Dieser Beitrag ist Teil der Serie Interviews zur Führung

Andere Beiträge in dieser Serie:

  1. Das Interview zu Coaching in Organisationen
  2. „Ich will wirken.“ – Interview mit Markus Stelzmann (TELE)
  3. Active Sourcing im digitalen Recruiting – Interview mit Samuel Ju (LEGALHEAD)
  4. Instrumentelle Führung – Interview mit Jens Rowold (TU Dortmund)
  5. „Kunst und Kultur verbinden Menschen im Unternehmen“ – Interview mit Thomas Kirchhoff
  6. „Hierarchien werden untergraben“ – Interview mit Prof. Dr. Jürgen Weibler
  7. Schwierige Führungssituationen souverän lösen – Ein Interview
  8. Wie der Geruch Führungsbeziehungen beeinflusst – Interview mit Univ.-Prof. Bettina Pause

people&work

Als ob Business Leader nichts anderes zu tun hätten: Kundinnen, Eigentümer, die zig Öffentlichkeiten. Aber ständig werden sie daran erinnert, dass sie eine Führungsrolle nach innen einnehmen sollen, ja müssen, für die ganze Organisation und für die vielen zunehmend diversen Individuen. Bereits für die erste Ausgabe von people&work haben wir uns mit Jürgen Weibler unterhalten. Gerade ist die vierte Auflage seines Standardwerks erschienen, das wie kein anderes Praxis und Theorie auf dem Stand der Zeit darstellt. Ein Gespräch über Personalführung in den 2020ern.

Wow! Über 900 dicht bedruckte Seiten in der Neuauflage Ihres Buches. Das kann doch heute kein im Berufsleben stehender Mensch mehr verarbeiten. Also eine Bitte für den eiligen Leser, die hurtige Leserin: der wichtigste Satz!

„Du kannst lebendigere Führungsbeziehungen kreieren“.

Hä? Das müssen Sie mir erläutern.

Sehen Sie, Ihre Frage zielte auf eine Art Führungsformel, an die Sie doch selbst auch nicht glauben. Dieser immerwährende Wunsch lässt sich so nicht erfüllen. Am Anfang der Führungsforschung glaubte man noch, es gäbe ein Führungsgen. Das hat man oder man hat es nicht. „Man“ dürfen Sie sich übrigens gleich mit zwei „n“ denken. Da die DNA-Sequenzierung keine Option war, ging man von vornherein davon aus, dass sich dies auf eine Eigenschaft kaprizieren ließe. Nach empirischer Prüfung: Fehlanzeige. Später sollte es ein Bündel von Eigenschaften sein. Wieder Fehlanzeige. Heute sind es Checklisten, die diese Funktion erfüllen. Gern gelesen, aber wenn es um das Wesentliche geht: Unsinn. Wie viele gibt es? Unzählige. Zu jeder, die Sie mir zeigen, schreibe ich in Windeseile eine neue, die nicht weniger plausibel ist. Wem hilft das? Niemandem.

Mein Satz beinhaltet eine ganz andere, positiv gefärbte Essenz, die sich aus meiner Beschäftigung mit Leadership ergibt: Es geht besser, befriedigender, auch produktiver. Dazu musst du deine Führung ändern. Ich habe das forsch als Imperativ formuliert und mit der persönlichen Ansprache von Führungskräften: du – wer denn sonst? Bei dem einen erfordert das grundlegende Modifikationen, bei der anderen genügen Feinjustierungen.

Vielleicht muss man für eine veränderte Führung auch ein Stück weit sein Leben ändern, Ruhephasen einlegen, flexibler sein, um auf andere einnehmend zugehen zu können.

Interessierte an meiner Führungslehre nehme ich aber im Grunde mit auf eine Reise. Sie können einsteigen, aussteigen und wieder einsteigen, wo und wann sie möchten. Ich bereite für sie alles auf. Irgendwann reisen sie alleine weiter. Und dies hoffentlich mit einem Rucksack voller Proviant. Vielleicht muss man für eine veränderte Führung auch ein Stück weit sein Leben ändern, Ruhephasen einlegen, flexibler sein, um auf andere einnehmend zugehen zu können. Ist das schlimm? Nein, natürlich nicht. Wandel ist allgegenwärtig, ein Lebensprinzip. Und er vollzieht sich in Spannungsfeldern. Sie schreiben das in einem anderen Kontext ja selbst und bezeichnen das als Leitgedanke dieses Magazins. Deshalb schließe ich mein Buch mit den Worten: „Eine gelingende Führung ist immer mehr ein Werden als ein Sein“.

