Misstrauen, eine mangelnde Empathie und parasitäre Ausbeutung Anderer. Andererseits kann auch ein stark ausgeprägtes Minderwertigkeitsgefühl die Folge instabiler früher Beziehungen sein.

Dieses Minderwertigkeitsgefühl sowie die oben beschriebenen Affekte stehen häufig in Zusammenhang mit den in der frühen Beziehung entstandenen Mustern wie Entwertung, dem Gefühl, eigentlich unerwünscht auf der Welt zu sein, dem Erleben, nicht angenommen zu werden oder nur zu stören. Weiterhin gibt es aber auch den Mechanismus, dass Menschen überversorgt werden. Dies führt oft in unrealistischer Weise zu Verkennungen der eigenen Möglichkeiten sowohl in kognitiver als auch in emotionaler Hinsicht. Also zusammengefasst: eine emotionale Unterversorgung im Sinne des unbeachtet und abgelehnt Werdens einerseits, aber auch der unrealistischen Zuschreibung von Größenphantasien durch die Eltern oder die primäre Objektperson andererseits, kann eine narzisstische Persönlichkeitsstruktur befördern.

Führungspersönlichkeiten und der Umgang mit Macht

Individuen, die sich unter Bedingungen von Unter- oder Überversorgung entwickeln, neigen in hohem Maße dazu, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstand durchzusetzen. Oder anders ausgedrückt: Macht als struktureller Einfluss von Steuerungsfunktionen innerhalb wirtschaftlicher, politischer und sozialer Strukturen wird von Individuen häufig benutzt, um ihre Größenphantasien oder ihre Minderwertigkeitsgefühle zu kompensieren. Macht wird also im Wesentlichen dazu hergenommen, narzisstische Bedürfnisse von Allmachtsphantasien einerseits oder Minderwertigkeitsgefühlen andererseits in Schach zu halten.

Für Führungspersönlichkeiten spielt die zwischenmenschlich sich ereignende Macht eine wesentliche Rolle. Zentrale Machtmittel können sich in Institutionen und hierarchischen Strukturen häufig folgendermaßen zeigen: Rollenzuschreibungen, Sanktionen und mangelnde Anerkennung. Darüber hinaus können im Einzelnen bei einer weiteren Subjektivierung Unterwerfung oder Abhängigkeiten zu Tage treten.

Was sich gesellschaftlich in Institutionen und hierarchischen Strukturen abbildet, kann häufig mit Erlebnisformen der frühen Kindheit in Beziehung gebracht werden. Wenn sich ein pathologischer Narzissmus in der frühen Kindheit entwickelt hat, so ist der Antrieb zu Machterwerb und Machtmissbrauch besonders stark ausgeprägt. Dahinter steckt häufig ein Ohnmachtserleben, aber auch die Sehnsucht nach Anerkennung und Bewunderung, die durch die narzisstische Kompensation von Macht ausgeglichen werden kann. Insofern drückt sich Macht als ein gesellschaftlich hergestellter und wahrgenommener handlungsrelevanter Aspekt des gesellschaftlichen Interaktionsprozesses aus, findet sich aber auch in innerpsychischen Konflikten wieder. Deshalb ist Macht als Konstrukt die soziale Deutungsform für das, was sich auf individuellem Niveau intrapsychisch abbildet.

Folgen für das Führungsverständnis

Was heißt das nun für Führungspersönlichkeiten und gesellschaftliche Strukturen, wo es um Macht und Führung geht?

Greifen wir die für eine funktionierende Gesellschaft wichtigen Erkenntnisse von Habermas auf, indem wir seine Theorie des kommunikativen Handelns in den Blick nehmen.

Kommunikation heißt dialogischer Austausch zwischen gleichberechtigten Partnern, wobei beiden die Aufgabe zufällt, Empathie dafür zu entwickeln, sich auf den Standpunkt des Anderen zu stellen (wie dies auch in ähnlicher Weise Karl Jaspers ausgeführt hat).

