Dieser Beitrag ist Teil der Serie Führungsperson

Andere Beiträge in dieser Serie:

  1. Führungskompetenz – Wie uns Gesichtskonturen beeinflussen
  2. Tugenden – Führungswissen zum Mitreden und Handeln
  3. Wie Führungskräfte informelle Codes entschlüsseln – Lernen von der Ethnografie
  4. Wie „verrückt“ sind Entrepreneure? Studien zur Persönlichkeit einer Ausnahmespezies
  5. Langeweile. Kreativitätsschub für die Führungsetage.
  6. Die Last der Führung  – Demotivation durch Mitarbeitende
Ethnografie ist ein Teilgebiet der Anthropologie (Menschenkunde) und befasst sich im Speziellen mit der systematischen Beschreibung der verschiedenen Völker und Kulturen. Der folgende Beitrag spürt der Frage nach, inwiefern Führende in ihrer täglichen Arbeit von einem ethnografischen Blick und der Anwendung ursprünglich aus der ethnografischen Feldforschung stammender Methoden profitieren und so nachhaltige Reflexions- und Lernprozesse anregen können.

4Max/Shutterstock

Die Rahmenbedingungen für Führung haben sich grundlegend gewandelt. Alles erscheint möglich, Überraschungen sind bedeutsamer als Pläne, die auf gestrigen Annahmen beruhen und heutigen Fakten viel zu oft weichen müssen. Wenn aber das Umfeld wankt, sollten Sie sich besser selbst festigen. Doch wie? Leadership Insiders greift auf die Ethnografie zu und zeigt, wie wichtig eine genaue Beobachtung des Umfeldes zur Sicherung des eigenen Standortes sein kann. Kleinere Vorkommnisse und scheinbar Beiläufiges sind dabei besonders erhellend.

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  5. Langeweile. Kreativitätsschub für die Führungsetage.
  6. Die Last der Führung  – Demotivation durch Mitarbeitende

Was ist Ethnografie?

Ethnografie, gleichsam die Völkerbeschreibung, steht als Sammelbegriff für alle Methoden, mittels derer Wissenschaftler (Ethnologen) neue Erkenntnisse über (fremde) menschliche Gesellschaften, insbesondere deren politisches, soziales und kulturelles Leben erlangen möchten (vgl. Knoblauch 2014, S. 51). Konzeptionell geht sie auf den polnischen Sozialanthropologen und Begründer der Feldforschung Bronislaw Malinowski (1884-1942) zurück.

Mit dem „Feld“ sind in Erweiterung der Grundidee nicht mehr nur die realen geographisch definierten Lebensräume von Menschen, sondern in neuer Wendung auch Organisationen, ihre Arbeitswelten und Führungslandschaften gemeint. Dabei geht es im Besonderen um den Transfer von ethnografischen Methoden im Hinblick auf das Organisationsgeschehen. Denn in Organisationen erinnert so manches an das Ursprüngliche einer Völkerbeschreibung. Barbara Klingenbacher (2010) formulierte dies wie folgt:

„Denn letztlich ist jedes Büro auch ein Dschungel und jedes Team ein Stamm, in dem informelle Codes gelten, unsichtbare Machtstrukturen und Glaubenssätze, von denen die Chefs umso weniger wissen, je höher sie in der Hierarchie stehen. «Hidden transcripts» heissen diese verborgenen Spielregeln in der Ethnologie, und sie sind auch in der Wirtschaft so machtvoll, dass Firmen an ihnen zugrunde gehen und Fusionen ihretwegen platzen können.“

Derart ausgerichtet kann die Führungskraft zum Forscher werden, der mehr über sich und sein soziales Habitat verstehen möchte. Beispielsweise so:

„In unserer Firma wurden Erholungsräume für Mitarbeitende eingerichtet, teilweise sogar als „Parkanlage“ designt. Ich beobachtete, dass diese kaum genutzt wurden. Warum? Mitarbeitende befürchteten, dass man als unproduktiv angesehen wird, falls man dort als Nutzer „registriert“ würde. Zudem gaben sie an, dass sie gar nicht wüssten, wie man dort relaxen könne. Eine vorherige Erklärung über den Sinn und den Zweck wurde vermisst.“

Derartige kulturelle wie technische Misfits fallen aber nur dann in aller Klarheit auf, wenn man sich als Führungskraft selbst einmal als Ethnograf betätigt, diese Räume aus (unvoreingenommenem) Interesse aufsucht, erfährt, dass sie weitestgehend ungenutzt bzw. menschenleer bleiben und erkundet, woran das liegt. Die Einsichten könnten dann anschließend für zukünftige Vorhaben genutzt werden.

Welche ethnografischen Methoden kommen zum Einsatz?

Wissenschaftler nutzen unterschiedliche ethnografische Methoden. Die bekanntesten sind sicherlich die teilnehmende Beobachtung sowie Interviews und Befragungen.

Wir möchten an dieser Stelle einmal auf die sog. Autoethnografie abstellen (vgl. z.B. Sparkes 2000, S. 21). Während bei der Ethnografie Mitglieder einer Kultur („Insider“, hier: Vorgesetzte, Mitarbeiter, Kunden) typischerweise aus einer Outsider-Perspektive „erforscht“ werden (z.B. durch Wissenschaftler, Berater), stellt die Autoethnografie – zumindest in ihrem engeren Verständnis – die Erforschung von Insidern durch Insider dar. Ein Insider, hier die Führungskraft, erforscht also das eigene Umfeld. Als Datenbasis können Ereignisse, beispielsweise Meetings, aber auch Kleidung, Umgangsformen, Außendarstellungen, Fotos oder für die Ausstattung genutzte Materialien dienen. Begebenheiten und Eindrücke werden in ethnografischer Tradition in so genannten Feldtagebüchern dokumentiert.

Feldtagebücher als Dokumentation informeller Codes in meiner Organisation

© Ulrich Krause

Feldtagebücher sind schriftliche Aufzeichnungen, die neben konkreten Ereignissen auch die damit verbundenen und zeitnah notierten Einsichten, Gefühle, aber auch Stimmungen und Anmutungen, als Erkenntnisquelle nutzen. Dabei kommen Papier und Bleistift zum Einsatz, in unserer heutigen Zeit fast schon ein belächeltes Relikt, aber nach pädagogischen und lerntheoretischen Kriterien ungemein unterschätzt. Berühmte Wissenschaftler wie z.B. Charles Darwin oder Alexander von Humboldt haben Feldtagebücher angefertigt, um besser zu begreifen, was sie beobachteten.

Das Verfassen von Feldtagebüchern stimuliert die Reflexion. Dieser Prozess kann bereits während des Ereignisses beginnen, also „Reflection-in-action“ (Begleiterfahrung), oder auch danach, dann als Reflection-on-action“ (Essenzerfahrung). Reflexionen können sich entweder auf das beschränken, was ich als Beobachter bei anderen wahrnehme, oder auf das beziehen, was diese Beobachtung mit mir macht und welche Schlüsse ich daraus ziehe.

Reflexion wird als zentral für das Lernen zweiter Ordnung angesehen. Während das Lernen erster Ordnung sich auf die Verbesserungen im Gewohnten und damit der Verstetigung des Erreichten konzentriert, setzt das Lernen zweiter Ordnung auf die Verbesserungen, die eine Pfadbrechung bedingen. Dies kann Werte ebenso betreffen wie persönliche Routinen oder Vorstellungen über andere. Dann geht es um Innovationen im besten Sinne, die fast überall händeringend gesucht werden.

Der Führungspraktiker als Amateurethnograf – Beipackzettel beachten

In der Ethnografie sind insbesondere Aufmerksamkeit, Wachheit und Unvoreingenommenheit eine gute Voraussetzung für das Verstehen des ursprünglich Fremden. Ohne Aufmerksamkeit würden leicht zu übersehende Details in der Sprache, Haltung oder im Sozialverhalten erst gar nicht auffallen. Dies korrespondiert gut mit der Bedeutung von Achtsamkeit im Führungsgeschehen. Der Weg zum „Feldforscher“ geht über ein solches Mindset.

Die strengen wissenschaftlichen Anforderungen an eine ethnografische Forschung lassen sich im Alltag sicherlich nicht 1:1 erfüllen, aber das ist hier auch nicht angestrebt. Es gilt den Blick für das Beiläufige, aber auch das Unterrepräsentierte, zu schulen und dieses auch zu interpretieren. Das kann bis zu einem gewissen Grad jeder leisten. Expertinnen und Experten, die es natürlich ebenfalls auf diesem Feld gibt, erläutern, wie Barbara Klingenbacher ausweist, was so alles beispielsweise aus einem Meeting herausgelesen werden kann:

„Sie [die Expertin, Susanne Spülbeck] registriert alles: Sitzordnung, Körperhaltung, die kleinen Sprachcodes. Wer darf wie lange sprechen? Zu wem wandern die Blicke? Welche Personen sind an Entscheidungen beteiligt? … Manchmal, sagt Spülbeck, sei die Dynamik offensichtlich, aber sie hat auch Sitzungen erlebt, die sie nicht lesen konnte, weil ihr das Vorwissen fehlte. Das erste Meeting in einem Handelsbetrieb etwa empfand sie als freundlich und effizient, doch später lieferte ihr ein Gespräch beim Kaffee den fehlenden Hintergrund: Das Team hatte bereits zwei Vorgesetzte weggemobbt, der neue Chef versuchte vor allem, es seinen Untergebenen recht zu machen … man hörte zu, nickte, doch niemand zog es auch nur in Erwägung, einen Vorschlag des Chefs tatsächlich umzusetzen“.

Führungstagebücher wären aus ethnografischer Sicht ein geeignetes Werkzeug, um die eigenen Eindrücke von bestimmten Beobachtungen zu bündeln, sich darüber Gedanken zu machen und beim nächsten Mal für sich fortzuentwickeln. Selbstredend ist man im Gegensatz zum teilnehmenden Experten hier vielfach in einer Doppelrolle als Beobachter und Akteur, die sich mit etwas Übung aber gut koordinieren lässt. Durch diese Doppelrolle verändert sich automatisch auch die Haltung. Neugier und Interesse werden (endlich wieder?) geweckt, eventuell vorhandene eigene Ängste durch eine bessere Situationseinschätzung ab- und Mut zur aktiven Einflussnahme aufgebaut. Einiges deutet im Übrigen darauf hin, dass das Schreiben solcher Tagebücher grundsätzlich mit positiven Effekten für die Gesundheit verbunden ist (vgl. z.B. Purcell 2018) – ein schöner added value.

Bei aller Aussicht, informelle Codes aus der geschärften Insiderperspektive besser verstehen zu können, besteht neben der Notwendigkeit zur entsprechenden Disziplin auch die Gefahr, sich vom Geschehen ein Stück weit zu entfremden. Kognitive Dissonanzen wären die Folge. Dies kann, wie bei Interventionen in der Psychotherapie oder Organisationsentwicklung bisweilen gewollt sein, eine produktive Verarbeitung garantiert dies hingegen nicht. Nur der Führungskraft, der es gelingt, das neu Erkannte als Mehrwert für sich zu verstehen, z.B. weil nun einiges besser eingeordnet und Ungewissheit damit etwas reduziert werden kann, wird den Aufwand zu schätzen wissen. Auch sollten die Anlässe, in denen „erkundet“ wird, nicht überborden.

Neueinstiege in die Organisation oder in ein Team, die Übernahme einer Abteilungsleitung oder die Suche nach Veränderungen oder dem Scheitern eines Vorhabens sind erste Kandidaten hierfür. Und: Als Beobachter kann man sich auch aus dem Geschehen herausschreiben oder herausreflektieren, wenn die Balance zwischen Präsenz und Distanz während der Explorationen nicht gewahrt bleibt.

Es spricht nichts dagegen, dass das, was man gelernt hat, zur Grundlage für weitere Gespräche wird. Lassen Sie andere an ihren Eindrücken teilhaben (“Mir ist aufgefallen…“) und beleben Sie das Gespräch über das so oft Übersehene. Möglicherweise findet sich dann gemeinsam eine Sicht, die alle weiter nach vorne bringt. Führung eben.

Focus Online (04.12.2013): Humboldt-Tagebücher bleiben in Deutschland. Abrufbar unter: https://www.focus.de/kultur/buecher/kulturpolitik-humboldt-tagebuecher-bleiben-in-deutschland_id_3454195.html (31.01.2018)

Klingenbacher, B. (2010): Expedition ins Großraumbüro. In: NZZ Folio. Abrufbar unter: http://folio.nzz.ch/2010/dezember/expedition-ins-grossraumburo (20.02.2018)

Knoblauch, H. (2014): Ethnographie. In: Baur, N./Blasius, J. (Hrsg.): Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung. Wiesbaden, S. 521-528

Purcell. M. (2018): The health benefits of journaling. Abrufbar unter: https://psychcentral.com/lib/the-health-benefits-of-journaling/ (31.01.2018)

Sparkes, A.C. (2000): Autoethnography and narratives of self: reflections on criteria in action. In: Sociology of Sport Journal, 17(1), S. 21-43

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