Sie stellen in dieser Auflage noch mehr Theorien und Konzepte rund um die Personalführung vor, zudem unzählige empirische Studien. Längst ein Klassiker der Leadershippraxis ist der situative Ansatz: „It depends!“ Von welchen Faktoren hängt Führung besonders ab?

„It depends“ und dabei wechselt es. Das ist nicht so trivial, wie es klingt. Gemeint ist dabei fast immer die Frage nach dem Führungsverhalten, das sich der Situation anpassen soll. Was aber ist die Situation? Manche unterscheiden die Führungssituation noch vom Führungskontext. Die Situation ist dann die unmittelbare Führungssituation, beispielsweise die Komplexität der Aufgabe oder die Bereitschaft und Fähigkeit der Mitarbeitenden, sich einzubringen.

Der Kontext ist dann beispielsweise das technologische Umfeld. In der sogenannten impliziten Führungstheorie wird herausgearbeitet, dass die Erwartungen an die Führung zumindest teilweise je nach Sektor variieren. Vom Anführer einer Gang wird ein anderer Umgang mit Gewalt erwartet als in nicht devianten Konstellationen, etwa bei der Caritas. Im Militär sind hierarchische Anweisungen zumindest prinzipiell akzeptiert, im Management der meisten Firmen geht heutzutage ohne Begründungen nichts, außer in ganz engen Konstellationen. Auch wenn Anweisungen möglich wären, möchte man die Akzeptanz als Führungskraft nicht verlieren.

Man kann die Situation aber auch ganz anders lesen. Ich referiere beispielsweise eine Studie, in der die körperliche Attraktivität des Partners bzw. der Partnerin eines/einer CEO unterschiedlich auf die Zuschreibung von Führerschaft wirkt. Da ist der Kontext zwar gleich, aber die Bedeutung der Faktoren im Kontext verändert sich.

Und, was kam raus?

Eine als attraktiv eingestufte Partnerin erhöht die zugeschriebene Führungskraft beim männlichen CEO, wohingegen die zugeschriebene Führungskraft einer weiblichen CEO bei einem attraktiven Partner sinkt.

Sollte sich eine Managerin mit Karriereambitionen also nicht in einen Beau verlieben?

So weit kommt es noch. Eingefahrene, überkommene Führungsbilder müssen sich ändern. Jede Frau soll sich verlieben, in wen immer sie will.

Möchten Sie etwas herausheben, was Sie für die Führungspraxis im neuen Buch ergänzt haben?

Vieles, beispielsweise weitere Führungsinstrumente oder ein anspruchsvoller Ansatz für eine integrale Führung. Aber zwei größere Punkte möchte ich hier hervorheben. Erstens die strategischen und organisationalen Folgen der Digitalisierung, insbesondere mehr Selbststeuerungspotenzial bei den Arbeitsprozessen auf der Individual- und Teamebene. Ein Schwerpunkt sind also „digitale“ Führungskonzepte. Als Stichworte mögen postheroische Konzepte wie etwa eine plurale Führung genügen. Trotz einiger Vorteile wird digitale Führung übrigens auch als Verlusterfahrung erlebt – weshalb ich eine hybride Führung präferiere.

Und zum Zweiten?

Dafür hole ich die ästhetische Führung hinter dem Vorhang hervor. Ästhetik bezeichnet die „sinnliche Wahrnehmung“, also nicht nur das „Schöne“, sondern auch das „Traurige“ oder „Abstoßende“. Bei dieser Sicht geht es immer um relationale Prozesse zwischen Menschen oder zwischen Menschen und Dingen, denken wir an Räume. Ausgangspunkt ist der in einer bestimmten Situation subjektiv gespürte Körper, wenn mir etwa mein Vorgesetzter begegnet und das etwas mit mir macht, mich etwa höchst achtsam werden lässt. Ästhetische Führung heißt also nicht, dass eine Führungsperson gut aussieht und ein schickes Outfit trägt, auch wenn das über die Wirkung einfließen kann. Die ästhetische Perspektive auf Führung beschreibt vielmehr, wie Menschen im Führungskontext ihre sinnliche Wahrnehmung einsetzen, auf Situationen und Stimmungen reagieren, auf ihr Bauchgefühl hören oder mit Emotionen und Gefühlen arbeiten – nicht unwichtig für den Führungserfolg.

