William Harry McRaven ist ein ehemaliger US-Admiral, Leiter von Spezialkommandos und – hier interessant – Befehlshaber von SEAL-Teams, einer Spezialeinheit der Marine der Vereinigten Staaten von Amerika, deren inoffizielles Motto lautet: „The only easy day was yesterday“. Seine Erfahrungen mit dieser Einheit fasste er in einer so genannten Commencement Adress in 2014 zusammen. Das Video dazu wurde bereits millionenfach auf YouTube gesehen. Leadership Insiders war neugierig, zu erfahren, ob die Lehrsätze, die auch in der Ausbildung der Seals vermittelt werden sollen und darüber hinaus Gültigkeit für all die beanspruchen, die die Welt zum Besseren verändern wollen, alltagstauglich für Führungskräfte sind, die zumindest ihre ganz normalen Organisationen nach vorne bringen möchten.
Lehrsätze zur Führung aus der Bewältigung von Extremsituationen (US Navy Seals)
Die US Navy-Seals sind eine Spezialeinheit der US Navy, ca. 2.500 Personen stark, deren Hauptstandort in Coronado, Kalifornien liegt. Sie unterstehen dem United States Naval Special Warfare Command (NAVSPECWARCOM), das selbst Teil des US Special Operations Command (USSOCOM) ist. Ihre Basis-Ausbildung ist in körperlicher, geistiger wie emotionaler Hinsicht extrem, der Prozentsatz, der ab Bewerbungsbeginn bis zur Verwendung in der Einheit nach sechs Monaten ausgewiesen wird, minimal. Definitionsgemäß ist die Ausbildung im Übrigen nie fertig, denn es wird eine permanente Weiterqualifizierung in den Einsatzbereichen See (SEs), Luft (Air) und Land (Land) erwartet. Das Curriculum beinhaltet auch eine theoretische, u.a. „kampfethische“ Wissensvermittlung.
An dieser Stelle ist es nicht die Aufgabe, Grundsätzliches zu Kampfeinheiten oder deren Trainingsmethoden zu sagen. Ich konzentriere mich allein auf die Lehrsätze, die deren bekanntester Absolvent und späterer Oberbefehlshaber der USSOCOM, Admiral McRaven, 2014 in einer Abschlussrede an der University of Texas in Austin formulierte und prüfe sie auf ihre Verallgemeinerungsfähigkeit. Dabei gehe ich nur zur Verdeutlichung auf die damit korrespondierenden Hintergründe der Ausbildung ein. Die Beispiele werden in dem Video nach anschaulicher Vermittlung der Aktivitäten jeweils danach und noch einmal abschließend in wertgeladene Lehrsätze abstrahiert, um denen als Merkhilfe für diejenigen zu dienen, die in aller Regel Führungspositionen in einer Gesellschaft und damit Verantwortung für Wandel übernehmen möchten.
Nun zu den Lehrsätzen und Kurzbeispielen im Einzelnen:
- Beginne den Tag mit einer erledigten Aufgabe
Als Beispiel dient das jeden Morgen perfekt zu machende Bett.
- Finde jemanden, der Dir durchs Leben hilft
Als Beispiel dient das gemeinsame Paddeln gegen die bzw. mit den heftigen Meereswellen in einem Boot, was den Einsatz von jedem und eine perfekte Synchronisation untereinander verlangen.
- Respektiere jeden
Als Beispiel dient erneut das Boot im Kampf gegen die (brandenden) Meereswellen, diesmal aber unter dem Geschwindigkeitsaspekt bei einer zu bewältigenden Aufgabe, die ein zuvor etwas belächeltes, ethnisch-diverses Team, bestehend aus Personen mit der geringsten Körpergröße, stets überlegen gewann.
- Das Leben ist nicht immer fair, gehe weiter nach vorne
Als Beispiel dient das nie richtig zu machende Aufbereiten und Tragen einer perfekt sitzenden Uniform, einfach weil der Vorgesetzte es so sieht.
- Habe keine Angst davor, oft hinzufallen
Als Beispiel dienen nicht erreichte und niemals hinreichend zu erreichende Vorgaben bei körperlichen „Ertüchtigungen“, die Strafübungen nach sich ziehen, die dann zur Verbesserung der Physis genutzt werden sollen, um sie zukünftig zu vermeiden.