Die Fähigkeit sich auf den Standpunkt des Anderen zu stellen, setzt die psychische Reife voraus, eigene Fehler und Schwächen zu reflektieren und auch Änderungen der subjektiven Weltsicht vorzunehmen. In hierarchischen Strukturen kommt diese Selbstreflexion oft zu kurz, weil Menschen in Führungspositionen dazu häufig nicht in der Lage sind. Grund ist, dass Selbstbezug und die über die Machtfülle kompensierten Minderwertigkeits­gefühle dies nicht zulassen.

Wenn aber davon auszugehen ist, dass kommunikatives Handeln voraussetzt, dass Menschen auf Augenhöhe miteinander verhandeln, so ist zwingend erforderlich, dass Führungspersönlichkeiten, die diese Fähigkeit nicht entwickeln können, sich einem Selbsterfahrungsprozess (Fähigkeit eigene Gefühle in Beziehungen zu reflektieren) unterziehen. Nachdem sich in Machtstrukturen, ob dies nun in der Wirtschaft, in Krankenhäusern oder in politischen Institutionen ist, Menschen sammeln, denen häufig die Fähigkeit zur Selbstreflexion abgeht, scheint es für eine Weiterentwicklung nicht nur der Psyche des Einzelnen sondern auch der „Psyche der Gesellschaft“ erforderlich, in reflexive Dialoge einzutreten. Leider zeigt sich, dass sich trotz des technischen Fortschritts und der Aneignung von Wissen über die Natur auf der Ebene der Emotionalität und der psychischen Reife wenig weiter entwickelt hat.

Hierzu hat bereits der Philosoph Johann Gottfried Herder, der 1774 eine Schrift mit dem Titel „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“ verfasst hat, Wesentliches weitsichtig formuliert. Danach ist es, was die psychische Entwicklung der Menschen anlangt, zu einem Stillstand gekommen. Ganz vereinfacht ist dies darin zu erkennen, dass gesellschaftliche Positionen dadurch erreicht werden, dass die entsprechenden kognitiven Fähigkeiten abgefragt und überprüft werden. Die Frage nach der emotionalen Reife oder der psychischen Entwicklung spielt beim Ergreifen eines Berufs, auch wenn mit Menschen gearbeitet wird, z.B. Lehrer*innen, Arzt*innen oder auch bei Führungspersönlichkeiten in der Wirtschaft oder im Justizwesen, keine Rolle. Theoretisch können auch Menschen mit sadistischen Impulsen oder sexuellen Perversionen jeden Beruf ergreifen, wenn sie nur die entsprechenden Examina vorweisen. Dass solche Strukturen eine weitere Fortentwicklung gerade auch im gesellschaftlichen Kontext hemmen, liegt offensichtlich auf der Hand.

Ein Beispiel aus der Führungspraxis

Es ging um die Bewerbung um einen Geschäftsführerposten bei einem größeren Krankenhaus. Es gab viele Bewerbungen, einer der Bewerber hatte sich besonders hervor getan (Betriebswirtschaftler), fiel aber schon bei den Gesprächen dadurch auf, dass er sehr auf sich bezogen war und die Tendenz hatte, sich im Vergleich zu anderen besser darzustellen.

Ich erhob eine Anamnese bei der sich zeigte, dass er der jüngste von drei Kindern war, die älteren beiden Geschwister waren acht und sechs Jahre älter als er. Die Mutter war bei seiner Geburt schon 40 Jahre alt. Er berichtet, dass er sich immer bemüht hat, bei den Eltern besonders gut dazustehen, insbesondere zur Mutter gab es eine enge Beziehung. Wenn es Konflikte in der Familie gab, wurden meist die älteren Geschwister dafür verantwortlich gemacht. Dies führte dazu, dass er von den älteren Geschwistern ausgegrenzt wurde, sich als ausgeschlossenen Dritten empfand und sich dann noch stärker insbesondere der Mutter anschloss. Das Gefühl, ausgeschlossen zu sein, konnte er aber kaum wahrnehmen. Bei Nachfragen zeigte sich, dass es ihm in der Schulzeit und im Studium ähnlich erging. Er berichtete, dass er immer sehr guten Kontakt zu Lehrern und Professoren hatte, aber mit gleichaltrigen Kommilitonen kaum in Kontakt kam. Auch in seinem Berufsleben ist ihm dies mehrmals passiert. Auch hier kann von außen ein Ausschluss aus der Peergroup beobachtet werden, was er aber selbst nicht wahrnahm.