Die ästhetische Perspektive auf Führung beschreibt vielmehr, wie Menschen im Führungskontext ihre sinnliche Wahrnehmung einsetzen, auf Situationen und Stimmungen reagieren,

Das ist etwa im Kunstbereich ganz offensichtlich. Aber auch im Unternehmen ist es allgegenwärtig. Gerade unter Unsicherheit müssen Führungspersonen ihre Antennen ausfahren, Subtexte bei anderen verstehen, Entwicklungen, zu denen es keine Daten gibt, dennoch spüren. Damit macht der ästhetische Ansatz wichtige Zusammenhänge sichtbar, die gewöhnlich übersehen und verkannt werden. Führung wird nämlich im Mainstream der Forschung oft als eine weitgehend rationale, neutrale und körperlose Position beschrieben. Jedoch hängt nicht nur das Führen, sondern auch das Folgen in vielen Bereichen davon ab, wie andere Menschen auf die Führungsperson reagieren, ob sie sie als charismatisch, authentisch oder als akzeptabel wahrnehmen. So was ist nicht nur rein rational oder logisch zu erklären, sondern wird von allen möglichen Zuschreibungen und der eigenen Wahrnehmung beeinflusst. Führung ist subjektiv und immer sozial geschaffen – und hängt folglich nicht nur an der fachlichen Kompetenz.

In der modernen Führungstheorie werden immer mehr Stimmen laut, die sozialromantisch die Verhältnisse auf den Kopf stellen, wenn etwa von „Servant Leadership“ gesprochen wird, also von Vorgesetzten, die sich selbst völlig zurücknehmen und als „Enabler“ ihrer Mitarbeitenden geben.

Die von Ihnen beschriebene Sozialromantik hat empirisch nachweisbare Effekte. Larry Spears nennt zehn zentrale Attribute, die ein Servant Leadership ausmachen, darunter Empathie, Visionen, Voraussicht, aber auch aktives Zuhören oder heilen. Andere stellen eben die Wertschätzung und das Dienen in den Mittelpunkt. Der Ansatz hat durchaus Wichtiges anzumerken. Es ist eine radikale Abkehr von der Idee eines heroischen Führers. Führende sollten vielmehr den Boden dafür bereiten, dass andere vernünftig arbeiten können, und helfen, wo sich Schwierigkeiten auftun. Der Leitgedanke der Reformpädagogin Maria Montessori, „Hilf mir, es selbst zu tun“, passt ganz gut, sofern die Person Schwierigkeiten hat, zu performen. Sonst sind, sofern möglich, die Rahmenbedingungen zu verbessern.

Führende sollten vielmehr den Boden dafür bereiten, dass andere vernünftig arbeiten können, und helfen, wo sich Schwierigkeiten auftun.

Nicht nur ich denke, solche Vorgesetzte wären für so manche Mitarbeitenden eine Erlösung. Was leider nicht kommuniziert wird, ist, dass dies die entsprechenden Akteure, Kulturen wie Strukturen voraussetzt, um voll zu wirken. Zu wenig wird betont, dass zunächst alles gut aufgesetzt und abgestimmt werden muss und ein aktives Eingreifen immer als eine Option im Hintergrund bleibt. Es kann ein Dienst am Nächsten sein, ihn von Aufgaben zu entbinden, zumal auch der Organisation zu dienen ist. Aber bitte, interpretieren Sie das jetzt nicht zu eng. Macht, Konflikte und Interessengegensätze dürfen nicht ignoriert werden, da neigen viele Ansätze zu Vereinseitigungen.

Mir scheint, je öfter die Allmacht der Führungsrolle infrage gestellt wird, desto mehr muss über sie gesagt und geschrieben werden. Die Leader von einst, der Gott, der König, der Vater, machten einfach ihr Ding. Warum haben es die heutigen Führungskräfte so viel schwerer?

Immer mehr Individuen möchten nicht, dass andere „ihr Ding“ mit ihnen machen. In einem deutschen Spielfilm von 2020 mit und über den Musiker Udo Lindenberg heißt es programmatisch „Lindenberg! Mach dein Ding“. Das „dein“ hört sich für mich zumindest als Ausgangsposition besser an. Wir sollten zudem nicht vergessen, dass die Bonapartes dieser Welt kraft Allmacht eine Blutspur hinter sich herzogen. In verklärter Erinnerung bleiben dann wie bei Napoleon selbst nur die genialen Strategien, seine Konsequenz, sein Charisma oder das reformierte Rechtswesen. Aber wir wissen doch, dass das verkürzt ist. Und im Übrigen war es nicht nur er, sondern es waren gelehrte Berater, geschulte Verwalter, verpflichtete Bauernsöhne, dienstbare Lagerköche und viele andere, die zwangsweise oder freiwillig mitwirkten.

