Wieso schenken Vorgesetzte gerade den Schwächen ihrer Mitarbeiter so viel Aufmerksamkeit? Sollten sie den Fokus nicht besser auf deren Stärken legen, da Mitarbeiter so leichter wachsen können? Genau dieses Prinzip entspricht dem Gedankengut der sog. Positiven Psychologie. Nachfolgend wird gezeigt, wie mit Hilfe der Positiven Psychologie ein neuer Blick auf den arbeitenden Menschen gelingt und welche positiven Entwicklungsdynamiken damit unterstützt werden.

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Traditionell beschäftigte sich die klinische Psychologie vorrangig damit, Psychopathologien sowie menschliche Dysfunktionalitäten zu diagnostizieren und zu therapieren. Mit Beginn des 21. Jahrhunderts begann jedoch eine neue Ära in der Psychologie. Ein neuer Forschungszweig vollzog eine Abkehr von dieser „negativen“ Sicht und fragte sich unter dem Signum der Positiven Psychologie (PP) stattdessen, was das Leben lebenswert macht. Leadership Insiders stellt heraus, was Führungskräfte für ihre Tätigkeit daraus lernen können.

Was sind die Wurzeln der Positiven Psychologie?

Die Positive Psychologie sieht ihren namensgebenden Ursprung in dem Grundlagenwerk „Motivation and Personality“ von Abraham Maslow (1954), da dieser das letzte Kapitel seines Buches mit „Toward a Positive Psychology“ überschrieben hat. Ausschlaggebend für die tatsächliche Entwicklung einer solchen Psychologie waren allerdings zwei andere Vorkommnisse: Zunächst eine richtungsweisende Einführungsrede von Martin Seligman auf der American Psychological Association Convention im Jahre 1998, in deren Folge Seligman gemeinsam mit Mihaly Csikszentmihalyi, dem Begründer der Flow-Forschung, im Jahre 2000 einen inhaltlich wegweisenden Fachbeitrag in der Zeitschrift American Psychologist veröffentlichte (Donaldson/Ko 2010, S. 2).

Paradigmatisch formulierten Seligman und mit Csikszentmihalyi das, was die Positive Psychologie sein soll (S. 5, übersetzt und kursiv):

Eine Wissenschaft von positiven subjektiven Erfahrungen, positiven individuellen Eigenschaften und positiven Institutionen

Ganz in diesem Sinne erforscht die Positive Psychologie heute, wie Individuen durch Wohlbefinden, Glück, Sinn, Liebe, Dankbarkeit aufblühen („flourishing“), aber auch durch Zielerreichung und gute zwischenmenschliche Beziehungen Wohlbefinden empfinden können (Seligman 2014, S. 14). Die traditionelle problemfokussierte Betrachtungsweise der Psychologie weicht damit einer Fokussierung auf die Stärken des Individuums, die gerade für das ganzheitliche Verständnis der menschlichen Erfahrungswelt essenziell sind.

Die stärkenfokussierte Denkrichtung der Positiven Psychologie setzt grundlegende Impulse auch für den Umgang mit Menschen in Organisationen und gibt indirekt Empfehlungen zur Ausgestaltung organisationaler Praktiken. In diesem Kontext sind aktuell drei Ausrichtungen zu unterscheiden – „Positive Organizational Psychology“, „Positive Organizational Behavior“ sowie „Positive Organizational Scholarship“ –, die jeweils andere Akzentuierungen vornehmen.

Die Grundpfeiler der Positiven Psychologie

Christopher Peterson unterschied bereits 2006 folgende drei Säulen der Positiven Psychologie und ordnete ihnen verschiedene Charakteristika zu:

  1. Positive subjektive Erfahrung:
    Umfasst das Glücksempfinden, Wohlbefinden, Flow, Hoffnung, Optimismus, positive Emotionen
  2. Positive Eigenschaften:
    Umfasst Interessen, Kreativität, Weisheit, Talent, Werte, Charakterstärke, Sinn, Wachstum und Mut
  3. Positive Institutionen:
    Umfasst positive Organisationen, Familien, Schulen, Gemeinschaften und Gesellschaften

