Dieser Beitrag ist Teil der Serie Gastbeiträge

Andere Beiträge in dieser Serie:

  1. Organizational Growth Mindset: The Key To Culture Change? – Ein Gastbeitrag
  2. Über die Zukunft des Führungskräftetrainings – Ein Gastbeitrag
  3. Change Leadership zwischen zwei Stühlen – Ein Gastbeitrag
  4. Der Ideale Mitarbeiter im Kopf der Führungskraft – Ein Gastbeitrag
  5. Leadership in Game of Thrones: Führung ist Beziehungssache – Ein Gastbeitrag
  6. Führungskräfte als Vermittelnde – Attraktive Rolle oder Vorsicht Falle? – Ein Gastbeitrag
  7. Starke Frauen in Serie: Authentische Führung oder nur schöner Schein? – Ein Gastbeitrag
  8. Sexuelle Belästigung in der Arbeitswelt: Wie Führende sich zu verhalten haben – Ein Gastbeitrag

Martin Claßen

Wir, an der Schwelle zu den 2020ern

In Druckwerken, auf Konferenzen und besonders im Internet ist im gerade endenden Jahrzehnt ein Narrativ verbreitet worden, das angestellte Menschen gerne hören: DU DARFST. Du darfst du sein in deinem Job, weil es um dein Leben geht. Und ist dein Job nicht mehr dein Ding, dann findest du leicht einen besseren, der kaum mehr als einen Klick entfernt auf dich wartet. Diese People-Story befiehlt nicht mehr: SIE MÜSSEN. Ein solches Verlangen gab es in der Zeit vor New Work und klingt nach Very Old Economy, als eine Band textete: „Ja, jetzt wird wieder in die Hände gespuckt. Wir steigern das Bruttosozialprodukt.“

Menschenverachtung und Ausbeutung in der frühkapitalistischen Tradition von Manchester, ob einst an der Werkbank oder jetzt vor dem Bildschirm, haben ein Ende gefunden, zumindest hierzulande, jedenfalls in Boomphasen, unleugbar bei Engpassberufen. Durch zwei Pünktchen ist aus dem Fordern das Fördern geworden. Sagt die Story und erzählt weiter: Beim „du darfst“ ist der Vorgesetzte zu deinem ersten Beistand geworden. Er oder sie achtet dich als Mensch, will dich entwickeln („developmental leadership“) und stellt dich und deine Ziele vor seine eigenen („servant leadership“). Und deine Selbstverwirklichung – so nähert sich die Story dem umfassenden Glück – ist nicht nur gut für dich, sondern auch für die Firma, ihre Inhaber, alle Kunden und die ganze Welt. Hier haben wir sie wieder: Die aus dem Kapitalismus bekannte „unsichtbare Hand“, die den Egoismus ins Gemeinwohl führt.

Dieser Beitrag ist Teil der Serie Gastbeiträge

Andere Beiträge in dieser Serie:

  1. Organizational Growth Mindset: The Key To Culture Change? – Ein Gastbeitrag
  2. Über die Zukunft des Führungskräftetrainings – Ein Gastbeitrag
  3. Change Leadership zwischen zwei Stühlen – Ein Gastbeitrag
  4. Der Ideale Mitarbeiter im Kopf der Führungskraft – Ein Gastbeitrag
  5. Leadership in Game of Thrones: Führung ist Beziehungssache – Ein Gastbeitrag
  6. Führungskräfte als Vermittelnde – Attraktive Rolle oder Vorsicht Falle? – Ein Gastbeitrag
  7. Starke Frauen in Serie: Authentische Führung oder nur schöner Schein? – Ein Gastbeitrag
  8. Sexuelle Belästigung in der Arbeitswelt: Wie Führende sich zu verhalten haben – Ein Gastbeitrag

Als Beweis für die Story werden vier Gründe vorgebracht: Erstens, man nennt Vorbilder, von denen paradiesische Zustände berichtet werden und die als Wallfahrtsorte künftiger Arbeitswelten gelten. Es geht also! Zweitens, solche Firmen mit ihrer realen Utopie haben herausragende Zahlen, was durch empirische Evidenz bewiesen wird. Es zahlt sich also aus! Drittens, der demographische Wandel hat die Kräfteverhältnisse im Arbeitsmarkt gedreht. Firmen können gar nicht mehr anders, als ihre Leute in den Mittelpunkt zu stellen. Es muss also sein! Viertens, der Zeitgeist mit seiner Kritik am Kapitalismus verlangt echte und edle Werte, was eine „verpeoplete“ und „verpurposete“ Unternehmensstrategie zum Must-Have werden lässt. Es gehört sich also!