- Gehe Risiken ein
Als Beispiel dient eine Übung auf einem Hindernisparcours, der durch eine eigenständige, gefährliche Abwandlung im Vorgehen eines Auszubildenden erstmals in der Hälfte der Zeit bewerkstelligt wurde.
- Trete dem Tyrannen entgegen
Als Beispiel dient eine Übung in Gewässern, in denen sich beständig weiße Haie aufhalten, die im Falle eines (bislang nicht passierten) Angriffs allein mit körperlichen Kräften abzuwehren sind.
- Steh auf, wenn die Zeiten am schwierigsten sind
Als Beispiel dient eine zu bewältigende Aufgabe in dunklen, eiskalten und durch Motorengeräusch lärmenden Gewässern, die verlangt, eine Vielzahl von körperlichen und mentalen Fähigkeiten mit höchster Ruhe unter dem Kiel eines Schiffes zu vereinen.
- Richte die Unterdrückten auf
Als Beispiel dient eine Übung mit extremer körperlicher und mentaler Belastung, deren Ende noch Stunden entfernt ist, die aber sofort beendet würde, wenn sich fünf Personen dazu entschlössen (und für alle dann ein „Miss“ gewertet wird) und wo jemand anfängt, zu singen, worin nach und nach alle einstimmen, um die Hoffnung des Durchhaltens zu nähren.
- Gib niemals auf
Als Beispiel dient eine Glocke, die jederzeit in der Ausbildung geschlagen werden kann, um sich dem Training und seinen Härten sofort zu entziehen (und damit aber auch seine Ausbildung bei den Seals zu beenden).
Diese Beispiele werden in der Rede natürlich ausführlicher geschildert und logischerweise aus Sicht des Redners, sodass ich hier selbst keine Aussage zur Sicht der Auszubildenden dazu habe. Es wird allerdings bekannt, dass diese beschriebene Ausbildungsphase, der bereits andere Eignungsprüfungen vorausgegangen sind und weitere folgen, nur knapp 30% meistern. Bekannt ist auch, um einer Idealisierung und in jeglicher Hinsicht zum Scheitern verurteilten Übernahmen in Outdoor-Training vorzubeugen, dass sich hier immer wieder (schwere) Verletzungen ereignen (wobei der Betreffende im nächsten Jahr hier wieder einsetzen kann), inzwischen aber immerhin Krankenwagen bei Übungsteilen präsent sind. Entscheidend ist an dieser Stelle nur, wie die Lehrsätze, die der Redner artikuliert, als Anregungen zur Selbstführung und zur Führung anderer dienen können.
Bedeutung der Lehrsätze für die Führung in nicht-militärischen Organisationen
Im letzten Beitrag auf Leadership Insiders, den wir unter den Titel „Moral Leaders Wanted!“ gestellt haben, haben Thomas Kuhn und ich ein Zitat von Toby Newstaed und ihrem Forschungsteam (2020) hervorgehoben, was hier als Hintergrundfolie für die Bewertung der Lehrsätze im Kopf behalten werden sollte:
„We don’t need more leaders – We need more good leaders“
Sind also die Lehrsätze geeignet, Führung zu qualifizieren und auch eine moralische Führung dabei auszuweisen? Im Kern durchaus, wird die Antwort lauten.
Der erste Lehrsatz, der die Aufforderung nach einem am Morgen stets sehr ordentlich (dort: perfekt) gemachten Bett artikuliert, ist zunächst ein ganz praktischer, der auf die Motivation zur Gestaltung des Tages abzielt. Danach ist das gemachte Bett die erste erfolgreiche Aufgabe, die man an diesem Tag bewältigt hat und die einen zufrieden stimmen kann. Große Aufgaben, so wird gesagt, fangen damit an, dass man zunächst auch die kleinen bewältigen kann, denn wer hieran schon scheitert, wird kaum Großes zustande bringen. Für diese Denkweise lassen sich lerntheoretische wie motivationale Überlegungen heranziehen. Wir finden dies sinngemäß wieder in Aussagen wie „Jede große Reise beginnt mit dem ersten Schritt“ oder in Ritualen, die helfen sollen um erfolgreich in den Tag zu starten. So beschreibt beispielsweise Bodo Janssen, Chef des Hotel-und Ferienwohnungsunternehmens Upstalsboom in seinem neuesten Buch „Eine Frage der Haltung“ (2021) sein eigenes, täglich praktiziertes Ritual, das um 4:15 Uhr beginnt und inklusive Meditation, Sport und anderen Aktivitäten zum Start des Berufsalltags bereits das Gefühl vermittelt, einen gelungenen Tag erlebt zu haben, der durch nichts mehr zu erschüttern ist.
