Im wirtschaftlichen Umfeld vollzieht sich derzeit ein grundlegender Wandel: Während Märkte bis heute – einer traditionellen strategischen Logik folgend – noch überwiegend nach Produkten oder Branchen definiert werden (vgl. Porter 1985), bilden sich schleichend neue Märkte heraus. Getrieben von verschiedenen Megatrends wie Vernetzung, Individualisierung, Digitalisierung etc. (vgl. zusammenfassend Maas et al. 2015), verändern sich Kundeneinstellungen wie Kundenverhalten und führen – enabled durch neue Technologien – zur Auflösung von Branchengrenzen. Dies ist vermutlich die fundamentalste Veränderung, die wir in den Märkten beobachten können, da sie angestammte Strategien und Geschäftsmodelle von Unternehmen obsolet werden lässt. Und auch die Führung bleibt davon nicht unberührt
Neudefinition der Märkte
Kunden wollten immer schon ihre Bedürfnisse befriedigen, indem sie Produkte und Dienstleistungen erwerben und konsumieren. Vor dem Hintergrund der aktuellen Transformationen ändert sich auch der Zugang und die Rolle von Kunden im Markt (vgl. Maas et al. 2019). Wenn Kunden z. B. ein Angebot mit Bezug auf ihre Mobilitätsbedürfnisse suchen, ist der bisher vielleicht präferierte Kauf eines Autos nicht unbedingt die beste Lösung. Extrem formuliert aus Kundensicht: Welcher Anbieter ist heute in der Lage, individuelle Mobilitätsbedürfnisse umfassend und rund um das Jahr zu erfüllen? Vermutlich keiner – es wird daher für Anbieter immer wichtiger, sich mit anderen Playern zu vernetzen und gemeinsam an der Entwicklung einer geeigneten Value Proposition zu arbeiten.
Als Konsequenz dieser Entwicklungen lässt sich ein immer stärker werdender branchenübergreifender Wettbewerb beobachten (in der Marketing-Literatur bereits sehr früh thematisiert vom Wirtschaftswissenschaftler Theodore Levitt im Harvard Business Review 1960). Alle Player, die einen Beitrag zur Mobilität der Kunden leisten, finden sich plötzlich in einem gemeinsamen Markt wieder, wie z. B. Automobilhersteller, Car Rentals, Airlines, öffentliche Verkehrsunternehmen, Sharing-Plattformen etc.
Unternehmen sind gezwungen, sich von einer auf brancheninternen Wettbewerb abgeleiteten Strategie zu verabschieden und eine neue Positionierung zu erarbeiten, die auf die veränderte Marktsituation passt. Damit verändern sich notwendigerweise auch unternehmensinterne Strukturen, Kulturen und Prozesse. Die Produktexpertise, die im klassischen Modell auf Seiten des Anbieters angesiedelt war, weicht immer stärker einem nachfrageorientierten Sensorium, das in der Lage ist, Kundenbedürfnisse – auch latenter Art – möglichst genau zu erfassen, abzubilden und daraus treffgenaue Wertangebote – ggfs. gemeinsam mit dem Kunden – zu entwickeln.
Von der Producer- zur Customer-Perspektive
Dies bedeutet einen radikalen Shift, indem sich die neuen Märkte entlang von Kundenbedürfnissen in den Alltagswelten herausbilden: Mobilität, Gesundheit, Wohnen, Arbeit etc. Kunden kommen in ihrer Marktrolle immer stärker in den Driver Seat und können bestimmen, welche Leistungen für sie wertvoll sind und welche nicht. Die übergeordnete Frage dieser sogenannten C-Perspektive (Customer driven) dahinter lautet (vgl. Belz/Bieger 2006): Wie gehen Kunden in Märkte und suchen (für sie) wertvolle Angebote?
Was bedeutet dies für die Anbieter? Unternehmen brauchen immer ein Marktsensorium, um veränderte Nachfragetrends zu erkennen. Sie sind es aber gewohnt, angebotsorientiert zu denken und zu handeln, d.h. sie entwickeln Produkte und Dienstleistungen, von denen sie annehmen, dass sie im Markt Abnehmer finden (sogenannte P-Perspektive). Vor dem Hintergrund der oben beschriebenen Entwicklungen reicht das nicht mehr aus. Wenn Kunden immer weniger vorgefertigte Produkte kaufen und Antworten auf ihre Bedürfnisse suchen, werden Unternehmen gezwungen, sich intensiver mit diesen Needs und Wants auseinanderzusetzen.
Wenn man sich neue Geschäftsmodelle in verschiedenen Märkten anschaut, wird deutlich, dass immer mehr Anbieter versuchen, die Value Proposition (Nutzen- oder Wertversprechen) vom Kunden her zu denken und zu verstehen, was der Kunde wirklich will. Für die Unternehmen bedeutet dies ebenfalls eine grundlegende Transformation von einer inside-out- hin zu einer outside-in-Sicht. Damit rücken die Unternehmen nicht nur näher an die Kunden, sondern das Gleiche gilt auch umgekehrt. Einerseits ermöglichen Anbieter, dass Kunden in ihre Wertschöpfungsprozesse integriert werden (Customer Integration), um bedürfnisgerechtere Leistungen zu entwickeln und Kosten zu reduzieren, zum anderen wollen Kunden aktiv an der Kreierung der Value Proposition teilhaben, um z. B. ein möglichst treffendes Customizing zu ermöglichen (Customer Involvement / Engagement).