Perspektivenwechsel: Gegen Ende der 2010er-Dekade hat sich der schon zur Normalität gewordene Wirtschaftsschwung deutlich abgeschwächt. Viele Eroberungen von New Work werden urplötzlich infrage gestellt. Das Business neigt mal wieder zum Krisen-Drama, hier und dort erzeugt dies sogar Angst. Immerhin kann der Kickertisch stehen bleiben, der ist längst abgeschrieben. Doch das Topmanagement zeigt eine nicht mehr gewohnte Oldschool-Härte: Vorruhestand, Kurzarbeit, Ansagen statt Mitwirkung, Abschied vom „nice to have“. Und beim Fördern werden die beiden Punkte wegrationalisiert, von heute auf morgen wird Output verlangt. Die Bottom Line, die ökonomischen Regeln, die marktwirtschaftlichen Zwänge sind Prüfkriterien aller Entscheidungen: „Ja, jetzt wird wieder …“

Optimisten und Dienstleister, die kommerziell eng mit der New-Work-Idee verbandelt sind, hoffen, dass sie und ihre Konzepte nur kurze Zeit überwintern müssen, weil der nächste Frühling bestimmt nicht mehr weit ist. Und der in diesem Fall gute Klimawandel noch mehr Wärme bringt. Hingegen befürchten Pessimisten eine längere Eiszeit, die die meisten Errungenschaften der People-Story auf Jahre hinaus einfriert.

Die zwei unsichtbaren Hände, einerseits die des liberalen Marktes von Adam Smith (bis hin zur moralischen Überhöhung à la Ayn Rand) und andererseits das utopische Paradies von Thomas Morus (bis hin zur modernen Wohlfühloase à la Frederic Laloux), haben jeweils zahlreiche Fans. In beiden Extremen darf der Mensch so sein, wie er ist. Und alles wird gut. Das ist zu schön, um wahr zu sein. Weil uns die Geschichte gelehrt hat, dass freie Marktkräfte und feine Menschenkinder erfreulich oft, aber längst nicht immer und überall den allgegenwärtigen Eigennutz ins Gute wenden. Deshalb gibt es regulierende Kräfte für das Zusammenleben und zur Vermeidung von Grenzüberschreitungen: In der kapitalistischen Wirtschaft die ordnungspolitischen Regeln und staatliche Organe; in der humanistischen Wirtschaft die organisatorischen Korrektive wie etwa Performance Management, Compliance Policy und Budget Freeze. Und manches mehr. Weil Laissez-faire in Reinform und unbegrenztes Vertrauen in beide unsichtbaren Hände, egal ob freier Markt oder feiner Mensch, den Stein zwar ins Rollen bringen, gelegentlich aber in seltsame Richtungen.

Wir sind mal wieder in einer Zeit, in der das Arbeitsleben voller Spannungsfelder ist. Und eben deswegen alles andere als eindeutig. Wer die Antwort schon vorher kennt, findet nicht immer die passende Lösung. Es kommt darauf an: Kontext statt Dogma! Mit diesem Leitmotiv habe ich mein neues Buch geschrieben, denn bei Wandelvorhaben gibt es noch mehr Spannungsfelder.

Spannungsfelder: erkennen – abwägen – entscheiden – aushalten

Bei Veränderungen bewegen sich Führungskräfte in Zwickmühlen, Widersprüchen, Zielkonflikten, wie dies etwa der kanadische Management-Guru Roger Martin treffend beschreibt. Unternehmen in einer demokratischen Gesellschaft („ein Mensch, eine Stimme“) und kapitalistischen Wirtschaft („profitables Wachstum“) stehen im Spannungsfeld von Kunden, Eignern, People und dem Ökosystem. Da geschieht vieles, kommunikativ und faktisch, das man persönlich als lästig empfindet. Zur alles andere als einfachen Kunst im Leadership gehört es, bei einer anstehenden Transformation sämtliche Spannungsfelder abzuwägen und auszuhalten.