Da kann jeder einmal für sich abwägen, wie die Gesamtbilanz für ihn ausfällt. Eine institutionalisierte Gegenmacht, so meine Auffassung, hat gute Gründe, auch dass Personen fair um Einfluss konkurrieren können. Napoleon hat für sich günstige Momente genutzt und es so geschafft, aufzusteigen. Aber ererbte Macht mit Untertanenhabitus? Dem könnte ich allenfalls zustimmen, wenn ich mich selbst hochplatziert in der dynastischen Erbfolge befände. Da ich vermute, dass viele Menschen hierzulande dies ähnlich sehen, sollten solche Entscheidungen stets mit John Rawls unter dem Schleier des Nichtwissens getroffen werden. Damit ist gemeint: Erst nach den Entscheidungen wissen alle, wo sie in der realen Welt, für die sie Entscheidungen getroffen haben, stehen werden.

Beim Lesen und Hören über die „richtige Führung“ bekomme ich auf manchen Kanälen mehr und mehr den Eindruck, es ginge nur noch darum, die Mitarbeitenden zu umhegen und zu umpflegen, ihnen quasi einen „Safe Space“ einzurichten, ohne die anspruchsvolle Kundschaft und ohne gewinnsüchtige Shareholder. Driften viele Führungsgurus in Wohlfühloasen ab?

Nun ja, ich gehöre nicht in die von Ihnen evozierte Ecke, aber Ihr Eindruck hat seine Berechtigung. Ökonomischer Sachverstand schadet deshalb bei Aussagen oder Postulaten zur Führung sicher nicht. Ich halte es für falsch, Führung nur auf die Beziehungsdimension zu reduzieren. Fachkompetenz schafft Vertrauen und bringt Anerkennung, sie ist mindestens in Grundzügen unverzichtbar. Sonst verstehe ich die Probleme ja gar nicht, von Lösungsideen ganz zu schweigen. Alleine ist sie natürlich viel zu wenig. Arbeitsgruppen sind sicher keine Therapiegruppen, auch wenn sich manche Vorgesetzten so fühlen, als seien sie in eine solche geraten.

Aber bleiben wir bei dem Positiven des Bildes. Immer wieder jemanden anzuregen, seine Meinung zu sagen, dafür zu sorgen, das andere ausreden können, nicht die eigenen Probleme auf andere zu projizieren, zu erkennen, dass die Welt sich nicht nur um einen selbst dreht, und sich in Erinnerung zu rufen, dass Neid bereits von Papst Gregor dem Großen um das Jahr 600 als Todsünde benannt wurde, scheint mir außerhalb einer Therapie auch keine schlechte Orientierung zu sein.

„Umhegen“, wie Sie sagen, hielte ich für verkehrt, die Eigenverantwortung und persönliche Initiative müssen deutlich herausgehoben werden. „Umpflegen“ ebenfalls nicht, aber das neudeutsche „Care“ schon eher, weil es einen ganz anderen Akzent setzt, unter anderem auch die Gesunderhaltung betont. „Safe Space“ insofern, als die Vermittlung einer psychologischen Sicherheit empirisch viele positive Effekte hat. Sie hilft etwa, ein offenes Klima zu schaffen und eine produktive Fehlerkultur zu erreichen.

Nochmals: Wo bleiben die Stakeholder der Organisation?

Jetzt kommt die Ökonomie ins Spiel. Sie selbst sprechen sich ja für ein Personalmanagement aus, welches nicht zuletzt betriebswirtschaftliche Größen im Blick haben muss. Kunden, Shareholder und andere Stakeholder sind für die Ausrichtung zweifelsfrei zentral. Bleiben wir hier nur bei den Kunden. Ich frage gelegentlich einzelne Teammitglieder danach, wer denn die wichtigsten Kunden und was deren Erwartungen sind. Manchmal meint man angesichts der Antworten dann, in verschiedenen Organisationen gefragt zu haben. Natürlich auch ein Führungsproblem. So wird das nichts.

Der machtvolle Einfluss der Kunden auf strategischer wie auch operativer Ebene wird auf HR-Kongressen kaum thematisiert.

Leider bezeichnend, dass sich kaum jemand in all den bunten und lauten HR-Kongressen substanziell um diesen machtvollen Einfluss der Kunden auf strategischer wie operativer Ebene kümmert. Wer denkt schon über eine Führung durch den Kunden in Ergänzung oder Konkurrenz zur Teamleitung nach? Da sind es wirklich diese von Ihnen etwas unvorteilhaft betitelten Wohlfühloasen, die dominieren. Der Kern ist ja nicht falsch, die positive Psychologie legt die Voraussetzungen für Energie und Gesundheit der Menschen offen. Aber Unternehmen haben das nicht zu maximieren, sondern zu optimieren. Das heißt, persönliche und organisationale Interessen müssen zusammengedacht werden. Mal ist das überhaupt kein Problem, manchmal gibt es fundamentale Konflikte. Dafür ist Führung unter anderem da: Hier einen Ausgleich zu finden und sei es nur im Laufe der Zeit.