Die Lehrsätze zwei und drei beschreiben trotz gleichen Ort des Geschehens zwei unterschiedliche Lehren. Die eine ist, den Wert einer Gemeinschaft anzuerkennen und jemand oder mehrere zu finden, die einen durch das Leben begleiten, in einfacher Kenntnis daraus, dass Veränderungen alleine nicht zu schaffen sind – eine Erfahrung, die für die Teamarbeit sicherlich nützlich ist. Die andere ist, Personen niemals aufgrund von körperlichen, ethnischen oder sonstigen Merkmalen zu qualifizieren, sondern nur auf ihr Verhalten zu schauen, um sich eine Meinung zu bilden. Grundsätzlich ist jeder Person ohne nähere Kenntnis Respekt zu zollen. Damit wird ein ethischer Standard zum Ausdruck gebracht, der unabhängig vom Einsatzort universell taugt.
Die Lehrsätze vier und fünf sprechen das wichtige ethische Thema der Gerechtigkeit an. Sie zeigen auf, dass das Leben durch Ungerechtigkeiten geprägt ist, dies aber kein Anlass sein soll, daran zu verzweifeln – vor allen Dingen auch, dass es absolut unsinnig ist, Gerechtigkeit überall zu erwarten. Kann man die Situation nicht ändern oder möchte man aus ihr nicht entfliehen, bleibt einem aus praktischer Überlegung heraus gar nichts anderes übrig, als dies für den Moment zu akzeptieren und die Gelegenheit für sich insofern zum Besten zu wenden, als dass aus ihr eine Lernerfahrung gezogen wird, die einen resistenter gegenüber unliebsamen Einwirkungen von außen macht. Hier haben wir einen deutlichen Zusammenhang zur Bewältigung von Stresserfahrung vor Augen (denn Verletzungen der Gerechtigkeit provozieren leicht über Emotionen auch Stress). Coping-Strategien wie die, dies als unvermeidbare Tatsache zu sehen, erlauben einem, damit umgehen zu können.
Die Lehrsätze sechs und sieben drehen sich um Risiken und Gefahren. Führung bedarf immer wieder der Innovation und Innovationen sind ohne das Eingehen von Risiken oftmals nicht zu haben. Der Musterbrecher, der dort als Beispiel dient, geht das Risiko einer körperlichen Beeinträchtigung und der Lächerlichkeit seiner Person anderen gegenüber ein, versucht es aber trotzdem. Der damit verbundene Verweis auf die eigene Überzeugung, an der das eigene Verhalten auszurichten ist und die Loslösung von Erwartungen anderer, sich konformistisch zu verhalten, ist denen anzuraten, die die Kontrolle über sich selbst behalten möchten. Dies hilft wiederum, Gefühle der gelernten Hilflosigkeit zu vermeiden und das eigene Kohärenzgefühl positiv zu befördern. Der Lehrsatz, sich Tyrannen entgegenzustellen, anerkennt, dass es im eigenen Umfeld nicht immer harmonisch zugehen kann, sondern dass es Personen geben mag, die die eigene Integrität oder das eigene Fortkommen beeinträchtigen möchten. Aufgefordert wird, dies als unvermeidbar einzustufen und sich dadurch nicht verunsichern zu lassen, sondern Strategien zu entwickeln, damit umzugehen. Führungskräfte werden sich gleich an mikropolitische Verhaltensweisen Dritter im Arbeitsumfeld erinnert fühlen. Geführte werden vielleicht an die dunkle Seite der Führung denken, die durch ihren Vorgesetzten bzw. ihre Vorgesetzte verkörpert wird und die man sich auch nicht einfach wegwünschen kann. Wichtig zu wissen, kommen sie einem zu nahe, sollte man gewappnet sein.