Dabei führt uns sogar die Sprache leicht in die Irre. Beispiel „Werte“: Werteorientierung kommt immer gut, ist aber doppelsinnig. Die einen sehen Werte ethisch und begehren mehr Wertschätzung. Die anderen denken Werte bilanziell und erwarten mehr Wertschöpfung. Wer auf bestimmte „wahre“ Werte pocht und nach außen mit lauter Stimme vertritt, mag dabei ein Wohlgefühl oder gar einen Stolz ob seiner Haltung empfinden. Zum Dogmatismus ist es aber nurmehr ein kleiner Schritt. Dies gilt übrigens für Philanthropen, für Neoliberale und für all die vielen „Überzeugungstäter“.

Eigentlich bräuchte es den Zusatz „Change“ nicht einmal. Bereits im „Daily Management“ ist Leadership anspruchsvoll, weil kaum eine Aufgabe noch ein Ruhekissen ist, sondern einen Salto verlangt („agil!“). Aber es dürfte klar sein, dass Change Management mindestens den doppelten und oft sogar einen dreifachen Leadership-Salto abverlangt.

Bei Veränderungsprojekten sehe ich 15 besonders wichtige Spannungsfelder. Diese Knacknüsse basieren auf meiner dreißigjährigen Projekterfahrung, der umfassenden Literaturrecherche und dem intensiven Dialog mit anderen Change-Experten. In diesem Beitrag kann ich diese Spannungsfelder nur im Überblick zeigen, ergänzt um eine beispielhafte Skizzierung; sie bilden das Herzstück meines neuen Buchs. Wichtiger sind hier die Art und Weise, wie Change-Leader mit diesen Zielkonflikten umgehen können, damit das jeweilige Wandelvorhaben zum Erfolg wird.

Abbildung 1: Spannungsfelder im Überblick (Claßen 2019, S. 7)

Entscheidungsprozess als Spannungsfeld

Veränderungsprojekte müssen sich mit vielfältigen Sichtweisen auseinandersetzen: „Geht doch!“ „Geht nicht!“ „Geht anders!“ Bei Wandelvorhaben gibt es eine Hochkonjunktur der Meinungen, deren jeweilige Vertreter ihre Beteiligung einfordern, oft mit Verve und Vehemenz. Es treffen hier zwei Weltbilder aufeinander: Einerseits die sogenannte kollektive Intelligenz, also die Weisheit der Vielen, nach der Entscheidungen durch breite Mitwirkung besser werden. Andererseits das sogenannte eherne Gesetz der Oligarchie von Robert Michels. Es ist über einhundert Jahre alt und gilt als eine der wenigen (kaum) umstrittenen Theorien in der Soziologie. Sie besagt, dass Macht nie verschwindet, dass sich in Organisationen stets eine wie auch immer geartete Elite ihrer bemächtigt und dass diese Machthaber nach einiger Zeit vor allem eigene Interessen verfolgen.

Wie geht der Change-Leader damit um?

  • Erfahrung Nummer Eins: Die meisten Change-Leader zeigen ein Entscheidungsverhalten, das ab einem gewissen Moment – hinter einer mehr oder weniger partizipativen Kulisse – vom Zuhören in den Modus „end of discussion“ (EOD) umschaltet. EOD lässt sich mit dem Basta-Meter veranschaulichen, der ist so eine Art „Hau den Lukas“.
  • Erfahrung Nummer Zwei: Der EOD-Punkt ist beim einen früher und bei einer anderen später erreicht. In der Praxis liegt er meist zwischen fünf und sieben. Der Typus „Krisen-Drama“ ist ein zielsicherer Manager und neigt zu Powerplay und eigenmächtigen Entscheidungen ohne jedes Wenn und Aber (Basta-Meter = 10). Sein Antagonist, der Typus „People-Story“, ist ein einfühlsamer Manager mit der Bereitschaft zur Diskussion bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag (Basta-meter = 0). Jedem fallen sofort konkrete Gesichter und Geschichten ein.
  • Erfahrung Nummer Drei: Keine Transformation kommt voran, wenn zu lange hin und her gesprochen und zu wenig entschieden wird.