Die veränderten Kräfte im Arbeitsmarkt (Arbeiter- statt Arbeitslosigkeit) erfordern längst einen Mentalitätswandel bei den Vorgesetzten: weniger pampig, mehr pampern. Wie lautet Ihre Begründung dafür?

Pampige Vorgesetzte braucht niemand und das war immer schon so. Früher sah man eher darüber hinweg und damit ist weitgehend Schluss. Dass Mitarbeitende nicht immer sofort dagegenhalten, hat verschiedene Gründe: Angst, Konformismus, materielle Notwendigkeit oder auch Kalkulation, bei der Kosten und Nutzen des Verbleibs abgewogen werden. Alternativen aufzubauen, benötigt zudem Zeit. Richtig ist aber, dass sich die Machtverhältnisse verändert haben und ein geduldiges Ausharren der Mitarbeitenden weniger wichtig wird. Das hat viel mit Transparenz zu tun. Verhätscheln ist aber wiederum auch deplatziert. Motivationstheoretisch sowieso ein GAU. Besonderes wird ganz schnell zur Normalität, eine neue Baseline ist gefunden.

Eine Motivation über extrinsische Anreize mündet in eine teure Steigerungsspirale. Der Motivator mutiert dann schnell zu einem Demotivator.

Was ist ein 3er-Dienstwagen wert, wenn die neue Kollegin einen 4er verhandelt hat? Der Motivator, wenn es überhaupt einer war, mutiert flugs zu einem Demotivator. Ein Schicksal, dem alle extrinsischen Anreize zu unterliegen drohen. Ein solches Denken mündet in eine teure Steigerungsspirale. In unserem Beispiel muss da schnell ein Pedelec als Zusatzgabe her. Das ist nicht die Zukunft. Nein, es geht um Fairness, wozu eben auch Mitarbeitende beizutragen haben. Am Ende muss die Rechnung für beide stimmen. Was verteilt wird, muss erwirtschaftet werden. Banal. Und das gilt selbst für gemeinwohlorientierte Organisationen.

Sie sind Professor und kein Konditor. Aber backen Sie uns doch bitte die aus Ihrer Sicht ideale Führungskraft in einem Wirtschaftsunternehmen. Welche Zutaten sind besonders wichtig?

Ich backe nie, esse auch kaum Kuchen. Zutaten erinnern sofort wieder an Eigenschaften. Uferlos. Nehmen Sie doch lieber einen von Hans-Georg Gadamer allgemein formulierten Merksatz, den ich hier auf gelingende Führungsbeziehungen münze. Er beschreibt eine Haltung: „Der Mitarbeiter, die Mitarbeiterin könnte recht haben“.

Meine These: Die Qualität der Führungskräfte ist normalverteilt. Es gibt einige ganz tolle, viel Mittelmaß, das manchmal ebenfalls toll agiert und manchmal weniger, und einige toxische Chefs und Chefinnen. Richtig?

Nein, sehe ich nicht so. Die Verteilung der Führungsqualität, würden wir sie in einem Koordinatensystem abtragen, von beispielsweise entsetzlich (1) bis toll (10), ggf. alle Zwischenwerte zulässig, wäre mutmaßlich rechtsschief bzw. linkssteil. Empirisch fänden sich eben nicht alle Führungskräfte wie in einer Glockenkurve symmetrisch verteilt um den Skalenmittelwert. Vielmehr wären nur vergleichsweise wenige tolle Führungskräfte deutlich rechts zu erwarten, sagen wir bei acht oder sogar mehr. Stattdessen sind Führungskräfte, deren Führungsqualität bedenklich unterdurchschnittlich ist, in der linken Hälfte der Verteilung vergleichsweise häufiger zu finden. Geben wir ihnen Werte zwischen eins und drei. Zwischen vier und sieben fällt in dieser nicht symmetrischen Verteilung die Anzahl der Führungskräfte mit besserer Bepunktung sichtbar ab. Ganz am linken Rand fänden sich übrigens die toxischen Führungskräfte, gepaart mit den als vollkommen inkompetent wahrgenommenen, ganz rechts sehen wir beispielhafte Vorbilder mit überragender Führungsqualität.

Ein weiterer Eindruck aus meinen Beratungsprojekten ist, dass das Thema Führungskräftequalität vielerorts verdrängt oder kleingeredet wird. Man fasst in den Unternehmen dieses heiße Eisen höchst ungern an und schließt Augen und Ohren. Ihr Eindruck?

