Nein, wir reden nicht über die „Church of Techno“, den Berghain Club in Berlin, oder andere Stätten der Musik, deren Besuch oder Entzug, je nachdem, dem Besucher Stress diversen Ursprungs verursacht. Vielmehr beschäftigen wir uns mit den Folgen der beruflichen Nutzung von Informations- und Kommunikationstechniken (IKT), die unseren Alltag mitbestimmen: Schnell eine Information im Internet suchen, Daten digital speichern und mit anderen teilen, parallel von unterschiedlichen Standorten am selben Dokument arbeiten, in Echtzeit und unabhängig von geographischen Grenzen kommunizieren, von Zuhause aus vor der Nachtruhe noch eben eine E-Mail an den Kunden beantworten und jederzeit online, also immer verfügbar für das Team, zu sein. So praktisch und selbstwerterhöhend das sein kann: Die Gefahr des ungesunden Stresserlebens läuft immer mit. Leadership Insiders beschreibt anhand aktueller Literatur das Konzept Technostress, liefert einen Einblick in mögliche Auslöser und legt Konsequenzen für Organisationen und Führungskräfte im digitalen Zeitalter dar.
Was ist Stress?
Stress ist die physiologische, emotionale, kognitive oder verhaltensbezogene Reaktion eines Körpers auf Beanspruchung jedweder Art, die durch die Bewältigungsstrategien des Körpers über kurz oder lang nicht ohne Schaden an Körper, Seele oder Geist neutralisiert werden können. Die eigenen Ressourcen reichen also nicht aus, um einer Bedrohung oder Anforderung von außen gerecht zu werden. Warum? Entweder fehlen die Fähigkeiten zur Anpassung (Sie benötigen mehr Schlaf als Ihre Teamkollegen) oder der Wille zum Widerstand, beispielsweise gegenüber einem nervigen Kunden, reicht nicht aus. Manchmal machen auch die Rahmenbedingungen eine angemessene Reaktion unmöglich (wer in diesem Haus einmal eine unpassende Beförderung ausschlägt, hat sich unwiderruflich ins Aus manövriert). Im Arbeitskontext wird Stress typischerweise durch den Arbeitsinhalt, die Arbeitsorganisation und/oder die (soziale) Arbeitsumgebung hervorgerufen, Kontakt zu externen Medien, Kunden und Behörden inklusive.
Was ist Technostress?
Technostress ist eine spezifische Form des Stresses. Der Begriff Technostress wurde erstmals 1984 vom klinischen Psychologen Craig Brod eingeführt. Er beschrieb ihn als eine moderne Krankheit, bewirkt durch eine Unfähigkeit, mit der IKT gesundheitsschonend umzugehen. Diese Krankheit ist ein Nebenprodukt einer missglückten Anpassung an die technologischen, kognitiven oder sozialen Anforderungen, die durch den Einsatz der IKT von Führungskräften wie Mitarbeitenden verlangt werden.
Welche Dimensionen des Technostresses werden unterschieden?
Eine Forschungsgruppe um die Professorin Monideepa Tarafdar (2007, 2011, 2015, 2019), Lancaster University, UK, identifiziert fünf Gründe, warum IKT Stress hervorrufen können:
- Techno-Overload
: Beschreibt die Situation, in der IKT uns dazu zwingen, schneller und länger zu arbeiten:
- Mobile Computer in Kombination mit sozialen Netzwerken machen es möglich, simultane Informations-Stränge in Echtzeit zu erhalten und zu verarbeiten, was zu Informations-Overload führen kann (es werden mehr Informationen angeboten als effizient verarbeitet und effektiv genutzt werden können)
- Unterbrechungen (zum Beispiel durch Benachrichtigungen über eingehende E-Mails, die auf den Nutzer Druck ausüben können, unmittelbar zu reagieren, wodurch der Workflow unterbrochen wird)
- Multitasking (impliziert, dass Mitarbeiter simultan an mehreren Aufgaben und in verschiedenen Anwendungen arbeiten sollen und stellt den Versuch dar, mehr in weniger Zeit zu schaffen, was Druck erzeugen kann)
- Techno-Invasion:
Beschreibt invasive Effekte von IKT, indem sie Situationen erschaffen, in denen Nutzer prinzipiell jederzeit erreichbar sind, was
- einen Zwang, jederzeit online und erreichbar zu sein,
- ein Verschwimmen der Grenze zwischen Arbeit und Privatleben,
- ein Gefühl der Beunruhigung bei fehlender Verbindung,
- ein Gefühl des „angekettet-Seins“ und
- eine Angst vor Überwachung
im ungünstigen Fall provoziert.