Partizipation, Interaktion und die offenen Ohren des Change-Leaders sind wichtig, in den 2020ern mehr denn je. Nach dem Zuhören kommt jedoch der Punkt, an dem die Zeit reif ist, zu sagen „so und nicht anders!“ Dann muss der Change-Leader entscheiden. Zur Nagelprobe jeder Transformation wird es, wie lange die Zweifler und Gegner mit ihrem Aber durchkommen. Daher ist die Partizipation endlich. Ansonsten dauert die Transformation unendlich. Wobei Ende der Diskussion kein Ende der Kommunikation bedeutet. Denn nach einer verbindlichen Entscheidung beginnt die breite Information, die zur Bekräftigung ständige Wiederholungen erfordert.

Umgang mit Spannungsfeldern

Für Henry Mintzberg, ein zweiter kanadischer Management-Guru, ist das „ultimative Dilemma“ die größte Schwierigkeit im Business. Er fragt: Wie kann ein Manager mit allen Dilemmas gleichzeitig fertig werden? Spannungsfelder gehören zu den unvermeidbaren Fakten im (Berufs-)Leben. Daher ist es wichtig, dass Strategien zum Umgang mit Dilemmas entwickelt werden. Ich erkenne bei Change-Leadern vier Basisstrategien, die gewählt werden:

Abbildung 2: Umgang mit Spannungsfeldern (Claßen 2019, S. 207)

  • Das Ausleben (Spannungsfelder weder erkennen noch anpacken) bedeutet, sein Dasein ohne Widersprüche zu genießen und einfach so zu tun, als ob das Leben keine Zwickmühlen bereithält.
  • Beim Ausblenden (Spannungsfelder erkennen, aber nicht anpacken) wird das Dilemma zwar gesehen, aber gegenwärtig als bedeutungslos erachtet und zumindest vorläufig ausgeklammert.
  • Das Ausschalten (Spannungsfelder nicht erkennen, aber anpacken) scheint auf den schnellen Blick unmöglich. Wie kann ein Dilemma nicht gesehen, aber dennoch bewältigt werden? Doch ein Dogmatiker macht genau dies, indem er von vornherein eine Festlegung trifft und – im Wissen um das Spannungsfeld – eines der beiden Extreme absolut setzt. Ideologien neigen zu dieser prinzipienfesten Bewältigungsstrategie, sie beharren auf ihrer unanfechtbaren „Wahrheit“. Auch viele Buzzwords im Business kommen einseitig und einäugig daher. Aus den sozialen Medien kennt man die selbsternannten Vordenker, die ihre Weltsicht und ihr Menschenbild für „immer und überall“ gültig erklären, am liebsten scharf, schrill und spitz.
  • Für die Bewältigungsstrategie Aushalten (Spannungsfelder erkennen und anpacken), die eine Abwägung zwischen den beiden gegenläufigen Positionen vornimmt, gibt es mehrere Substrategien.

Schauen wir uns nun diese Substrategien näher an.

Spannungsfelder aushalten

Nachfolgend unterscheide ich sechs Substrategien, um mit dem von mir favorisierten „Aushalten“ der Spannungsfelder umzugehen:

  • Dialektik („Synthese“): Dieser Ansatz stammt aus der Philosophie und sucht die Lösung auf einer Ebene, die auf höherem Niveau liegt als das eigentliche Spannungsfeld. Was eine höchst elegante Lösung wäre. Allein, bei Wandelvorhaben sind für die bekannten Spannungsfelder zumindest bisher keine breit akzeptierten Synthesen auf einer Metaebene gefunden worden.
  • Musterwechsel („Reframing“): Mit dieser Strategie wird eine neue, bisher nicht in Erwägung gezogene Interpretation gefunden (Beschreibung zweiter Ordnung, Perspektivenwechsel bzw. Musterbruch). Damit soll der vom einen Pol des Spannungsfelds überzeugte Change-Leader auf den Charme des Gegenpols aufmerksam gemacht werden. Er wird anbeißen, falls er sich eine größere Erfolgswahrscheinlichkeit für sein Vorhaben verspricht.
  • Verschiebung („Shifting“): Die Verlagerung von Spannungsfeldern ist ein beliebter Spielzug im Management. Es gibt vier Varianten, die sachliche, zeitliche, räumliche und persönliche Verschiebung. Alle haben sie gemein, dass der Change-Leader den Schwarzen Peter möglichst rasch loszuwerden versucht (wie im gleichnamigen Kartenspiel): „Warum muss ich dieses Problem jetzt und hier lösen?“ Weil dies bei kniffligen Fragen meist keiner möchte, entstehen die bekannten mikropolitischen Spiele bei Veränderungsprojekten.
  • Unterscheidung („Differing“): Damit werden heterogene Lösungen in den Teilbereichen einer Organisation hingenommen und eine homogene Unternehmenslinie als entbehrlich angesehen. Gelegentlich wird sogar offiziell auf eine einzige Corporate Policy verzichtet, womit quasi der Wildwuchs – oder sprachlich moderner, die Diversität –, legitimiert wird.
  • Kompensatorische Konstrukte („Counteracting“): Das ist eine Herangehensweise, mit der sich ein einseitig gepolter Change-Leader bewusst in die Pflicht nehmen lässt. Zur Selbstdisziplinierung werden organisatorische Gegengewichte eingebaut. Drei Beispiele: Toughes Risikomanagement als Rückendeckung einer zweckoptimistischen Projektleitung. Obligatorische Beurteilung des Benefit Tracking aus unabhängiger Warte. Systemische Change-Berater als Irritationseffekt für technokratisch geprägte Business Manager.
  • Mittelwege („Balancing“): Bei dieser Bewältigungsstrategie von Dilemmas wird mit Augenmaß eine Hybridlösung zwischen den beiden Polen eines Spannungsfelds gewählt, ohne eines der beiden Dogmen zu favorisieren. Dieser Mittelweg liegt nicht auf einer Metaebene, wie bei der Dialektik. Er liegt auch selten genau in der Mitte, sondern ist mal näher zur einen und mal näher zur anderen Seite geneigt, abhängig von der jeweiligen argumentativen Stärke.

Kontext statt Dogma

Sind solche Mittelwege nicht letztlich ein fauler Kompromiss? Nur dann, wenn eine oder gar beide Sichtweisen kleingeredet werden. Nicht aber, falls der Change-Leader den jeweiligen Argumenten ihr angemessenes Gewicht zugesteht und eine (zeitlich befristete) Debatte um den besten Weg zulässt. Und um gleich einem zweiten Einwand – „keine Zeit zur Abwägung“ – zu begegnen: Mit dieser Klage wird oft gejammert, wenn vor einem Beschluss mit Tragweite die Reflexion von Spannungsfeldern empfohlen wird. Man muss sich das mal vorstellen. Da trägt jemand Verantwortung für die Weiterentwicklung seiner Organisation und setzt auf den schnellen Reflex, weil ihm oder ihr die Muße fehlt. Nun sollen bestimmt nicht die zeitlichen Nöte kleingeredet werden, in denen viele Manager stecken. Doch kann man ein Problem – keine Bedenkzeit – damit lösen, indem man seinen Schnellschuss als Weisheit letzter Schluss erklärt?

Es kommt darauf an! Ein Change-Leader, der den Kontext über das Dogma stellt, macht weniger falsch als diejenigen, die auf die Extreme von Spannungsfeldern setzen und schwarzweiße Statements von sich geben. Er oder sie braucht Ambiguitätstoleranz. Weil man sich in der Endlosschleife von Gründen für das eine, das andere oder einen Mittelweg entscheiden und dies dann auch umsetzen muss. Es sei denn, eine andere Situation erfordert das erneute Nachdenken. Schon morgen und spätestens übermorgen wird jede Führungskraft wieder neu überlegen müssen.

Marcus Buckingham und Ashley Goodall, „Nine Lies About Work: a freethinking leader´s guide to the real world“, Boston, 2019

Martin Claßen: „Spannungsfelder im Change Management: Veränderungen situativ gestalten“, Düsseldorf, 2019

Roger Martin, „The Opposable Mind: how successful leaders win through integrative thinking“, Boston, 2007

Henry Mintzberg, „Managen“, Wien, 2010

Diese Serie weiterlesen: