Weiter so oder Schluss damit?
Interview mit Prof. Dr. Veronika Brandstätter, Universität Zürich, zu Zielkonflikten bei der Verfolgung beruflicher Ziele von Führungskräften
Leadership Insiders: Sie sind eine der führenden Expertinnen in Sachen Motivationspsychologie. Worum geht es da?
Brandstätter: Die Motivationspsychologie befasst sich als grundlegendes Fach der Psychologie mit den Beweggründen und der Steuerung menschlichen Verhaltens, wobei zielgerichtetes Verhalten im Mittelpunkt steht. In anderen Worten: die Motivationspsychologie beschäftigt sich mit den Bedingungen erfolgreichen Zielstrebens. Und als erfolgreich gilt Zielstreben dann, wenn eine Person die „richtigen“ Ziele wählt, ihre Umsetzung sorgsam plant und schließlich auch trotz Unterbrechungen, Ablenkungen oder gar Rückschlägen auf Zielkurs bleibt – kurz gesagt Hartnäckigkeit und Ausdauer beim Handeln an den Tag legt.
Leadership Insiders: Typischerweise wird dies mit erfolgreicher Führung verbunden.
Brandstätter: Ja, keine Frage. Ohne eine gewisse Hartnäckigkeit würden Führungskräfte vielfach keines ihrer Ziele erreichen, viel wichtiger: Sie würden keinerlei Führungskompetenzen erworben haben. Lassen sie mich ein Beispiel in Bezug auf die menschliche Entwicklung bringen: Als Kinder hätten wir nicht einmal laufen gelernt, hätten wir nach den ersten erfolglosen Versuchen, uns auf den Beinen zu halten, einfach aufgegeben. Der Ausdauer beim Zielstreben, gerade auch angesichts von Schwierigkeiten, kommt also große Bedeutung zu. Kein Wunder, dass es sich um eine soziale Norm handelt, dranzubleiben und nicht aufzugeben, auch wenn es mühsam ist – was in Sprichwörtern und Erziehungsgrundsätzen zum Ausdruck kommt: „Was man angefangen hat, führt man zu Ende“, „Der Weg zu den Sternen ist steinig“; „Winners never quit, and quitters never win“ (V. Lombardi).
Leadership Insiders: Unbestritten. Der Führungsalltag ist voll von Schwierigkeiten, die eigenen Ziele umzusetzen. Nicht selten tragen andere, Vorgesetzte beispielsweise, aber auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, dazu bei. Der Einfluss darauf ist begrenzt. Wir müssen dann noch sehen, dass Hartnäckigkeit Energie kostet und Festhalten an einem Ziel andere Optionen verschließt. Wir kennen alle diejenigen, die „mit dem Kopf durch die Wand wollen“ und sich dann „eine blutige Nase holen“, weil sie ihre Kräfte überschätzen und die Situation falsch einschätzen. Das kann dann nicht mehr funktional sein.
Brandstätter: Das ist in der Tat die andere Seite der Medaille. Wenn die weitere Zielverfolgung mit zu großen Unannehmlichkeiten verbunden und ein erfolgreicher Abschluss mehr als fragwürdig geworden ist, bringt hartnäckige Ausdauer auch negative Folgen mit sich. Zahllose Beispiele aus dem Bereich der persönlichen Lebensführung, aber auch aus Wirtschaft und Politik zeigen dies: Ein Student, der ein einmal gewähltes Studienfach trotz anhaltender Misserfolge und obwohl es seinen Fähigkeiten und Neigungen nicht entspricht, weiterstudiert. Industrielle Projekte, die häufig auch dann noch fortgeführt werden, wenn die Kosten in keinem Verhältnis mehr zum erwarteten Ertrag stehen und man „gutes Geld schlechtem hinterherwirft“. Diese Formen von Ausdauer erweisen sich als unproduktiv oder gar als riskant; sie binden die Handlungsressourcen, z.B. Aufmerksamkeit, Zeit und Geld, die dann nicht für andere Ziele oder Projekte zur Verfügung stehen, und sie machen Menschen unglücklich, sind sie doch mit ständigen Frustrationserlebnissen konfrontiert.
Leadership Insiders: Könnten Sie bitte die Folgen für das persönliche Erleben und die eigene Leistungskraft noch ein wenig ausführen.