- Techno-Komplexität: Beschreibt die Situation, in der die Komplexität, die mit IKT verbunden wird, uns ein Gefühl von Unfähigkeit gibt und uns dazu zwingt, Zeit und Anstrengung
in das Erlernen und Verstehen verschiedener Aspekte der IKT zu investieren, was dadurch erschwert wird, dass
- neue Anwendungen teilweise sehr viel Zeit brauchen, bis sie erlernt sind,
- Manuale und Anweisungen für den Nutzer teilweise unverständlich und wenig hilfreich sind und
- Nutzer die Vielzahl an Anwendungen, Funktionen und das spezifische Jargon als einschüchternd und schwierig zu verstehen erleben.
- Techno-Insecurity: Beschreibt Situationen, in denen Benutzer sich bedroht fühlen, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, weil neue IKT und/oder andere Personen mit mehr Kenntnissen der IKT sie ersetzen könnten.
- Techno-Uncertainty: Beschreibt den Kontext, in dem kontinuierliche Veränderungen und Erweiterungen der IKT deren Nutzer verwirren
und Unwissen über die IKT auslösen. Nutzer müssen sich dementsprechend in den neuen/ veränderten IKT weiterbilden, was dazu führt, dass
- sie meist nicht die Chance haben, sich eine solide Basis an Erfahrung bezüglich einer bestimmten Anwendung oder eines bestimmten Systems aufzubauen, bevor sich diese verändern,
- erworbenes Wissen schnell obsolet wird sowie
- konstante Anforderungen des Updates der eigenen Fähigkeiten und Kenntnisse, trotz eventuellem anfänglichem Enthusiasmus gegenüber der Erlernung neuer Techniken und Anwendungen, Frust und Besorgnis mit sich bringen.
Dass daneben auch eine Unzuverlässigkeit der Technologie (z.B. unerwartet lange Systemladezeiten, Systemfehler, Abstürze) und Cybermobbing (Nutzer fühlen sich, auch im Arbeitskontext, vom sozialen Fehlverhalten anderer bedroht) Technostress begünstigen, tritt nach Auffassung des Österreichers Thomas Fischer und seinen Kollegen hinzu (2019). Die Ergebnisse dieser Studie zeigen, dass darüber hinaus eine Kommunikationsambiguität durch die digitale Kommunikation gefördert wird. Erinnert sei daran, dass in der digitalen Kommunikation vielfach Signale wie Mimik und Gestik fehlen, was Missverständnisse erleichtert.
Welche Folgen hat Technostress?
Der durch die zunehmende Digitalisierung begünstigte Technostress kann eine Vielzahl von physischen, mentalen und emotionalen Symptomen auslösen, darunter zum Beispiel Erschöpfung, Kopfschmerz, erhöhte Cortisolproduktion, Angstgefühle, zwanghafte Gedanken, Konzentrationsprobleme und Burnout. Darüber hinaus steht er in Verbindung zu Rollenkonflikten, geminderter Produktivität, emotionaler Labilität, verringertem Commitment und Innovationseinbußen (vgl. u.a. Ragu-Nathan u.a. 2008).
Eine Studie von Stephan Böhm und seinem Team (2016) zeigt eindrücklich, dass die Digitalisierung am Arbeitsplatz die Gesundheit durch emotionale Erschöpfung gefährdet und bis hin zum Burnout reichen kann. Besonders starke Effekte auf die emotionale Erschöpfung der Arbeitnehmer haben danach wiederum (1) der technologische Anpassungsdruck (schneller und mehr arbeiten, neue Technologien erlernen) und (2) das Kommunikationsrauschen (beispielhaft hierfür pausenlos eingehende E-Mails). So wurden ca. 15% der obigen Leiden durch die individuell nicht kompensierbaren Folgen der Digitalisierung des Arbeitsplatzes zurückzuführt.
