„All leaders face the challenge of how to be both:
ethical and effective in their work“.[1]
Spitzenmanager charakterlich im Fokus
Den Manager- und Gründerstars unserer Tage ergeht es medial deutlich besser als sonst in der Dreiecks-Beziehung Öffentlichkeit – Medien – Geschäftsführung üblich: Die gesellschaftliche Wahrnehmung innovativer Gründer und Lenker ist in den letzten Jahren wieder milder, ja bisweilen geradezu freundlich geworden. Steve Jobs, Jeff Bezos oder Elon Musk werden mehrheitlich als geniale Tüftler betrachtet, als kreative Schöpfer neuer Branchen und Geschäftsmodelle. Diese Manager-Ikonen werden weltweit über die Grenzen ihrer Arbeitswelt hinaus idolisiert wie sonst nur Popstars oder Sporthelden. Gelegentlich schaffen sie es sogar bis in die Klatschspalten bunter Lifestyle-Magazine.
Andernorts beginnen dann allerdings auch wieder die Zweifel: Sind unsere Manager zu gierig, in ihrer persönlichen Inszenierung nicht zurückhaltend genug? Flugs ist es mit der Herrlichkeit dieser Berufsgruppe auch schon wieder vorbei; es fallen Begriffe wie Abzocker, Amigo, Gauner. Denkmäler werden wieder gestürzt. Nur: Dem Denkmalsturz geht eben der Personenkult voraus. Wer aber hat diesen inszeniert? Die Manager? Die Medien? Die unwissende Öffentlichkeit? Gar die Mitarbeiter dieser Bürostars selbst? Eines bleiben all diese Leader für die Öffentlichkeit jedoch immer: interessant!
Und eben schillernd. Denn die persönlichen Exzesse und gelegentlich sogar psychopathischen Züge einiger Topmanager wurden zu recht als mitursächlich für die letzte große Wirtschaftskrise gesehen.[2] In einer Art Gegenbewegung wird daher seit etwa zehn Jahren in den USA der eher leise und nachdenkliche Entscheider propagiert; also eine Person, die frei ist von den oft egomanischen Zügen vieler Topentscheider. Jean-Marie Messier, der frühere Vorstandsvorsitzende von Vivendi, der gelegentlich E-Mails mit „J6M“, eine Abkürzung für Jean-Marie Messier Moi-Même, Maître du Monde („Meister der Welt“), unterzeichnete, oder auch Dennis Kozlowski, ehemaliger Vorstandsvorsitzende des Mischkonzerns Tyco, der sich 6000 US-Dollar für einen Duschvorhang und 17.000 US-Dollar für eine Reisetoilette durch den Verwaltungsrat bezahlen ließ, gehören da wohl eher nicht zu dieser Gruppe. Und Jack Welch, der sich einst bei General Electric konsequent jedes Jahr von den 10% leistungsschwächsten Mitarbeitern trennte (er nannte sie lemons) auch nicht.
Ist es Zufall, dass auch aktuell in nicht wenigen Vorstandsetagen nach wie vor Gier und Machthunger die Moral zu übertrumpfen scheinen? Da ist u.a. der spektakuläre Skandal um die Insolvenz des Münchner Zahlungsdienstleisters Wirecard, dessen Wert in kürzester Zeit unter den Augen der Aufsichtsbehörde verpufft ist. Schlanke 20 Milliarden Euro Anlegergeld haben sich in Luft aufgelöst und so ganz nebenbei die größte Firmenpleite der Nachkriegsgeschichte verursacht. Ob der derzeit inhaftierte Gründer Markus Braun von den diversen Luftbuchungen gewusst hat, muss noch vor Gericht geklärt werden. Die staatliche Finanzaufsicht hat dabei nicht nur jahrelang weggeschaut, sondern ausländische Investigativ-Journalisten sogar mit einer Klage überzogen. Was bleibt, ist ein für den Finanzplatz Deutschland menetekelhaftes Desaster mit zugleich hohem Symbolwert.
Typische Kennzeichen derart geprägter Personen sind übertriebene Risikofreude, die Neigung zur Außendarstellung und Selbstüberschätzung sowie – leider – ein partiell ausbeuterischer Egoismus. Aber seien wir ehrlich: Das sind Manager-Eigenschaften, die in einer Zeit, in der unser globales Wirtschaftssystem geprägt ist durch Fusionen, aggressive Markterweiterungen, Massenentlassungen und radikalen technologischen Wandel, durchaus nützlich sein können.