„Steh auf, wenn die Zeiten am schwierigsten sind“, ist einer dieser Lehrsätze, denen wir des Öfteren in Hochleistungsorganisationen begegnen. Dort sind gegenüber „normalen“ Organisationen extreme Herausforderungen zu bewältigen, die aber nur gelingen können, wenn sie perfekt eingeübt, ohne Angst und mit höchster Konzentration angegangen werden. Gerade auch für Führende eine sehr anspruchsvolle Aufgabe, vergleichbar mit den Anforderungen zu dem, was man zur Bewältigung von Krisen benötigt, wozu bereits der preußische Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke (1800-1891), den ich in meiner Ausarbeitung zur Digitalen Führung (2021) zitiere, feststellte, dass die unwiderstehliche Gewalt der Verhältnisse zwar den Mittelmäßigen tragen kann, aber dass dies für die Krise, wo sich das Blatt ins Gegenteil verkehren und sogar der Beste scheitern kann, nicht mehr gelten würde. In diesem Sinne zeigt sich jede Krise als eine Bewährungsprobe für Führende im Rahmen des objektiv Machbaren und ich füge hinzu, eben auch für all diejenigen, die es werden wollen.
Der neunte Lehrsatz, die Unterdrückten aufzurichten, appelliert an die ethische Forderung zur Solidarität und zum Einschreiten zugunsten derjenigen, die sich nicht selbst helfen können. Ausdrücklich wird in diesem Beispiel betont, dass es eine einzige Person sein kann, die den Anstoß gibt, um eine Situation zu ändern, sofern sie andere damit anstecken kann. Dies verweist nicht nur auf die Grundüberlegung von Führung überhaupt (jeder, der zur Problemlösung beitragen kann, kann es sein, der den Anstoß gibt!), sondern widerspiegelt auch, wenn man dieses Beispiel etwas breiter ausführen würde, wie wichtig Unterstützung und Hoffnung sind, um eine Gemeinschaft, hier eine Ausbildungseinheit, die extreme körperliche Härten erfährt, über einen sehr schwierigen Punkt hinweg zu helfen (dass das eigene Schicksal dort auch mit dem Erfolg der Maßnahme verknüpft ist, sei erwähnt, ist in „normalen“ Organisationen mit Blick auf den Teamerfolg oftmals nicht anders).
Der zehnte Lehrsatz, „Gib niemals auf“, der von McRaven als der wichtigste ausgewiesen wird, bezieht sich auf das, was wir als „Willen“ bezeichnen, der bei noch so guter Eingangsmotivation gebraucht wird, um bei schwierigsten Aufgaben dran zu bleiben, auch wenn andere Verlockungen erreichbar wären. In der Führungsforschung wird dies unter dem Begriff der „Beharrlichkeit“ durchaus auch mit Führung verbunden, Gründerinnen und Gründern ins Stammbuch geschrieben und im Leistungssport noch deutlicher artikuliert, wobei die Tugend der „Klugheit“ natürlich dazu begleitend benötigt wird, um die Grenze zur Ausweglosigkeit allen Bemühens erkennen zu können.
Fazit
Die Lehrsätze, die ich referierte und kommentierte, sind in der Tat für den nützlich, der Veränderungen anstrebt, auch wenn es nicht gleich die Rettung der Welt sein muss. So eindrucksvoll sie im Übrigen auch dargeboten werden, so bleiben sie doch die Essenz der Reflexion einer einzigen Person, die höchste militärische Verantwortung in den USA besaß, und sich in einem spezifischen Kontext bewegte. Man kann dies als Vorteil oder Nachteil sehen. Nach eigenen Aussagen hält McRaven seine Erkenntnisse für situationsübergreifend. Die Lehrsätze vermischen allerdings die Selbstführung mit der Führung von Teams und der Mission der Einheit, wie sie sich selbst sieht. In diesem Sinne bilden sie kein Führungskonzept, das Einzelaussagen verschränkt. Dennoch liefern sie, von außen betrachtet, eine wertvolle, übergreifende Botschaft, die ich wie folgt formulieren möchte:
Nur das Team ermöglicht die Erfüllung schwierigsten Missionen, aber jedes Team ist in besonderen Situationen auf die Initiative eines Einzelnen angewiesen, der zunächst die Führung übernimmt, um dann vom Team selbst wieder mitgenommen zu werden.