Wer allerdings glaubt, dass der Arbeitsplatz eine natürliche Grenze der negativen Effekte einer Digitalisierung repräsentiere, der irrt. Vielmehr korreliert ein hohes Maß an Digitalisierung auf der Arbeit demnach auch mit einer stärkeren Häufung von Arbeits-Familien-Konflikten. Wie auf der individuell-gesundheitlichen Ebene haben der technologische Anpassungsdruck und das Kommunikationsrauschen die größten Auswirkungen auf die Konflikte zwischen Arbeit und Familie. Darüber hinaus verstärkt die Nutzung digitaler Kommunikationswege im Arbeitskontext an sich diese Konflikte, da oftmals auch nach der Arbeitszeit noch berufliche E-Mails/WhatsApps Messages beantwortet werden.
Warum werden Personen durch digitale Technologie gestresst oder eben nicht?
Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, müssen wir zunächst noch genauer verstehen, was Stress eigentlich ist. Eines der bekanntesten Modelle zur Erklärung von Stress ist das transaktionale Stresskonzept von Richard Lazarus, formuliert schon in den achtziger Jahres des letzten Jahrhunderts. Nach diesem Modell werden drei Stufen der Bewertung unterschieden:
- Zunächst erfolgt eine Bewertung der vorgefundenen Situation als relevant/ irrelevant, günstig oder stressend. Wenn eine Situation in der ersten Bewertungsphase als stressend eingeordnet wird, kann sie entweder als schädlich, bedrohlich oder als Herausforderung wahrgenommen werden.
- Im Anschluss erfolgt der zweite Bewertungsprozess, in dem geprüft wird, über welche Ressourcen zur Bewältigung der Situation die Person verfügt. Erst wenn ein Ungleichgewicht zwischen den Anforderungen der vorgefundenen Situation und den verfügbaren Bewältigungsressourcen wahrgenommen wird, entsteht eine Stressreaktion.
- Als Reaktion auf die Empfindung von Stress folgt das Bewältigungsverhalten. Die korrespondierenden Coping-Strategien sind dann primär problem- oder emotionsorientiert, also z. B. die eigene Handlungskompetenz durch mehr Informationen erweitern oder das eigene Erregungsniveau senken.Welche Mechanismus angewendet wird, hängt von der Person und Situation ab. Ggf. wird auch jetzt noch einfach die Bewertung der Ausgangssituation verändert (eine Belastung wird zur Herausforderung).
Nach der Bewältigung wird die Situation erneut bewertet, sodass eine fortlaufende Anpassung zwischen den Anforderungen und den individuellen Reaktionen stattfindet.
Dieser Bewältigungsprozess gelingt diversen Studien zufolge (z.B. Srivastava u.a. 2015) im IKT-Kontext manchen Personen besser als anderen. Hierfür sind vor allem die wahrgenommene digitale Kompetenz sowie die individuelle technologische Selbstwirksamkeitserwartungen verantwortlich. Im Sinne des transaktionalen Stresskonzepts von Lazarus begünstigen diese Faktoren bei anforderungsgerechter Ausprägung, dass die Situation in der ersten Bewertungsphase zwar als stressend, jedoch nicht als bedrohlich oder schädlich, sondern als herausfordernd eingestuft wird. Eustress, die positive Variante des Stresses, ist die Folge. Fällt der Vergleich subjektiv weniger gut aus, ist der gesundheitsgefährdende Distress die Folge. Dies meinen wir in der Regel, wenn wir über Stress reden.
Was bedeutet das für Organisationen?
Vor allem, nicht nichts zu tun. Organisationen können durch verschiedene Maßnahmen dazu beitragen, dass die zunehmende arbeitsbezogene Nutzung von IKT eher im Sinne des Eustresses, also als Herausforderung wahrgenommen wird. Zu nennen sind hier:
- Erleichterung der (Fort-)Bildung: IKT-relevantes Wissen wird geteilt, zum Beispiel bieten Professionals Trainings und Dokumentationen bezüglich der Anwendungen/ Systeme für die ausführenden Mitarbeiter an. Dies dient der Komplexitätsminderung und beschleunigt den Lernprozess.