Brandstätter: Hier möchte ich die Arbeiten von Martin Seligman, einem sehr einflussreichen US-amerikanischen Psychologen, erwähnen: Anhaltende Rückschläge, die sich trotz großer Bemühung einstellen, erzeugen bei der handelnden Person Gefühle des Kontrollverlusts, was im Extremfall zu Resignation und depressiver Verstimmung führen kann.
Leadership Insiders: Erfolgreiches Zielstreben erfordert also nicht nur Ausdauer, sondern auch die Fähigkeit, sich von Zielen zu lösen. Irgendwann kippt die Stärke und wird zur Schwäche.
Brandstätter: Ja, genau so könnte man es formulieren. Diese Tatsache gewinnt in der modernen Zielforschung erst allmählich Aufmerksamkeit. Im Mittelpunkt der aktuellen Forschung zur Zielablösung, wir sprechen hier vom goal disengagement, steht die Erkenntnis, dass die Zielablösung als Prozess zu verstehen ist, der seinen Ausgang bei einem Zielkonflikt bzw. einer sogenannten Handlungskrise nimmt. Dies bedeute, dass die handelnde Person an einem konkreten persönlichen Ziel zu zweifeln beginnt und der Zielabbruch zu einer Option wird. Motivationspsychologisch verlagert sich die Umsetzungs-Orientierung zurück auf die Entscheidungs-Orientierung. Dies belastet und hemmt – wenn ich es alltagssprachlich ausdrücken darf – man steht auf Gas- und Bremspedal gleichzeitig.
Leadership Insiders: Könnten Sie für das allmähliche Erfahren von Zweifeln ein Beispiel aus der Führungspraxis geben? Was sind das für Erlebniskategorien? Was bedeutet das für die Zielverfolgung selbst? Wird der Bereich verdrängt, gemieden, möglicherweise an Dritte abgeschoben?
Brandstätter: Gerne. Man könnte zum Beispiel an eine Führungskraft denken, die eine Weiterbildung begonnen hat, von der sie sich einen beruflichen Aufstieg verspricht. Tatsächlich erweist sich nach einer gewissen Zeit der Lehrgang aber als praxisfern und ausgesprochen zeitaufwändig, so dass die Person an ihrem Ziel zu zweifeln beginnt. Sie fühlt sich belastet, hat keine Energie mehr für den zusätzlichen Aufwand, will aber dennoch ihr persönliches Projekt nicht einfach so aufgegeben – hat sie doch bereits einiges an Zeit und Geld reingesteckt und alle Kollegen und Bekannten wissen davon usw. Aber diesen Prozess, insbesondere wenn Zielzuversicht in Zielzweifel umschlägt und in eine Handlungskrise mündet, müssen wir noch besser verstehen.
Leadership Insiders: Und hierfür benötigen Sie die Unterstützung von Führungspraktikern, nicht wahr?
Brandstätter: Sicher. Wissenschaftler des Lehrstuhls für Allgemeine Psychologie (Motivation) der Universität Zürich und des Lehrstuhls für Strategie und Organisation der Technischen Universität München beschäftigen sich in einer vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Studie mit der Frage, wie sich unterschiedliche Zielverläufe auf den Führungserfolg von Managern auswirken. Es sollen die bisherigen theoretischen und empirischen Erkenntnisse zu Handlungskrisen auf den Bereich persönlichen Zielstrebens im Beruf übertragen werden. Auch geht es darum, wie relevant das Problem in der Führungspraxis ist und wie häufig es auftritt. Die Daten sollen mittels eines Online-Fragebogens bei einer Stichprobe von Führungskräften erhoben werden.
Leadership Insiders: Was können Sie den Führungskräften als Handlungsstrategie denn bereits jetzt raten, um nicht in die Zielfalle zu tappen?
Brandstätter: Bevor man sich für ein Ziel entscheidet, das Erstrebenswerte mit den Hürden auf dem Weg zum Ziel zu kontrastieren – das hilft, realistische Ziele zu setzen.
Leadership Insiders: Wir bedanken uns.
Über Prof. Dr. Veronika Brandstätter
In ihren Studien zu Theorie- und Praxisaspekten der Motivation erforscht sie die Bedingungen gelungenen Zielstrebens und der Ablösung von allzu problematischen Zielen.
Die so gewonnenen Erkenntnisse nutzt sie in Trainings zur Motivationsförderung in Wirtschafts- und Bildungsorganisationen.