Die ersten beiden Säulen fokussieren das Individuum bzw. individuell positive Erlebensweisen und positive Charakteristika, die zu der Stärkung der eigenen Selbstwirksamkeit und der individuell erfolgreichen, guten Lebensführung beitragen. Insbesondere rückt Seligman (2002) dabei die positiven Emotionen in den Vordergrund, da diese die menschlichen Ressourcen erweitern und so erst Raum für eine positive Wahrnehmung weiterer Erfahrungszustände ermöglichen. Die dritte Säule hat für die ersten beiden Säulen im Hinblick auf das „flourishing“ eine Unterstützungsfunktion. Positive Institutionen wie Unternehmen, Verwaltungen oder NPOs sollen folglich positive Charakteristika, Erfahrungen und Gedanken ermöglichen bzw. fördern. Positive Organisationen als Beispiel einer positiven Institution bieten Räume, in denen Stärken entfaltet und persönliches Wachstum erreicht werden können. Dazu gehören Personen, die sich in Führungsverantwortung überlegen, wie Stärken individuell entwickelt werden können. Als wichtige Größen werden u.a. Optimismus, Hoffnung, Resilienz und Selbstwirksamkeit verstanden. Zusammen bilden sie das sogenannte psychologische Kapital (PsyCap). Dieses wiederum wird beispielsweise mit der Mitarbeiterzufriedenheit, dem Wohlbefinden bei der Arbeit, dem Commitment oder der Performance in Verbindung gebracht.

Führungskräfte sollen positive Entwicklungsdynamiken unterstützen

Ein positives Erleben und Verhalten des Einzelnen werden gemäß der Positiven Psychologie näher bestimmt:

  1. Wohlbefinden (Well-being) wird als ein zentrales Ziel verstanden. Die Forschungen zum Wohlbefinden haben dabei zwei unterschiedliche Perspektiven entwickelt: Die hedonistische Perspektive sieht Wohlbefinden als Zustand des Glücks (Happiness), gleichsam der Anwesenheit positiver Emotionen bei Abwesenheit negativer Emotionen. Es geht um rein subjektives Wohlbefinden. Die eudämonische Perspektive sieht Wohlbefinden hingegen als eine über den reinen Zustand des Glücks hinausgehende Verwirklichung der eigenen Potenziale. In Anlehnung an die Tugendethik von Aristoteles bedeutet Wohlbefinden dann, ein „gutes Leben“ zu führen, d.h. das Leben auf eine tiefergehende befriedigende Weise zu erleben. Persönliches Wachstum ist hier das Schlüsselwort. Insofern wird es als psychologisches Wohlbefinden verstanden. Die Psychologieprofessorin Carol Ryff definiert sechs Bausteine eines solchen psychologischen Wohlbefindens: Selbstakzeptanz, positive Beziehungen zu anderen, Autonomie, Kontrollüberzeugung über die eigene unmittelbare Umgebung, Sinnhaftigkeit und persönliches Wachstum. Dies hat auch eine Bedeutung für Organisationen: Empirische Studien fanden bspw. positive Einflüsse auf die Gesundheit der Mitarbeiter, die Arbeitsleistung und das Commitment, während im Gleichklang damit eine Verminderung des Absentismus und des Burnouts ausgewiesen wurden.
  2. Psychologisches Kapital (PsyCap) ist für viele das, was die Positive Psychologie im Kern ausmacht. Es ist definiert als individueller, positiver Entwicklungsstand, der durch ein bestimmtes Maß an Selbstwirksamkeit, Optimismus, Hoffnung und Resilienz gekennzeichnet ist Der Managementforscher Fred Luthans und sein Forschungsteam charakterisieren die vier Bestandteile des PsyCap genauer (2007, S. 542) und verknüpfen diese auch mit aus dem Führungsalltag bekannten Schlagworten:
    • Selbstwirksamkeit beschreibt das Ausmaß des Vertrauens in das eigene Selbst, bei ausreichender eigener Anstrengung Aufgaben erfolgreich bewältigen zu können.
    • Optimismus ist eine positive Attribution über den gegenwarts- wie zukunftsbezogenen Erfolg der eigenen Anstrengung.
    • Hoffnung meint die Aufrechterhaltung der Anstrengung, und wenn nötig, die Änderung des Weges zur Zielerreichung, um den Erfolg zu realisieren.
    • Resilienz bezeichnet ein Durchhaltevermögen beim Streben nach Zielerreichung, selbst und gerade dann, wenn Probleme und Widrigkeiten den Weg erschweren.

    Jede einzelne dieser psychologischen Ressourcen ist unabhängig von den jeweils anderen und stellt in Kombination mehr als die reine Summe seiner Bestandteile dar.

  3. Die Erforschung positiver Emotionen, inklusive deren Antezedenzien und Konsequenzen ist ebenfalls ein zentrales Anliegen der Positiven Psychologie. Emotionen werden dabei als eng verknüpft mit dem Wohlbefinden gesehen. So beschreibt Seligman (2002, S. 262, nicht kursiv, übersetzt) das gute Leben aus eher hedonistischer Perspektive als

ein Leben, das erfolgreich den positiven Emotionen über die Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft nachgeht

  • Dass Emotionen auch energetisierend wirken und gerade im Arbeitskontext Höchstleistungen hervorrufen können, kann dadurch erklärt werden, dass positive Emotionen das Denken und Handeln in einer Situation eher weiten, derweil negative Emotionen hier eher einengend wirken (Fredrickson 2004). Je häufiger ein Individuum also positive Emotionen erfährt, desto breiter wird das Handlungs-und-Aktions-Repertoire und desto mehr überdauernde personale Ressourcen werden gebildet. Dies führt zu sogenannten Aufwärts-Spiralen beim Erleben positiver Emotionen.
  1. Dankbarkeit (gratitude) wurde in den Forschungen der Positiven Psychologie nicht nur ganz allgemein mit einem erhöhten (subjektiven) Wohlbefinden assoziiert, sondern stärkte gerade am Arbeitsplatz auch die prosoziale Tendenz der Mitarbeiter sowie die Mitarbeiterzufriedenheit. Die Entwicklung von Maßnahmen zur „Steigerung der Dankbarkeit in Unternehmen“ ist jedoch ein schwieriges Unterfangen, wobei Führungskräften hier vor allem wertschätzende Äußerungen empfohlen werden.
    • Einen ungewöhnlichen Vorschlag hierzu macht der Organisationsberater Michael Tomoff (2015). Er schlägt eine „Dank-Stelle“ vor, die – ähnlich einer Tankstelle – die Möglichkeit bietet, neue Energie in Form wertschätzender Äußerungen durch Teammitglieder „zu tanken“. So könnten die Teammitglieder füreinander oder nur für jeweils einen bestimmten Kollegen (ggf. alternierend) einen selbstgebastelten Karton aufstellen und von Zeit zu Zeit Zettelchen einwerfen, die Dinge beschreiben, für die sie dem Kollegen dankbar sind. Besteht bei dem jeweiligen Teammitglied gerade Bedarf, so kann es sich an der Sammlung dankbarer Äußerungen bedienen. Diese Methode sei insbesondere dann geeignet, wenn Teammitglieder Schwierigkeiten haben, ihre Dankbarkeit verbal zu äußern.
  2. Organisationale Tugendhaftigkeit (organizational virtuousness) ist ein Kernkonzept des Positive Organizational Scholarship, wobei jedoch wenig Übereinstimmung hinsichtlich der definitorischen Attribute besteht. Ebenso sind systematische (empirische) Untersuchungen zur organisationalen Tugendhaftigkeit bisher kaum vorhanden. In organisationaler Perspektive ist Tugendhaftigkeit zu verstehen als aggregierte kollektive Vorstellung von moralischer Exzellenz, die ihren Ausdruck in organisationalen Praktiken und Prozessen findet – stets verbunden mit dem, was das „flourishing“, also das Aufblühen des Menschseins stärkt (vgl. Cameron/Winn 2011). Dahlsgaard, Peterson und Seligman (2005) konnten kulturübergreifend sechs (Kern-)Tugenden identifizieren, darunter Mut (Beharrlichkeit, Authentizität), Menschlichkeit (Wohlwollen) und Mäßigung (Bescheidenheit, Vergebung, Umsicht, Selbstkontrolle).

Kommen wir damit zu einigen abschließenden Anmerkungen.

Einordnung des positiven Erlebens für Führungskräfte

Die Aussagen und Befunde der Positiven Psychologie entsprechen Erkenntnissen der Weisheitsforschung, der nach vorne gerichteten Psychotherapie, aber auch der bisherigen Führungsforschung, die um die Frage kreist, wie es Personen gelingt, andere anhaltend für eine längere Reise zu motivieren. Die hierfür benannten Mechanismen sind im Ablauf der menschlichen Entwicklung konstant, bedürfen allenfalls einer gewissen kulturellen Präzisierung. Es sind somit Festungen, die nicht eingenommen werden dürfen, um Integrität heute und gesichert für die Zukunft wahrzunehmen.

Das Wissen darum mag Führungskräften helfen, sich achtsamer auf diesem Terrain zu bewegen. Dazu gehört auch, die eigene Unterstützungsleistung zur Stärkung der Geführten umsichtig zu dosieren. Denn McNulty und Fincham (2012) veranschaulichen anhand mehrerer Beispiele, dass positive Zugänge anderen gegenüber unter Umständen auch eine schädliche Wirkung zeitigen. So können beispielsweise übermotivierte Unterstützungsbemühungen bei einem Geführten, der ein hohes Bedürfnis nach Autonomie und Distanz verspürt, als entmündigend und damit negativ wahrgenommen werden. Weitere Studien, die vor allem längere Zeitfolgen betreffen, müssen bisher vorliegende Befunde des positiven Denkens weiter auf den Prüfstand stellen, dabei auch die Verbindung der Stärkung des Individuums und der Stärkung des Teams (z.B. Teamgeist) zum Gegenstand machen.