- Bereitstellung eines technischen Supports: Unterstützung und Support soll für die beruflichen Nutzer im arbeitsspezifischen Kontext erfolgen, was auf die Reduzierung der Dimensionen Techno-Komplexität und Techno-Uncertainty abzielt. Beispielsweise kann ein leicht erreichbares Help Desk den Nutzer durch die Anwendung führen und ihn mit ihr vertraut machen.
- Involvierung in die Technologie: Hiermit sind Mechanismen gemeint, die betriebliche Nutzer in die Einführung und Weiterentwicklung der IKT miteinbeziehen. Dies geschieht unter anderem durch Informationen darüber, warum neue Anwendungen eingeführt werden sollen. Auch diese Mechanismen bewirken eine Reduzierung der Techno-Komplexität und der Techno-Uncertainty. Außerdem werden die Nutzer in den Entscheidungsprozess involviert, was dazu führt, dass sie zufriedener und eher bereit sind, die IKT zu nutzen.
- Innovations-Support: Mechanismen, die Mitarbeiter zum Experimentieren und Lernen ermutigen. Hierfür ist ein Klima unterstützender Beziehungen unter den Mitarbeitern sowie eine erleichterte Kommunikation und Diskussion notwendig. Hiermit soll unter anderem die Techno-Insecurity verringert werden.
Das Problem bei den obigen Maßnahmen ist, dass sie nur funktionieren, wenn sie gut aufgesetzt sind. Sonst erzeugen sie leicht ein Mehr an Stress anstatt dessen Reduktion. Einfacher dürften in jedem Falle direkte Maßnahmen gegen die Techno-Invasion sein. Keine E-Mail-(Weiterleitungen) an Teammitglieder nach Feierabend bis zum anderen morgen oder während des Erholungsurlaubs (wie z.B. bei Daimler und VW im Tarifbereich) sind entsprechende Beispiele. Auch können Flexibilisierungsmaßnahmen der Arbeit (Arbeitszeit und Arbeitsort) IKT-induzierten Stress reduzieren, wiewohl in letzter Zeit Studien ein differenziertes Bild nahelegen. So kommt es beispielsweise beim Homeoffice sehr auf die dortige Infrastruktur und den Persönlichkeitstypus an.
Und welche Rolle spielt die Führungskraft?
Nicht nur die Organisation als Ganzes, sondern auch die Führungskraft kann dazu beitragen, dass sich Technostress weniger häufig zu negativen Konsequenzen führt. Die Studie von Stephan Böhm zeigt, dass eine gute Beziehungsqualität zum Vorgesetzten mit geringerer emotionaler Erschöpfung infolge Digitalisierung des Arbeitsplatzes einhergeht. Wieder einmal entscheidet die Führungsbeziehung über Wohl und Wehe am Arbeitsplatz mit.
Ein gutes Führungsverhältnis wirkt sich danach günstig auf den unsinnigen Präsentismus aus. Dieses Verhalten wird gerade von jenen Arbeitnehmern vermehrt gezeigt, die befürchten, aufgrund des steigenden IKT-Einsatzes ihren Arbeitsplatz zu verlieren – entweder aufgrund der Technologie selbst oder an andere Personen mit besseren digitalen Kompetenzen.
Führungskräfte sind schließlich aufgerufen, die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben zu respektieren, auch wenn dies aufgrund sich teilweise wandelnder Einstellungen der Mitarbeitenden selbst (Stichwort: Work-Life-Blending) nicht immer einfach scheint. Gespür ist also gefragt. Ein Statement aus der Forschergruppe um Ramakrishna Ayyagari, Professor für Management Information Systems an der University of Massachusetts Boston aus 2011, mag hier als Leitlinie geeignet sein (S. 853f.):
„ Ein Manager kann mehr Schaden als Nutzen anrichten, indem er von seiner Gruppe eine Verfügbarkeit außerhalb der Arbeitszeit oder eine sofortige Reaktionsfähigkeit erwartet, und er kann feststellen, dass die Durchsetzung starker Grenzen zwischen Arbeit und Zuhause von Vorteil ist.“