Stimmt exakt, gerade bei mittelständischen Unternehmen. Man besucht vielleicht noch ein paar externe Standardkurse, die offeriert werden, und aus die Maus. Eine gute Führungsleistung wird unterstellt. Sich zu vergewissern oder diese gar irgendwie zu messen, ist überflüssig. Kostet nur Zeit und Geld. Die über 50 Prozent der Mitarbeitenden, die ihr Unternehmen wegen einer als gelinde gesagt unzureichenden Führung verlassen, finden sich halt anderswo und man versteht gar nicht, warum das dort so ist. Die eigenen Verluste werden schöngeredet.

Damit nun zum Performance Management der Führungskräfte als People Leader (und nicht als Business Leader). Was muss in Laissez-faire-Unternehmen noch alles passieren, damit die richtigen personellen und strukturellen Maßnahmen ergriffen werden, um die Qualität im People Leadership zu erhöhen?

Das frage ich mich auch. Nur eines hilft wirklich: Das Leid muss sich vergrößern. Wir reden über Unruhe, höhere Kosten, geringere Innovationen, fallende Gewinne und Abstimmungen mit den Füßen. Wenn es sich rumspricht, auch über Probleme bei der Personalbeschaffung. Hier geht es aber nicht nur um Führungskräfte unterhalb der Geschäftsführung. Diese ist mit im Boot, ebenso die Personalabteilung und die Aufsichtsgremien. Dort beobachte ich, dass eine zunehmende Sensibilität für gesellschaftsrelevante Fragen entsteht, die kritisch mit dem Vorstand bzw. der Geschäftsführung besprochen werden.

Eine nicht auszurottende Führungsperson: glänzender Sales-Matador und gleichzeitig People-Brutalo. Warum können sich viele dieser inakzeptablen Vorgesetzten bei anhaltendem Geschäftserfolg in ihrer Rolle halten?

Weil das System zahlengläubig ist. Natürlich ist das rückwärtsgewandt, aber wer weg ist, bevor es brennt, dem ist das genauso egal, wie der, die einen weichen und mit Abfindung versüßten Abgang macht. Für zu viele ist das Zustandekommen der Gewinne irrelevant, solange Kritik im Vorfeld mundtot gemacht werden kann und personelle Ausfälle auf dem Weg irgendwie ersetzt werden können.

Weil das System zahlengläubig ist, können sich viele inakzeptable Vorgesetzte bei anhaltendem Geschäftserfolg in ihrer Position halten.

Dazu trägt eine weitverbreitete Ideologie bei, die auch im Mainstream der Wissenschaft gepflegt wird. Es ist eine simple, harmonische Sicht auf Führung, die besagt, dass nur charakterlich hervorragende Führungspersonen erfolgreich sein können, denn sonst erlebten sie Widerstand und der Misserfolg wäre vorprogrammiert. Erfolg und Ethik gehören hier denknotwendig zusammen. Eine bequeme wie falsche Sicht der Dinge.

Nicht wenige gefeierte Lichtgestalten im Business sind, nüchtern betrachtet, keine Rollenvorbilder für zeitgemäße Personalführung. Weitere wirken in ihrer medialen Präsenz alles andere als philanthropisch. Lässt sich also die Ignoranz der People-Dimension mit einer überzeugenden Bottemline leicht übertünchen?

Im Unternehmensimage und mit Blick auf die gehypte Person ja, intern eigentlich nicht. Sowohl bei Steve Jobs als auch bei Elon Musk wussten bzw. wissen alle, dass sie Ergebnisse über alles setzen. Beide hatten übrigens sehr schwierige persönliche Voraussetzungen oder harte Rückschläge schon sehr früh in ihrer Entwicklung zu verkraften. Die eigene Kraft, die ihnen half weiterzumachen, wird dann gerne auch von anderen wie selbstverständlich eingefordert, was natürlich kontrafaktisch ist. Mitarbeitende wissen in der Regel um die schwierigen Persönlichkeiten, die eben auch begeistern können, und den Druck, den sie verbreiten. Das wägen sie etwa mit der Faszination ab, an Zeitenwenden mitzuarbeiten.

Psychologisch ist das kompliziert. Die Endorphine, die dabei ausgeschüttet werden – deren Ausschüttung ich einmal ungeprüft unterstelle –, sind gewaltige Treiber und große Verdränger. Am Ende kommt es wohl darauf an, wie viel Stress bei einem entsteht, wie er individuell verarbeitet werden kann und welche Alternativen man hat. Zudem ist die Führungslandschaft solcher Firmen nicht monoton, sodass mit etwas Glück auch ein tolles Team gefunden werden kann. Eines verzeihen solche Kulturen in Hochleistungsorganisationen allerdings nie: Desinteresse und Minderleistung.

Im Personalmarketing werden heute Wunderdinge versprochen, die gerade bei jüngeren Bewerbern und Kandidatinnen wie eine Garantie wirken. Bringt dies eine Steigerungsspirale im Employer Branding, mit der der Nachwuchs verzogen und eine hohe Anspruchshaltung an Führungskräfte als normal empfunden wird?

Bis auf Weiteres müssen Sie davon ausgehen, ja. Was überzogen ist, entscheidet am Ende allerdings der Markt, also der Wettbewerb zwischen den Unternehmen und beruflichen Alternativen, etwa in Non-Profit-Organisationen. Und ganz klar, die Wechselbereitschaft ist gestiegen. Ich warne allerdings vor einer falschen Klagesolidarität: Was manche für überzogen halten, realisieren andere für ihre Leute schon standardmäßig. Und diese Organisationen können auch rechnen, oftmals wohl besser.

Modernes Leadership ist stets gepaart mit modernem Followership. Was können Führungskräfte von ihren Leuten überhaupt noch erwarten, was gar nicht mehr?

Aufgeschlossene, engagierte und mitunternehmerisch denkende wie handelnde Mitarbeitende, die Verantwortung übernehmen und sich berufsbezogen entwickeln sowie in einen kritischen, tendenziell informell gleichberechtigten Austausch mit der Führungskraft treten möchten. Follower suchen sich ihre Leader. Sie möchten die Führungsbeziehung mitgestalten. Die Leaderinnen und Leader müssen also etwas anbieten, der Rekurs allein auf ihre Position ist da nur lächerlich. Dann bekommt man halt nur Untergebene und presst sie in das eigene Geführtenbild: faul, widerborstig, träge, passiv, begrenztes Urteilsvermögen. Und sieh an, Überraschung, die Untergebenen verlieren die Lust an der Arbeit und finden es nicht gut, wie Trottel behandelt zu werden. Wusste man es doch gleich – und das eigene Menschenbild braucht sich nicht zu verändern. Sehr praktisch.

Führung bedeutete früher viel Entscheidungsmacht. Wie viel ist diese Positionsmacht heute noch wert, wenn es andernorts demokratischer, partizipativer und inklusiver zugeht?

Die Follower kennen natürlich auch die formalen Machtverhältnisse und respektieren sie in vernünftigen Grenzen. Deshalb ist die Positionsmacht in Organisation von Bedeutung, wird jedoch bei einer insgesamt flacher werdenden Hierarchie unwichtiger. Leidenschaft oder Loyalität sind nicht zu erzwingen und damit ist ein Rekurs auf die Positionsmacht von vornherein zwiespältig, wenn keine automatische Akzeptanz unterstellt werden kann.

Zwar sind Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Gegensatz zu hoch bezahlten Fußballern nicht durchgehend in der Lage, sich zu verweigern, aber die, auf die es im Besonderen ankommt, können dies in aller Regel schon. Wenn sie nicht sofort reagieren, sind sie klug genug, gezielt darauf hinzuarbeiten und anderswo an ihrem persönlichen Fortkommen zu basteln. Ich weiß auch gar nicht, was das soll, wenn man jedes Mal sagen muss, dass man der Chef oder die Chefin ist. Anscheinend wird nicht bemerkt, wie blöd das heute ankommt. Oftmals stellt man sich dann auch nicht einmal mehr die naheliegende Frage, warum das wohl so ist.

Führung versteckt sich inzwischen immer mehr hinter soften, sensiblen, subkutanen Interventionen. Wie geht denn das?

Ist das wirklich so? In meinen Weiterbildungsseminaren höre ich viel häufiger davon, dass wir eine Rolle rückwärts zu einem autoritären Gehabe zu verzeichnen haben. Meiner Ansicht nach ist das der Ausdruck einer großen Verunsicherung. Es gibt Führungskräfte, die paradoxerweise versuchen, über Nebenkriegsschauplätze ein Gefühl von Kontrolle zu behalten, statt sich zu öffnen und ihrem Team die Unmöglichkeit präziser Vorhersagen oder sicherer Entscheidungen zu kommunizieren. Denen sollte geholfen werden.

Zuversicht zeigen, ja, aber keine offensichtlich falschen Gewissheiten verkünden. Wer heutzutage noch glaubt, dass diese Blendung und Verschiebung von den Teammitgliedern nicht bemerkt würde, irrt. Ein Autoritätsverlust ist dann unvermeidlich, obwohl man durch sein eigenes Verhalten genau das Gegenteil anstrebte. Und wer umgekehrt sogar glaubt, durch freundliches, faktisch anbiederndes Verhalten sein eigenes Unvermögen überspielen zu können, begeht einen gravierenden Fehler. Donald Pelz hat bereits in den 1950er-Jahren gezeigt, dass ein und dasselbe Führungsverhalten von den Geführten vollkommen anders beurteilt wird, wenn sie der Auffassung sind, dass es sich um ein freundliches Verhalten aus einer starken Position heraus handelt oder um ein einschmeichelndes aus einer schwachen Position heraus. Geführte besitzen eine ausgesprochen sensible Wahrnehmung. Führende sollten dies keinesfalls unterschätzen.

