Eben noch ein Vorbild in der Führung, jetzt eine Enttäuschung für die Geführten. Wie kann es sein, dass eine Führungskraft aus heiterem Himmel moralisch hin und her wankt. Die Theorie der moralischen Lizenzierung gibt eine Antwort. Es schadet nicht, sie zu kennen, um der Versuchung des Egoismus zu widerstehen und den gerade erworbenen guten Ruf nicht zu verlieren. Ohne Auswirkung auf die Führungsbeziehung bleibt es nämlich nicht.

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„Was hat den denn geritten“? Dies ist oft unsere erste Reaktion auf ein moralisches Fehlverhalten bei einer Person, die uns zuvor als tugendhaft erschienen ist. Unser Wunsch nach Konsistenz ist verletzt, unsere Prognosefähigkeit unschön in Mitleidenschaft gezogen. Ein Alltagsphänomen, wenn auch nicht die Regel. Erinnern Sie sich noch an Walter White, Protagonist der Kultserie „Breaking Bad“, der von einem Chemielehrer zum kriminellen Mastermind mutierte? Probleme hatte er keine damit, denn er hatte eine Rechtfertigung, die genau der Theorie der jetzt besprochenen Theorie der moralischen Lizenzierung entspricht, wenn auch in jeder Hinsicht in extenso. Leadership Insiders erläutert, warum Menschen und damit auch Führungskräfte versucht sein könnten, sich immoralisch zu verhalten, obwohl sie Gegenteiliges bislang gezeigt haben.

Anmerkungen zur Moral

Moral sind erlebte Regulierungen des Verhaltens, die in einer Gemeinschaft als gültig anerkannt sind und akzeptziert werden. Dies können weichste Formen des Anstandes sein („Man grüßt zurück, wenn man selbst gegrüßt wird“) oder nahezu gesetzesartige Vorstellungen zum Umgang miteinander („Wir greifen ein, wenn jemand sein Kind fortlaufend anschreit“). Immer geht es darum, das Richtige zu tun oder zumindest das Falsche zu verhindern.

Wieso? Weil wir als soziale Person produktiv und harmonisch mit anderen um uns herum auskommen möchten. Gelingt es, fühlen wir uns wohl, misslingt es, wird es anstrengend. Moral hält Gemeinschaften (Partnerschaften, Teams, Unternehmen, Gesellschaften etc.) zusammen.

Dass moralische Vorstellungen oder Usancen innerhalb von Teil-Gemeinschaften dabei empirisch gesehen variieren können, sollte man wissen. Weiß man es im Praktischen nicht, erfährt man es sehr schnell. Denn: Moral tritt immer dann ins Bewusstsein, wenn sie verletzt wird.

Moralen können im Übrigen differieren. Die in einer Gang ist (teilweise) eine andere als bei den Investmentbankern oder den Pfadfindern. Die Ethik wiederum fragt nach den guten Gründen, die eine moralische Vorstellung oder Handlungspraktik legitimieren könnte. Sie ist vereinfachend die Draufschau auf das, was Personen bei moralisch relevanten Sachverhalten so machen und der Versuch, dies zu systematisieren und zu bewerten – am besten so, dass dies universale Zustimmung finden kann.

Theorie der moralischen Lizenzierung

Aus den oben genannten Gründen fördern Gemeinschaften die Personen, die sich besonders moralisch verhalten und damit als ein Vorbild für diese Gemeinschaft angesehen werden können. Dieser Person wird Dank gegenüber gebracht, sie wird herausgestellt, vielleicht wird sie sogar bewundert, ihr Umfeld agiert gerne und vermehrt mit ihr. Denken wir z. B. an eine Berichterstattung und Auszeichnung für ehrenamtliches Engagement. Soziologisch gesprochen wird ihr dadurch ein höherer Status zuteil.

Dieser Status beinhaltet auch einen Kredit. In der Führungsforschung hat dies Edwin Hollander in seiner schon 1958 grundgelegten Idiosynkrasie-Kredit-Theorie der Führung sehr anschaulich in einem etwas anders gelagerten Fall herausgearbeitet. Danach erwerben Führungskräfte einen derartigen immateriellen Kredit dann, wenn sie sich besonders für die Interessen der Gruppe einsetzen, deren Werte und Normen beispielhaft verkörpern und kompetente Sachlösungen hinbekommen. Diesen Kredit setzen Sie dann ein und brauchen ihn auch, um das Team beispielsweise in Leadership for Change Situation vom gewohnten Pfad abzubringen und Neues anzugehen. Ansonsten würde ihnen nicht gefolgt. Ist der neue Weg erfolgreich, steigt der Kredit wieder an, misslingt er, sinkt er weiter. Wenn nichts mehr übrig bleibt oder andere mit einem höheren Kredit Einfluss auf die Gruppe gewinnen, ist die alte Führung am Ende.

So ist es auch bei der Theorie der moralischen Lizenzierung, nur wird hier ausschließlich auf den moralischen Kredit der Führung (oder jeder anderen Person) abgehoben. Nach dem Forschungsteam um die Stanford-Professorin Anna C. Merritt (2010) erwerben Individuen, die sich moralisch positiv verhalten haben, einen Kredit, den sie aber nun, und dies ist der entscheidende Unterschied zur Idiosynkrasie-Kredit-Theorie der Führung, potenziell nicht erneut zum Wohle anderer einsetzen. Vielmehr könnten sie auch versucht sein, diesen bei einer anderen Gelegenheit zum eigenen Vorteil auf unlautere Art zu nutzen.

Anders formuliert: Der erworbene Kredit wird sich selbst gegenüber, wenn man so möchte, seinem eigenem Gewissen gegenüber, verwandt, um ein späteres immoralisches Verhalten ohne Schuldgefühl zu rechtfertigen.

Psychologisch funktioniert das so, dass jemand die Empfindung besitzt, eine moralische Lizenz, eine Art Freifahrtschein, für ein nicht gerechtfertigtes Verhalten zu besitzen, weil diese Person in eigener Wahrnehmung in der letzten Zeit so viel Gutes getan hat, dass man nun auch einmal nur an sich selbst denken kann. Das gilt vermutlich umso mehr für eine tatsächlich erhaltene Anerkennung durch Dritte.

Neu ist diese Erkenntnis allerdings nicht. Bereits François VI, Herzog von La Rochefoucauld (1613 – 1680), der Begründer der französischen Moralistik hielt in seinen berühmten Reflexionen und Maximen, die seine immense Lebenserfahrung widerspiegelte, fest:

“Oft machen wir das Richtige, damit wir später mit Straffreiheit etwas falsch machen können.”

Aber dadurch wird die heutige Theorie, die natürlich durch Empirie verfeinert ist, ja nicht falsch, im Gegenteil. In dem beschriebenen Sinne fußt das Phänomen der moralischen Lizenzierung auf einer unbewussten oder nun (plötzlich) einsetzenden kalkulativen Überlegung, die die moralische Bilanz für einen selbst trotz einer (beabsichtigten) immoralischen Handlung nicht ins Negative fallen lässt. In einer weiteren Variante dieser Theorie wird davon ausgegangen, dass das sich selbst zugestandene moralische Verhalten dazu führen könnte, eine moralische Verwerflichkeit gar nicht erst zu empfinden. Man hält sich einfach für eine moralische Person und beleuchtet das eigene Verhalten nicht mehr kritisch. Dann würde es sich auch erübrigen, darauf zu achten, dass die eigene Bilanz durch das getane oder gedanklich vorweggenommene immoralische Verhalten negativ wird.

Zwei anschauliche Beispiele

Benoit Monin und Dale Miller von der Princeton University zeigten bereits in 2001, dass Personen, die in einer eingenommenen Arbeitgeberrolle in einer ersten experimentellen Entscheidungssituation den von allen Kandidaten bestqualifizierten Afro-Amerikaner tatsächlich den ausgeschriebenen Consultingjob vor vier anderen weißen Kandidaten zuwiesen, danach in gleicher Konstellation – nur ging es jetzt um einen Job bei der Polizei – die Stelle nun an einen weißen, weniger qualifizierten Bewerber vergaben. Die Interpretation: Nun meinten sie, nicht mehr als Rassist angesehen werden zu können, da sie doch zuvor richtig handelten, nun aber bei der Polizei einen von sich lieber sahen. Die Kontrollgruppe, die zuvor nur zwischen fünf weißen Bewerbern bei der Jobzuteilung wählen konnte, handelte nachfolgend nicht derart einseitig.

Eine Forschergruppe um Szu-Han Lin von der Michigan State University fragte sich auf Basis dieser Theorie 2016, inwieweit Führungskräfte sich einer moralischen Lizenzierung ihres Verhaltens bedienten. In einer Studie von vier aufeinanderfolgenden Tagen stellten sie anhand von standardisierten Selbst- wie Fremdbeobachtungen bei 172 Teilnehmenden fest (im Durchschnitt um die 35 Jahre, 6 Jahre Führungserfahrung, 6-7 Mitarbeitende, geschlechtergemischt, verschiedene Branchen), dass ein ethisches ein unethisches Verhalten einen Tag später über den Anstieg des moralischen Kredites begünstigte (z.B. „Diskutiert Werte mit den Mitarbeitenden“ – fünf Mal am Stichtag vs. gar nicht am Stichtag). Ethisches Verhalten wird in diesem Fall anhand eines etablierten Fragebogens gemessen und gibt damit, was selbstredend problematisch ist, ein korrektes ethisches Verhalten ohne nähere Begründung vor.

Das Gute als Nährboden der Verfehlung

Vergleichbare Ergebnisse zum moralischen Freibrief wurden ebenfalls in einer umfangreichen Meta-Studie von Irene Blanken und zwei ihrer niederländischen Kollegen berichtet (2015). Der Effekt selbst ist danach zwar nur schwach bis mittelstark ausgeprägt, so wie die meisten sozialpychologischen Effekte, aber fraglos bedeutsam für das tägliche Leben.  Er ist dann relativ am wahrscheinlichsten, wenn die Handlungsautonomie am größten ist, also Struktur und Kultur geringe Vorgaben in Sachen Moral und Ethik machen und das eigene Verhalten einer geringen Kontrollierbarkeit unterliegt.

Um es klarzustellen, dieser Effekt ist keine Zwangsläufigkeit und hat vor allem nicht die Implikation, auf gutes Verhalten zu verzichten, um die Wahrscheinlichkeit schlechten Verhaltens zu reduzieren. Dies wäre eine Missinterpretation. Vielmehr scheint mir dieses Phänomen der moralischen Lizenzierung deshalb erwähnenswert, als es das scheinbar unerklärliche Abdriften zu einer immoralischen Tat durch die Erhellung des kognitiven Prozesses für einen Teil der Fälle erklären kann.

„Sie war doch immer so ehrlich mit uns“ verblüfft als Aussage über ein Verhalten, wenn diese Person immer die im Team erwartete Offenheit plötzlich nicht mehr zeigt, beispielsweise eine Information strategisch zurückhält. Die moralische Anforderung, fair zu sein, wird dadurch verletzt. Nicht die Tatsache an sich ist nach dieser Theorie überraschend, sondern nur die Zusatzinformation, dass diese Person erst ein vorheriges gruppenförderliches Verhalten hat zeigen und für sich registrieren müssen, um für sich die legitimatorische Basis zu erhalten, nun unehrlich gegenüber anderen zu sein, und dabei kein Problem damit zu haben.

Die Theorie, um das noch einmal zu betonen, gilt nicht für diese beiden Fälle: Jemand verhält sich mehrheitlich oder immer schlecht oder fällt nie aus der erwarteten moralischen Rolle.

Was folgt? Ins Praktische gewendet heißt dies beispielsweise für Führungskräftetrainings, Managerinnen und über dieses Phänomen zu informieren, um möglichen Schaden für die eigene Person und die Organisation abzuwenden. Sofern Personen dann verstehen, dass eine als unproblematisch empfundene Versuchung, andere zu enttäuschen oder zu schädigen, gerade aus vorherigen guten Taten resultieren kann, könnte die eigene (automatische oder bewusst gewendete) Legitimation dazu nicht so leicht ohne inneren Widerspruch ablaufen.

Hier gilt sich der Überlieferung, die uns aus dem antiken Rom, dem nichts Menschliches fremd war, mitgegeben wurde, zu erinnern. Dem tugendhaften Feldherrn, dem aufgrund eines überragenden militärischen Erfolges ein Triumphzug durch Rom gewährt wurde, wurde ein Sklave an die Seite gestellt, der ihm immer wieder einflüstern musste, dass auch er nur ein Mensch sei. Dies sollte vor Hybris und einer daraus leicht entstehenden immoralischen Tat schützen.

Für den Moment bleibt uns allerdings nur, um die Falle der moralischen Lizenzierung zu vermeiden, Dritte zu bitten, uns charakterliche Veränderungen mitzuteilen  – immerhin – und natürlich, besser, unser eigenes Handeln im Vorfeld in diesem Wissen zu reflektieren. Dann ist die Gefahr, moralisch aus der Spur zu laufen, gesunken. Das ist mehr als ein Anfang!

Blanken, I. /van de Ven, N. / Marcel Zeelenberg, M. (2015): A Meta-analytic Review of Moral Licensing. In: Personality and Social Psychology Bulletin, 41, 54-558

Hollander, E. P. (1958): Conformity, status, and idiosyncrasy credit. Psychological Review, 65, 117–127

Merritt, A. C. / Effron, D. A. / Monin, B. (2010): Moral Self-Licensing: When Being Good Frees Us to Be Bad. In: Social and Personality Psychology Compass 4/5, 344–357

Monin, B., & Miller, D. T. (2001): Moral credentials and the expression of prejudice. In: Journal of Personality and Social Psychology, 81, 33–43