Die Bindung an die Organisation sinkt, nicht zuletzt bedingt durch die Pandemie, aber auch durch die organisationsseitig verzweifelte Suche nach kompetenten Führungskräften wie Fachexpertise. Immer attraktivere Angebote werden für Erfahrung und Talent bereitgehalten. Aber man sollte sich auch die andere Seite der Personalbewegung ansehen, salopp gesprochen den freiwilligen Abgang. So stellen wir heute ein verhaltensbezogenes Phänomen in den Mittelpunkt, das in Organisationen dramatisch unterschätzt wird: die „Fluktuationsansteckung“ (turnover contagion). Leadership Insiders erläutert die wesentlichen Fakten und spricht Zusammenhänge an, die hinter diesen Befunden liegen. Wem also der Verlust von Teammitgliedern oder rund 100.000 EUR für eine Neubesetzung im Managementbereich nicht gleichgültig sind, dem wird empfohlen, weiterzulesen.
Fluktuationen können ansteckend sein
Available data suggest that organizations are not very good at retaining employees.
Die meisten Mitarbeiter treten mit Begeisterung und Energie in ein Unternehmen ein. Wenn es jedoch im Laufe der Zeit zu einer Inkongruenz zwischen den Erwartungen des Mitarbeiters und dem, was er am Arbeitsplatz erlebt, kommt, lassen Energie und Begeisterung oftmals nach. Die Mitarbeitenden erleben stattdessen Stress bei der Arbeit und sind besorgt darüber, was von ihrem Arbeitgeber noch alles zu erwarten ist. Folge: Aufbau einer Distanz zu ihrer Arbeit, ihren Kollegen und dem Unternehmen (Srinithi/Sivapragasam 2021, 7). Aus einer größeren empirischen Studie wissen wir – wer sich für Details interessiert – dass die einer Kündigung vorausgehende Kündigungsabsicht dann aussagefähiger für eine später vollzogene Kündigung ist, wenn die zeitliche Orientierung der Mitarbeitenden vergangenheitsorientiert ist, d.h. der Blick richtet sich kaum mehr nach vorn (Peltokorpi u. a. 2022). Damit fällt wohl die Hoffnungskomponente, sprich: auf Besserung, weg oder ist zu schwach, um ausgleichend zu wirken.
Das ist aus Organisationssicht selten schön, da die (besten) Mitarbeitenden womöglich zur Konkurrenz wechseln, gegebenenfalls ein eigenes Geschäft aufmachen, Kunden mitnehmen und mindestens indirekt geschützte Produktinformationen im Kopf haben. Im Extrem werden Betriebsgeheimnisse weitergegeben oder Sabotage verübt, wie Timothy Gardner von der Utah State University in 2018 anmerkt, wobei meines Erachtens IT-Systeme hier besonders einladend sind – dies alles, wie zurecht betont wird, obwohl viele Organisationen einiges unternehmen, dem vorzubeugen: Anreiz- und Investitionsmaßnahmen im Personalmanagement, Anstrengungen zur Verbesserung der Arbeitszufriedenheit und des Engagements sowie einiges mehr, wie der New Work-Diskussion zu entnehmen ist. Dennoch erreichen Wechselhäufigkeiten momentan historische Spitzenwerte.
Die betrübliche Nachricht aus Organisationssicht ist nun die, dass es mit dem Verlust des einen Mitarbeitenden leider nicht immer getan ist, sondern dass wir ganz im Gegenteil erkennen können, dass Abgänge auch einen Ansteckungseffekt besitzen. Hierzu hat die kanadische Unternehmung Visier eine ganz aktuelle Studie (2022) vorgelegt, die genau dies Daten getrieben näher bestimmt. Mitverantwortlich für diese Studie war auch Andrea Derler, die wir hier bei Leadership Insiders, zuletzt als Gastautorin, gut kennen.
Ausgangspunkt war die Überlegung, dass Entscheidungen zur Kündigung selten isolierte Entscheidungen sind, sondern immer in einem sozialen Setting passieren. Um hier tieferen Einblick zu erlangen, wurden Millionen Datensätze von über 86 Organisationen mit mehr als 1000 Beschäftigen in verschiedensten Regionen erhoben. Methodisch wurde so vorgegangen, dass zwei Arten von Teams hinsichtlich ihres Kündigungsverhaltens verglichen wurden. Gegenübergestellt wurden (1) Teams, in denen Kündigungen beim selben/bei derselben Vorgesetzten auftraten (Anschlusskündigung durch eine oder mehrere weitere Personen), mit dem (2) Kündigungsverhalten in Teams, die nicht dieselbe Teamleitung hatten. Diese Teams wurde zufällig, aber nach vergleichbaren Kriterien wie die Teams unter einer Leitung, organisationsweit zufällig allein zur Berechnung des Effekts zusammengestellt.
Die zentrale Botschaft ist, dass es um 9,1 % wahrscheinlicher ist, dass nach einer Kündigung eine weitere Kündigung im selben Team unter derselben Leitung innerhalb der nächsten 135 Tage auf den Tisch liegt als dies bei Mitarbeitenden der Fall ist, die nur künstlich ein Teams bildeten. Dieser Effekt war für kleinereTeams ausgeprägter, beispielsweise waren es bei der Teamgröße von 6-10 Personen, also einer Größe, die man als durchschnittlich bezeichnen kann, bereits 14,6 %. Bei Teams, die 30 Mitarbeitende und mehr hatten, sank diese Wahrscheinlichkeit auf 6,8 %. Gut zweieinhalb Monate nach der ersten Kündigung im Team war die Wahrscheinlichkeit am höchsten, dass weitere folgen. Dieser Ansteckungseffekt manifestiert sich sichtbar mehrheitlich erst nach 45 Tagen oder anders formuliert: 6 Wochen gehen in der Regel ins Land, bevor sich etwas tut.