Ein momentan beliebtes Narrativ ist, dass immer weniger aus den jüngeren Kohorten in eine Führungsrolle wollen. Was ist da dran?

Es kommt darauf an, wie die Führungsrolle ausgestaltet ist. Vielleicht sollte man diejenigen, die dieses Angebot ablehnen, einfach einmal fragen, warum das so ist. Eine Studie nannte als Ursachen: die Sorge zu versagen, ein befürchtetes Ungleichgewicht zwischen Beruf und Privatleben sowie das Vermeiden, anderen durch eigene Entscheidungen zu schaden. Und wenn man Führungsrollen und ihre Ausübungsmöglichkeiten von vornherein so definiert, dass sie für 50 Prozent der Beschäftigten faktisch nicht mit gleicher Chance auf Teilhabe und auf weitere Beförderung eingenommen werden können, hat man nicht verstanden, was die Uhr geschlagen hat. Aber das Schöne ist ja, dass es gerade für weibliche Talente zunehmend Alternativen gibt.

Im Spannungsfeld Teamspirit (wir) versus Egoismus (ich) können keine Leader mehr allzu sehr in den Narzissmus abrutschen, zumindest nicht in der Außendarstellung. Andererseits wird von Chefs und Chefinnen ganz viel Leadership erwartet. Wie meistert man denn diesen Spagat?

Nun, ich bezweifle Ihre Annahme in dieser Absolutheit. Erwarten wirklich alle ganz viel Leadership von Chefs und Chefinnen? Das ist schon sehr unterschiedlich und hängt von vielem ab, insbesondere von der Persönlichkeit und den Fähigkeiten der Mitarbeitenden, dem kulturellen Kontext und den strukturellen Rahmenbedingungen. Wir sollten auch hier sehen, dass die Führungslandschaft vielfältig ist. Deshalb werden zunehmend erweiterte Führungskonstellationen ausprobiert, die Sigrid Endres und ich als plurale Führung bezeichnen. Zeitgemäß wäre es wohl, je nach individueller Kompetenz und Lebenssituation zwischen Führungs- und Fachrollen wechseln zu können. Definitiv ist davor zu warnen, die Annahme eines unbedingten Geführtwerden-Wollens als Legitimation für ein nervendes Mikromanagement zu sehen.

Je nach individueller Kompetenz und Lebenssituation zwischen Führungs- und Fachrollen wechseln zu können, das wäre zeitgemäß.

Die teils unfassbar hohen Gehälter von Führungskräften werden oft als Risikoprämie und Schmerzensgeld bezeichnet. Na ja, eine Risikoprämie wäre beim Blick auf die gängige Abfindungspraxis vieler Organisationen meist gar nicht nötig. Das Schmerzensgeld aber wohl schon, denkt man an die Härten der tagtäglichen Führungsarbeit. Wie sehen Sie das?

Ich sehe, Sie haben eine Ader für humorvolle Provokationen. Wem die Führungsarbeit allzu hart vorkommt und wer sie nicht als eine bereichernde Gelegenheit empfindet, an dem, was einem wirklich wichtig ist, nun intensiver als zuvor mitzugestalten, der kann es ja lassen. Auf meiner Webspielwiese „Leadership Insiders“ habe ich vor einiger Zeit einmal Warren Buffett zitiert, der bemerkte, dass Spiele von Spielern und Spielerinnen gewonnen werden, die sich auf das Spielfeld konzentrieren – nicht von denen, deren Augen auf die Anzeigetafel gerichtet sind.

Analog gilt das auch für die Führung. Wer führen will, nur um an mehr Geld, Boni und höhere Positionen zu kommen, fokussiert sich darauf und wird als Führungskraft keinen Unterschied machen. Da sich Führung durch diesen Unterschied aber von der Nur-Vorgesetzten-Position abgrenzt, werden der Boss und die Bossin scheitern. Deshalb muss sich doch so einiges bei der Besetzung von Führungspositionen ändern. Im Zweifel könnte man mal von Dritten das Team befragen lassen, ob dieses der Führungskraft mehr Personalverantwortung und höherwertige Aufgaben zutraut und dies auch wünscht.

Herr Weibler, vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Martin Claßen. Es ist zuerst erschienen in dem Fachmagazin people&work (Heft 8/22. Dezember 2022, S. 47-55). Martin Claßen ist dort geschäftsführender Herausgeber.

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