Weitere Beispiele überhöhter Selbstwahrnehmung mit handfesten Täuschungsabsichten ließen sich auch in Gestalt des einstigen Karstadt-Chefs Thomas Middelhoff oder des ehemaligen Volkswagen-CEO Martin Winterkorn erzählen.[3] Destruktive Eigenschaften von Managern oder Spitzenpolitikern sind offenbar kein seltenes Phänomen. Und doch – oder gerade deshalb? – sind diese Personen in ihre führenden Positionen gelangt und waren zumindest zeitweise äußerst effektiv. Offenbar vertrauen wir nicht selten den Falschen. Letztlich benötigt man jedoch gar nicht unbedingt knackige Geschichten von Bilanzfälschung, Datenmissbrauch, klammheimlicher Abgasmanipulation oder Mobbing, um die Frage nach einer erneuerten Führungskultur oder gar einem komplett veränderten Führungsethos zu rechtfertigen. Denn offensichtlich hat sich etwas verändert in den westlichen Wohlstandsnationen.
Ein neues Denken
Ausgehend von den USA zieht möglicherweise auch in Europa bald ein neues Führungsethos ein: Humble Leadership – am besten übersetzt mit leiser, bescheidener Führung. Angesichts des sich dramatisch verschärfenden Fachkräftemangels – der zugleich auf radikal veränderte Führungserwartungen der jungen Arbeitnehmergeneration trifft – treten wir unweigerlich in eine neue Zeit ein. Die heutigen Beschäftigten der sog. Generationen Y und Z erwarten bekanntlich eine deutlich stärkere Rückbindung an den Sinngehalt ihres beruflichen Tuns. Herausfordernde Probleme und spannende Projekte sind wichtiger als formale Titel. Der vom US-Coaching-Anbieter Better Up erstellte „Meaning and Purpose at Work Report“, der 2018 über 2000 Amerikaner aus 26 Branchen befragt hat, ergab zum Beispiel, dass neun von zehn Befragten „money“ gegen „meaning“ eintauschen würden – und dabei durchschnittlich bereit waren, 23% ihres zukünftigen Gehalts zu opfern.[4] Dies entspräche immerhin ca. 20.000 US-Dollar im Jahr.
Zugleich fordern immer mehr Arbeitnehmer ein ethisch unterlegtes Managerhandeln ein. In der 2020er Umfrage des State of Moral Leadership in Business Report forderten 86% der Befragten von ihren Vorgesetzten nachdrücklich „moral leadership“ ein – und nur 7% meinten im Gegenzug, dass ihr direkter Vorgesetzter durchgängig nach ethischen Grundsätzen handeln würde.[5] Wieder einmal zeigt sich: Mehr Gehalt zu bekommen ist für die meisten schön, aber letztlich kein intrinsischer Motor.
Im Gegenzug erhalten, wie beschrieben, individuelle Freiheitsgrade auch in der beruflichen Sphäre eine immer größere Bedeutung. So fordern viele Mitarbeiter immer nachdrücklicher flachere Hierarchien, freie Ortswahl und selbstbestimmtes Arbeiten mit Zeitautonomie ein. Und sie erwarten eine andere Führungshaltung, in der Peer Groups und sog. Matrix-Teams den herkömmlichen Amtsträger ersetzen. Das bedeutet: Führungskräfte erhalten ihren realen Wert nur noch durch die Qualität ihrer Beziehungen zur Workforce. Sie müssen noch stärker zum helfend-unterstützenden Coach werden, d.h. in der Lage sein, zu ihren Anvertrauten eine persönlich hochwertige Beziehung aufzubauen. Dies umfasst vor allem die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis, zur eigenen Belehrbarkeit, zur Anerkennung anderer und Vertrauensfähigkeit.[6] Führungskräfte, die nicht radikal umdenken oder diesen persönlichen Ansatz nicht hinbekommen, werden scheitern.
Das richtet den Scheinwerfer auf unser Thema: bescheidene und selbstreflektierte Leader, denen man vertrauen kann. Denn die Machtbalance zwischen den Beschäftigten und ihren Vorgesetzten wird sich weiter verschieben. Kurz gesagt: Nicht die Führungskräfte werden knapp, sondern die exzellenten Mitarbeiter. Ich postuliere daher: Leadership-Demut ist gefragter denn je!
Demut als persönliche Haltung und Führungseigenschaft
Etymologisch lässt sich „Demut“ auf das althochdeutsche Wort diomuoti zurückführen. Das bedeutet so viel wie „dienstwillig“ zu sein oder „die Gesinnung eines Dienenden“ zu haben. Aus der Luther-Bibel ergibt sich der lateinische Begriff humilis bzw. humilitas.[7] In der Sozialforschung ist Demut bzw. Humility als multidimensionales Konstrukt definiert, das aus mehr oder weniger vielen Subdimensionen besteht und letztlich ein Gegengewicht zum in Managerkreisen nicht unüblichen Set der negativen persönlichen Traits Arroganz, Narzissmus und Ich-Bezogenheit bildet.
Demütige Führer vermeiden allerdings nicht nur destruktive Verhaltensweisen, wie z.B. die gezielte Einschüchterung von Mitarbeitern oder persönliche Bereicherung; nein: Demut zeigt sich gerade auch in positiven charakterlichen Attributen oder konstruktivem Handeln, wie z.B. in Ehrlichkeit, prosozialem Verhalten oder auch einer besonderen Vertrauensfähigkeit. Demütige Führer können hierdurch u.a. effektiver delegieren und Lasten verteilen. Und sie motivieren auch effektiver, denn sie setzen nicht an vordefinierten Prozessen an und „schieben“, sondern schauen auf die gemeinsam vereinbarten Ziele – und „ziehen“. Ihre Autorität ergibt sich letztlich daraus, dass die Geführten sich mit den Projekten und Herausforderungen ihrer Organisationseinheit identifizieren. Die übliche Belohnungs- oder Bestrafungsmacht wird evolutionär aussterben.
Demut als persönliche Haltung und Führungseigenschaft
Als betriebswirtschaftlich „nützliche“ Tugend ist Demut vor gut zehn Jahren tröpfchenweise über die Wirtschaftsethik in die Managementlehre eingesickert und dort nun endlich breitflächig angekommen. Das ist im Management eben deshalb hilfreich, weil diese Tugend das Verhalten der einzelnen Führungskraft außergewöhnlich stark zu prägen vermag und somit letztlich die professionelle Qualität der Leadership bestimmt. Echte Demut, wie alle anderen Tugenden, wird vom Betreffenden meist als „normal“ angesehen und nicht als ein ganz besonderes Tun in einem ganz besonderen Augenblick. Sie zeigt sich im konkreten Führungszusammenhang daher als alltägliche Erscheinung und nicht als besondere Glanztat.
Es ist letztlich wie im sogenannten Ultimatumspiel. Dieses beschreibt ein Experiment, das in den 1980er-Jahren von einer Forschergruppe um den Verhaltens- und Neuroökonom Werner Guth entwickelt wurde. Das Spiel geht wie folgt: Man stellt einer Person A einen höheren Geldbetrag in Aussicht, der aber nur ausgezahlt wird, wenn eine fremde Person B dem zustimmt. Mit anderen Worten: Wenn B nicht zustimmt, bekommt auch A den in Aussicht gestellten Betrag nicht. A muss sich folglich entscheiden, wie er das Geld aufteilen will – und er darf diese Entscheidung nur einmal treffen und kann sie auch nicht revidieren.[8]
Irgendwann realisieren beide, dass sie den jeweils anderen brauchen. Und genau dies ist heute die Situation in betrieblichen Führungssituationen: Die Führungskraft benötigt die Angestellten mindestens so sehr wie diese ihren Vorgesetzten. Denn die Mitarbeiter brauchen ja keinen Chef, um Mitarbeiter zu sein; aber Sie als Vorgesetzter brauchen Mitarbeiter, um Chef zu sein. Diese Erkenntnis ist der erste Schritt zu einem fairen und integren Führungsstil. Echte Leader wissen, dass die Mannschaft der Star ist und sie in einer komplexen und hochdynamischen Business-Welt allein gar nichts mehr ausrichten können.
Letztlich sind wir alle Kinder der Evolution, denn in uns allen existiert ein genetischer Code, der weit in unsere Vorzeit als Jäger und Sammler zurückreicht. In dieser tribalen Kultur war der Anführer unmittelbar erlebbar, und es gab keinen Unterschied zwischen dem privaten und dem öffentlichen Selbst. Der Leader war authentisch. Dieser Urzustand stiftete eine soziale Identität, die so heute nicht mehr vorzufinden ist. Unsere Bedürfnisse als Jäger und Sammler werden im modernen Leben nicht mehr so direkt – oder vielleicht auch gar nicht mehr – angesprochen. Wir haben die intime Stammeskultur eingetauscht gegen bürokratische Großorganisationen mit global tätiger Belegschaft. Anders gesagt: Das soziale Band zwischen oben und unten ist zerschnitten. In dieses Vakuum muss Leadership stoßen; sie kann das erreichen, wenn es ihr gelingt, die soziale Identität der Stammeskultur mit den Bedürfnissen und Herausforderungen moderner Großunternehmen zu verschmelzen.
Eine dienende Führung führt dieses Streben konsequent weiter. Das meint ja eigentlich auch der Begriff „Arbeitsteilung“, der letztlich ein Prinzip beschreibt, auf dem alle Großorganisationen aufgebaut sind – bis heute. Das heißt: Zumindest bezahlte Arbeit ist immer Arbeit für andere; man leistet nur vordergründig etwas für sich. In Wirklichkeit ist man Glied einer Kette, die erst an ihrem Ende eine für einen Leistungsabnehmer (Patienten, Kunden, Schüler etc.) nutzenbringende Leistung hervorbringt.
Hauptmerkmale einer demütigen Grundhaltung
Für mich besteht die Quintessenz von Demut letzten Endes in folgenden drei Hauptbestandteilen:
- Bescheidenheit (Humility)
- Offenheit (Transparency) und
- Ehrlichkeit (Honesty). [9]
Zunächst einmal sind demütige Führer ehrlich, und zwar in beide Richtungen: ehrlich zu anderen Menschen (Untergebenen, Kunden, Investoren) und ehrlich zu sich selbst. Sie erkennen und benennen offen ihre Fehler, ihre Irrtümer, ihre Grenzen. Sie sind kritikfähig und auch nicht zu stolz, sich helfen zu lassen oder auch Unterstellte um Unterstützung zu bitten. Crossman und Doshi haben empirisch bestätigt, dass das Eingeständnis des eigenen Nicht-Wissens in einem kollegialen Umfeld eine Stärke sein kann – es erzeugt nämlich Authentizität und Vertrauen![10] Überhaupt vermeiden sie Stolz als Emotion, denn der Stolze neigt zu Selbstüberhöhung und Selbstüberschätzung (sog. „Overconfidence“). Das kann Fehlentscheidungen provozieren. Wir haben gesehen, dass Narzissten in der Unternehmensspitze z.B. wesentlich schneller internationalisieren und generell höhere Summen einsetzen. Die Subprime-Krise, die zynische und eitle Immobilienfinanzierer 2008/09 in den USA dadurch ausgelöst haben, dass sie aus Gier auch Menschen mit sehr wenig Einkommen mit Immobilienkrediten versorgten, hat nicht zufällig die letzte globale Wirtschaftskrise erzeugt. (Filmtipp: The Big Short auf NETFLIX).
Demütige Führer sind anders, eben leise, behutsam, drängen sich nicht ständig in den Vordergrund. Sie sind bescheiden und stehen zu ihren Schwächen. Sie verschweigen aber auch nicht eigene Verdienste und Leistungen, denn das wäre unehrlich. Sie stehen zu ihrem besonderen Status, leiten daraus aber keine Sonderrechte ab (wie z.B. einen größeren Firmenwagen oder besondere Boni). Demütig-bescheidene Menschen können in der zweiten Reihe stehen und anderen den Vortritt lassen. Erfreuen sich an den guten Beiträgen Dritter. Streben primär nach Leistung, nicht nach Status oder Prestige. Demütige Menschen wissen um ihren Wert, erhöhen aber nicht ihren Preis.
Und sie sind nicht hintenrum, sondern kommunizieren offen. Wer Vertrauen aufbauen will, muss transparent sein. Die Karriere-Website Glassdoor hat 2018 herausgefunden, dass satte 90% aller Jobsuchenden der Meinung sind, es sei wichtig, einen Arbeitgeber zu finden, der Transparenz und Offenheit praktiziert.[11] Man darf annehmen, dass das nicht nur die Mitarbeitenden so sehen, sondern auch die Kunden und Geschäftspartner eines Unternehmens. Denn Transparenz erzeugt Vertrauenswürdigkeit – und das ist nicht nur in geschäftlichen Beziehungen ein großer Trumpf.
Gute Leader taktieren also nicht hinter den Kulissen, sondern agieren auf offener Bühne. Sie sagen, was sie meinen (= Offenheit) und meinen, was sie sagen (= Ehrlichkeit). Sie stellen sich selbst in den Wind und übernehmen die Verantwortung gerade auch, wenn es schwierig wird. Sie praktizieren weder taktische Mikropolitik noch kleinteiliges Mikromanagement, d.h. das allzu kleinteilige Anweisen und Kontrollieren von Mitarbeitern. Die gute alte Stechuhr oder das ständige Sich-Berichten-Lassen sind unübersehbare Symptome hierfür. Sie rauben den Beschäftigten mit der Zeit jegliche Eigeninitiative. Denn Mikromanagement bedeutet letztlich, kein Vertrauen in die Geführten zu haben. Offenheit und Ehrlichkeit zusammen ergeben Aufrichtigkeit.
Dies sind aus meiner Sicht prinzipielle Grundbausteine von Demut. Sie stehen nicht im Widerspruch zu anderen Ordnungskonzepten, sondern setzen nur alternative Schwerpunkte. So ist u.a. das Konzept derExpressed Humility von Owens und Kollegen besonders wirkungsstark in den Wirtschaftswissenschaften (speziell auch in der Führungslehre) geworden.[12] Dessen Sicht ist jedoch noch spezieller auf die Berufswelt gemünzt.
Wer als Leader seine eigenen Grenzen anerkennt, weiß, dass er die anderen braucht. Einen Humble Leader macht das nicht kleiner, sondern größer. Dies wusste bereits der wichtigste Lehrmeister der Chinesen: „Widerspruch war dem Meister willkommen, trug er doch zur Klärung bei. Dies galt auch für Einwände gegen sein eigenes Verhalten. Konfuzius schätzte sich glücklich, wurden seine Fehler erkannt, und ein Schüler stellte fest: ‘Die Mängel des Edlen gleichen den Verfinsterungen von Sonne und Mond. Jeder sieht seinen Fehler, und wenn er ihn korrigiert, blicken alle zu ihm empor’.“[13] Mit Demut ausgestatteten Menschen ist überdies bewusst, dass ihre Zeit im Unternehmen endlich ist – egal wie erfolgreich sie letztlich gewirkt haben. Sie akzeptieren, dass sie irgendwann durch eine(n) andere(n) ersetzt werden.
Narzisstische Chefs tun sich mit einer solchen Einsicht erfahrungsgemäß schwerer; sie klammern sich an ihre Allmacht und sind – gut zu beobachten auch in politischen Parteien – häufig argwöhnisch gegenüber Newcomern. Diese könnten schließlich potenzielle Konkurrenten sein. Sie müssen dem „Neuen”, wenn er in seinem Verantwortungsbereich zu populär wird, daher doppelt Aufmerksamkeit schenken. Das kostet natürlich Energie und Kraft. Diese Energie sollte besser in zwei der vornehmsten Führungsaufgaben fließen, nämlich der systematischen Entwicklung weiterer Leader im Unternehmen sowie der Findung eines fähigen Nachfolgers. Dies ist der beste Dienst, den man als loyale Führungskraft seinem Arbeitgeber erweisen kann!
Als konkrete Beispiele derartiger Vorstände, die letztlich den Wert einer solch demütig-zurückgenommenen Einstellung erkannt haben, gelten unter anderem Sam Walton (Gründer von Wal-Mart), Mary Kay Ash (Gründerin von Mary Kay Inc.), Ingvar Kamprad (IKEA), Konosuke Masushita (Technics/Panasonic) oder Herb Kelleher (Vorstand von Southwest Airlines). In Deutschland kommen Unternehmer wie Claus Hipp, Götz Werner oder der norddeutsche Hoteleigner Bodo Janssen infrage. Janssen hat die Freizeitkette Upstalsboom nach dem Motto „Wertschöpfung durch Wertschätzung“ erfolgreich umgebaut. Er praktiziert eine klösterliche Gesprächsführung und hat in vielen seiner Häuser und Ferienanlagen holokratische Strukturen mit selbstbestimmten Teams eingeführt. Er versteht sein Unternehmen als Plattform dafür, dass sich Menschen psychisch, physisch und sozial wohlfühlen; für ihn dient Wirtschaft dem Menschen und nicht umgekehrt.[14] All diese Vorstände sind echte Wegbegleiter und Wegbereiter ihrer Mitarbeiter. Idealerweise fallen Führungseffizienz und Führungsethik somit zusammen.
Viele von diesen Merkmalen finden wir parallel in der Denkschule der Positiven Psychologie wieder. Nicht zufällig ist Demut auch hier ein Schlüsselbegriff, denn die Positive Psychologie untersucht die komplexe Verbindung von beruflicher Leistung und persönlicher Gesundheit und Befriedigung aller am Wirtschaftsprozess Beteiligten. Es geht hier, salopp gesagt, um gute Organisationen, gute Arbeitsplätze und gute Gedanken. Prototypisch hierfür ist das Buch von Martin Seligman und Christopher Peterson Character Strength and Virtues: A Handbook and Classification (Oxford University Press 2004).
Zur Messbarkeit von Demut
Ein letzter Gedanke: Immer noch nicht ausreichend erforscht ist die Frage, wie man Demut in Führungskräften oder auch normalen Mitarbeitern messen kann. Vor allem steht noch kein validiertes Messinstrument oder auch nur eine ausreichend geprüfte Skala verschiedener Demutsdimensionen zur Verfügung. Dass wir beides noch nicht haben, hat natürlich mit der erforderlichen subjektiven Einschätzung von Demut durch andere sowie mit dem komplizierten, eben mehrschichtigen Konstrukt Demut zu tun. Oder mit den Worten von Comte-Sponville (2001): „Humility is a humble virtue so much so that it even doubts its own Virtuessnes” (übersetzt etwa: Demut ist so sehr eine bescheidene Tugend, dass sie sogar ihre eigene Tugend bezweifelt).
Wirklich bescheidene Menschen würden sich wahrscheinlich eher selten als besonders bescheiden einschätzen. Daher dürften Selbsteinschätzungs-Fragebögen hier nicht wirklich weiterhelfen. Ein interessanter Ansatz liegt diesbezüglich von Rowatt et al. (2002) vor. Diese operationalisieren Demut als die Größe des Unterschiedes zwischen der Selbstwahrnehmung und der Einschätzung anderer im direkten Abgleich. Man kann hier argumentieren, dass eine systematische Überschätzung des eigenen Selbstwertes auf eine geringe Demut der Person hindeutet. Anschlussfragen betreffen u.a. die Entstehung von Demut – ist sie z.B. eine Alters- bzw. Reifegradfrage? Für diese Spezialaspekte muss ich Sie allerdings auf mein neues Buch „De/MUT“ (bei Vahlen, 2022) verweisen.
Schlussbemerkung
Eine demütige Organisation stellt natürlich einen Wert an sich dar und muss letztlich nicht unbedingt utilitaristisch begründet werden. Sie ist aber unter bestimmten Bedingungen durchaus auch eine strategische Ressource. Wenn eine Ressource im Wettbewerb einen Unterschied machen soll, dann muss sie möglichst selten sein. Zunächst ist ein moderates Ehrlichkeits- und Bescheidenheitslevel durchaus normal und stellt damit weder einen echten Vorteil im Kampf um Kunden und Marktanteile dar noch einen echten Nachteil. Aber ein sehr hoher Grad an Demut – sichtbar u.a. im operativen Führungsstil, in den organisationalen Praktiken, beim Umgang mit Leistungsschwächeren oder auch in einer überdurchschnittlich hohen Zahl aufrichtiger Leader – ist eben rar. Und damit ein echter Wettbewerbsvorteil!
So sind neben geschäftlichen z. B. auch gesundheitliche Effekte auf das Personal sind zu verzeichnen, u.a. eine Stärkung der Resilienz, also der individuellen Widerstandsfähigkeit der Beschäftigten. Denn diese wollen nicht dominiert werden, sondern als aktiver Part Einfluss auf das Geschehen um sie herum nehmen. Die Organisationspsychologie hat schon in den 1970er-Jahren herausgearbeitet, dass Einbindung und Autonomie zentrale psychosoziale Bedürfnisse des werktätigen Menschen sind.[15] Sogar Gehaltsdifferenzen zwischen den Hierarchieebenen scheinen sich mit der Zeit abzuflachen, die Arbeit im Topmanagement-Team inkl. seiner Entscheidungsqualität zu verbessern sowie der Firmenwert insgesamt zu steigen.[16] All dies konnte durch statistisch saubere Datenauswertung abgesichert werden. Allerdings darf Demut auf die Kollegen und Mitarbeiter natürlich nicht vorgespielt wirken (sog. humble-bragging); andernfalls wird Vertrauen auch schnell wieder verspielt.