Wir erkennen also tendenziell ein Muster, was wir aus dem Bereich der emotionalen Ansteckung in Gruppen erleben. Dort wurde dieser Effekt u. a. bei der Verbreitung von Charisma untersucht. Dokumentationen von Ansteckungseffekten finden wir, anders gelagert, übrigens bereits in den Berichten zur Tanzwut/Tanzsucht im 14. und 15. Jahrhundert, in den Personenverbrennungen des Mittelalters, gezielter analysiert in der Massenpsychologie (z. B. bei Umstürzen), aber auch in den bekannten psychoanalytischen Studien zur Hysterie im Wien des späten 19. Jahrhunderts. Der Mensch ist eben ein soziales Wesen.
Anzeichen einer Kündigung vor Eintritt der Kündigung
Die Frage, die sich als Führungskraft sofort stellt, ist, ob es möglicherweise Anzeichen gibt, die ein späteres Kündigungsverhalten vorab erkennen und damit potenziell auch vermeiden lassen. Sicherlich gibt es hier keine endgültigen Gewissheiten, doch wurden in der Forschungsgruppe um Gardner (2018) zumindest einige Warnhinweise näher bestimmt. Vor allem sind es folgende Verhaltensweisen, die wir dort einem entsprechend erarbeiteten Fragebogen entnehmen:
- Die Arbeitsproduktivität verschlechtert sich stärker, als es jemals zu erwarten gewesen wäre.
- Die Übernahme einer lediglich Minimumlast ist häufiger als zuvor zu beobachten.
- Weitergehende Verpflichtungen freiwilliger Natur werden tunlichst gemieden.
- Die betreffende Person ist nicht mehr der Teamplayer, die sie einmal war.
- Es scheint so, als hätten sich früher geschätzte Einstellungen verändert.
- Es werden weniger Anstrengungen unternommen, der Führungskraft gefallen zu wollen.
- Längerfristige Verpflichtungen werden nicht mehr eingegangen.
- Unzufriedenheit über den Job oder die Führungskraft werden deutlicher geäußert.
- Dort, wo Kundenkontakte eine Rolle spielen, lässt der Eifer in der Zusammenarbeit mit dem Kunden nach.
Solche und andere Merkmale (biografische, sozio-demographische, kontextuelle) macht sich das schnell wachsende Feld der „Predictive Analytics“ zu Nutze, wo mit größeren Datenmengen versucht wird, Muster im Verhalten von Personen zu finden und deren zukünftiges Verhalten mit einer angegebenen Wahrscheinlichkeit vorherzusagen. Gelingt dies, dann könnten Organisationen jene Fähigkeit erlangen, von der mir ein Entwickler von Videospielen einmal glaubhaft versicherte, dass er sie besäße: nämlich zu wissen, wann die Spieler (Kunden) das Videospiel, was sie gerade nutzen, langweilig finden werden, bevor diese es selbst bemerken. Ethische Fragen, die bei tieferer Betrachtung zu stellen und zu beantworten wären, seien hier nicht weiterverfolgt.
Fazit
Wenn wir nur mit einer ernst zu nehmen Wahrscheinlichkeit annehmen dürfen, dass die Kündigung eines Teammitglieds weitere Kündigungen nach sich zieht, so sollten die Antennen der Führungskräfte und der Personalabteilung, bei Häufung der Geschäftsführung, bei jeder Kündigung aufgestellt sein. Möglicherweise kann ja noch eine folgende Kündigung verhindert werden. Mir berichtete beispielsweise vor Kurzem eine Mitarbeitende, die sich zur Kündigung entschlossen hatte, davon, dass sie das nach ihrer Kündigung stattfindende Gespräch mit dem für ihren Funktionsbereich zuständigen Vorstand davon abgehalten habe, ihre Kündigung tatsächlich zu vollziehen. So oder so: Aus jeder Kündigung kann man lernen, sofern man klug damit umgeht. Das hierfür passende Instrument bei definitivem Vollzug ist das Austrittsinterview, in dem noch einmal darüber gesprochen wird, welche Motive oder Ereignisse dieser Kündigung konkret zugrunde lagen. Es ist vollkommen unverständlich, dass dies in sehr vielen Organisation heute noch kein Standardinstrument ist.
Selbstredend ist der Königsweg, im Vorfeld alles zu unternehmen, die Bedingungen so zu gestalten, dass die Wahrscheinlichkeit für eine Kündigung minimiert wird. Ein Patentrezept zur sicheren Vermeidung von Ansteckungsgefahren gibt es jedoch nicht.
Eine geringe Fluktuation, die aufgrund der Attraktivität des eigenen Hauses zeitnah und ohne größeren Aufwand ausgeglichen werden kann, ist wiederum durchaus wünschenswert, um neue Charaktere, Ideen und Perspektiven in das Team hereinzuholen. Voraussetzung ist aber auch, dass ein umsichtiger Onboarding-Prozess stattfindet, um das gewonnene Teammitglied bestmöglich in das Team und die Organisation zu integrieren, allerdings ohne die angestrebte, wertvolle Andersartigkeit glattschleifen zu wollen.
Aus meiner Sicht gilt es, mit einem natürlichen Phänomen intelligent umzugehen und alles dafür zu tun, dass es zu keinem unnatürlichen wird. Aber das und mehr unterscheidet Organisationen eben voneinander. Die Folge? Manche strahlen hell und andere versinken lautlos. „Mehr Licht“ gilt also auch hier.