Co-Creation und Führung
Gerade im Dienstleistungsbereich ist dieses Phänomen nicht neu, geht doch die Prosumer-Idee auf die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts zurück. Dienstleistungen sind durch das Prinzip uno-actu gekennzeichnet, d.h. dass Kunden grundsätzlich an der Erstellung der Leistung beteiligt sind. Egal ob Ferienreise, Friseurbesuch oder Psychotherapie, immer ist der Kunde Co-Creator im Wertschöpfungsprozess, der Zeit, Wissen, Innovationen etc. einbringen kann.
Das bedeutet, der Einfluss des Kunden beschränkt sich nicht nur auf die Leistungserstellung des «Produkts», sondern betrifft auch die Prozesse und die Mitarbeitenden, die im Kundenkontakt stehen. Sie müssen flexibel auf unterschiedliche Kundenwünsche reagieren, Prozesse anpassen und im Zweifel die kundenorientierteste Lösung suchen. Gleichzeitig verfügen diese Organizational Boundary Spanner über das umfassendste Kundenwissen, das es ihnen ermöglicht, maßgeschneiderte Leistungen zu entwickeln. Sie benötigen dazu den notwendigen Freiraum für die Gestaltung der Interaktion mit dem Kunden, wobei von gegenseitigen Einfluss- und Steuerungsaktivitäten ausgegangen werden muss.
Je stärker Unternehmen sich mit anderen vernetzen, um eine gemeinsame Value Proposition in den Markt zu bringen, umso mehr stellt sich die Frage, ob Kunden auch Teil dieser (bisher rein angebotsorientierten) Netzwerke sein können (resp. müssen). Unter dem Stichwort «Ökosysteme» wurde die Netzwerk-Forschung der 90er Jahre wieder belebt und vor dem Hintergrund der technologischen Entwicklung neu interpretiert. Leadership in einem Coopetition-Umfeld („Coopetition“ spricht die partielle Zusammenarbeit mit Konkurrenten an) sieht sicherlich anders aus als in einem Wettbewerb weitgehend autonom-hierarchischer Unternehmen, die den Wettbewerb primär als einen Kampfschauplatz „Alle gegen alle“ sehen). Bei der flexibleren Sowohl-Als Auch-Sicht sind viel stärker kollaborative Formen des Handelns gefragt, um gemeinsam im Markt erfolgreich zu sein. Vergleichbares gilt für die Co-Creation-Thematik in der Zusammenarbeit mit dem Kunden.
Wenn Kunden aktiv bei der Produktentwicklung mitarbeiten, Lead-User Funktionen übernehmen oder auch Innovation Labs mitgestalten, könnte man hier auch von der Wahrnehmung strategischer Führungsfunktionen sprechen, sowohl im Bereich der Aufgaben- wie auch der Beziehungsorientierung. Damit verschiebt sich die Rolle des Kunden im Markt vom passiven Konsumenten hin zu zum aktiven Mitgestalter der Value Proposition und der Value Creation. Hierbei nutzt er auch Ressourcen des Unternehmens, seien sie personeller oder auch materieller Art.
Was bedeutet dies für die Führung im Unternehmen?
Zum einen bewegen sich Unternehmen in einem immer weniger hierarchiegeprägten Umfeld, das nicht nur neue Formen der (Zusammen-)Arbeit ermöglicht, sondern auch völlig neue Anforderungen an Leadership mit sich bringt. Je aktiver Kunden in einen Co-Creation-Prozess eintreten, umso weniger werden klassische interne Führungsfunktionen wirksam. Leadership verteilt sich im Operativen daher auf verschiedene Akteure abhängig vom jeweiligen Prozess und den benötigten Rollen (Weibler 2022). Je mehr Kunden aktive Führungsfunktionen übernehmen und Einfluss auf Mitarbeiterverhalten ausüben, desto geringer wird tendenziell der Einfluss der internen Führung sein. Damit wird aber auch das interne Steuerungssystem entlastet und die Chance auf eine kundengerechte Marktleistung erhöht.
Konsequenzen für die Führungsforschung
Wir haben bereits zu einem früheren Zeitpunkt die Forschungsfrage nach Leadership by Customers (LbC) grundlegend thematisiert und auf die sich abzeichnenden Trends und deren Auswirkungen hingewiesen (vgl. Maas & Graf 2004). Die dort skizzierte Entwicklung, angefangen mit einer Dissertation von David Bowen an der Michigan State University (1983) zum Spannungsfeld von HR und Kundeneinfluss, hat in den letzten zwei Jahrzehnten noch deutlich an Dynamik gewonnen, zum einen aufgrund der technologischen Beschleunigung und der gestiegenen Datenverfügbarkeit, zum anderen durch die dadurch ausgelösten neuen Geschäftsmodelle (z. B. Plattformen) und die Neuverteilung von Rollen bei den Marktteilnehmern.
Heute soll deshalb erneut ein Startsignal gegeben werden, diesen u.E. sehr relevanten, aber völlig vernachlässigten Bereich vertieft auf strategischer wie operativer Ebene zu erforschen. Hierzu braucht vor allem einen interdisziplinären Blick, da Führungsforschung und Consumer Behavior/Marketing noch zwei disparate Forschungs-Communities darstellen, die keinen Bezug aufeinander nehmen. Zum anderen braucht es auch empirische Forschung, um diese ersten theoretisch-konzeptionellen Überlegungen auf Belastbarkeit zu prüfen.