Praxisbezogen könnten Mitarbeitende wie Führungskräfte von positiven Haltungen profitieren. Ein einfaches Beispiel für solch positive Veränderungsprozesse liefert die Forschungsgruppe um Avey, die nachweisen konnte, dass eine einfache Änderung in der Wortwahl zu einer positiveren Einstellung führte (Tomoff 2015). So konnte die Leistungsfähigkeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, gemessen über das psychologische Kapital, allein durch eine positivere Wortwahl signifikant gesteigert werden. „Herausforderungen, die wir meistern“ erzeugt ein anderes Empfinden als „Wir haben große Problem“ und ein „Ich unterstütze das nicht“ wirkt anders als ein „Du liegst erneut falsch“. Kommunikation ist also auch hier der Schlüssel für Erfolg oder Misserfolg. Bereits eine positive Sprache korreliert mit Effekten.

Halten wir fest abschließend fest, dass  es angebracht ist, uns die Auffassung von Thomas A. Wright zu positiven Haltungen im Führungsalltag und damit für ein Positive Leadership frisch ins Gedächtnis zu rufen:

[…] an idea whose time has truly come.“

Cameron, K. S. / Winn, B. (2011): Virtuousness in Organizations. In Cameron, K.S./Spreitzer, G.M. (Hrsg.): The Oxford Handbook of Positive Organizational Scholarship, Oxford University Press, New York, S. 231-243

Dahlsgaard, K. / Peterson, C./Seligman, M. E. P. (2005): Shared virtue: The convergence of valued human strengths across culture and history. In: Review of General Psychology, Vol. 9, S. 203–213

Donaldson, S. I./ Ko, I. (2010): Positive organizational psychology, behavior, and scholarship: A review of the emerging literature and evidence base. In: Journal of Positive Psychology, Vol. 5 (3), S. 177 -191

Fredrickson, B.L. (2004): The broaden-and-build theory of positive emotions. In: Philosophical Transactions of the Royal Society, Biological Sciences, Vol. 359, S. 1367-1377

Luthans, F. / Avolio, B. J. (2009): The “point” of positive organizational behavior. In: Journal of Organizational Behavior, Vol. 30 (2), S. 291-307

Luthans, F./Avolio, B. J./Avey, J. B./Norman, S. M. (2007): Positive psychological capital: Measurement and relationship with performance and satisfaction. In: Personnel Psychology, Vol. 60 (3), S. 541-572

McNulty, J. K. / Fincham, F. D. (2012): Beyond Positive Psychology? Toward a Contextual View of Psychological Processes and Well-Being. In: American Psychologist, Vol. 67 (2), S. 101-110

Mills, M. J. / Fleck, C. R./Kozikowski, A. (2013): Positive psychology at work: A conceptual review, state-of-practice assessment, and a look ahead. In: The Journal of Positive Psychology, Vol. 8 (2), S. 153-164

Peterson, C. (2006): A primer in positive psychology, Oxford University Press, New York, NY

Ryan, R. M. / Deci, E. L. (2001): On happiness and human potentials: A review of research on hedonic and eudaimonic well-being. In: Annual Review of Psychology, Vol. 52, S. 141-166

Seligman, M. E. P. (2002): Authentic happiness. Using the new positive psychology to realize your potential for lasting fulfillment, The Free Press, New York

Seligman, M. E. P. (2014): Flourish. Wie Menschen aufblühen. Die Positive Psychologie des gelingenden Lebens, Kösel, München

Seligman, M. E. P. / Csikszentmihalyi, M. (2000): Positive psychology: An introduction. In: American Psychologist, Vol. 55 (1), S. 5-14

Tomoff, M. (2015): Positive Psychologie in Unternehmen. Für Führungskräfte, Springer Essentials, Wiesbaden

Wright, T. A. (2003): Positive organizational behavior: an idea whose time has truly come. In: Journal of Organizational Behavior, Vol. 24 (4), S. 437-442

Youssef, C. M. / Luthans, F. (2007): Positive organizational behavior in the workplace: The impact of hope, optimism, and resilience. In: Journal of Management, Vol. 33 (5), S. 774-800