In einer psychodynamischen Sitzung, die mit den acht Bewerbern durchgeführt wurde, zeigte sich dann das gleiche Verhalten wie in seinem gesamten Leben, insbesondere in der Kinderzeit, wo er es gewohnt war, sich mit den „Mächtigen“, also dem Gruppenleiter, gut zu stellen, wohingegen er keinerlei Impuls hatte, sich mit seiner Peergroup zu arrangieren oder gar einen engeren Kontakt suchte.

Psychodynamisch schien sich folgendes abgespielt zu haben: Die Mutter, bei seiner Geburt 40-jährig, hat ihn als unerwünschtes drittes Kind erlebt, was sie eigentlich nicht mehr wollte, sie habe unter Umständen auch Abtreibungsphantasien gehabt, was dann zu massiven Schuldgefühlen geführt hat. Mit seiner Geburt und dem Heranwachsen entwickelte die Mutter dann immer stärkere Schuldgefühle und hat ihn deshalb stark an sich gebunden, um sich innerlich zu beweisen, dass sie den Sohn eigentlich doch haben wollte. Unbewusst hat er dies gespürt, so dass er auch selbst der Mutter beweisen wollte, dadurch, dass er sich an sie anpasste, dass es doch schön sei, dass es ihn gibt. Dass dies gleichzeitig zum Ausschluss von seinen Geschwistern geführt hat und dass er später in seiner Peergroup immer der Ausgeschlossene war, hat er nicht wahrgenommen. Dem Bewerber wurde eine Psychotherapie angeraten, da er in engerer Kooperation sich als nicht teamfähig erwiesen hat. In einem normalen Assessementcenter wäre diese Problematik nicht sichtbar geworden.

Plädoyer zur Anreicherung der Auswahl von Führungskräften

Zusammengefasst kann deshalb gesagt werden: Führungspersönlichkeiten dürfen nicht nur nach ihren kognitiven Fähigkeiten beurteilt werden, sondern müssen auch nach ihrer emotionalen Reife und der Fähigkeit, kommunikativ zu handeln, ausgewählt werden. Studien aus den Vereinigten Staaten zeigen, dass sich in gesellschaftlichen Strukturen, in denen dies umgesetzt wird, individuelle Entscheidungen auf Teamentscheidungen verlagern und sehr viel effektiver und produktiver gearbeitet wird. Die Ergebnisse in den Bereichen, ob dies Forschungseinrichtungen oder Wirtschaftsunternehmen sind, lassen sich dadurch erheblich steigern.

Die Einbeziehung psychischer Entwicklungen, die das Individuum betreffen, müssen gerade bei Führungspersönlichkeiten stärker beachtet werden.

Frühe Bindungen prägen stark die Bindungs- und Reflexionsfähigkeit des erwachsenen Menschen. Gelingende „Führung“ auf Augenhöhe fordert Menschen mit eigener Selbsterfahrung und der Erkenntnis, wie sie mit ihren Affekten umzugehen haben.

Die in psychosomatischen Einrichtungen vorliegenden Selbsteinschätzungs­fragebögen können bei der Auswahl von Führungspersönlichkeiten genutzt werden. Darüber hinaus würden ein bis zwei Gruppensitzungen auf psychodynamischer Grundlage einen ersten Überblick ermöglichen, ob auffällige Persönlichkeitsmerkmale vorliegen.

Die in den Assessmentcentern durchgeführten psychologischen Verfahren greifen zu kurz, da sie schwerpunktmäßig leistungsorientiert ausgerichtet sind. Darüber hinaus ist es sinnvoll, dass Führungspersönlichkeiten eine ständige Begleitung erhalten, die ihnen möglich macht, eigenes Verhalten zu reflektieren.