Dieser Beitrag ist Teil der Serie Gastbeiträge

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  7. Starke Frauen in Serie: Authentische Führung oder nur schöner Schein? – Ein Gastbeitrag
  8. Sexuelle Belästigung in der Arbeitswelt: Wie Führende sich zu verhalten haben – Ein Gastbeitrag

Homeoffice wird bleiben! Allerdings ist nach der Corona-Pandemie noch nicht abzusehen, wie sich dieses Arbeitsmodell auf wesentliche Aspekte der personellen Wertschöpfung auswirken wird – und auf welche Nutzenbeiträge man mehr oder weniger bewusst verzichtet. Die Auswirkungen einer Homeoffice-Ausweitung auf schwierig zu quantifizierende, für den langfristigen Wettbewerbsvorteil aber essenzielle Faktoren wie die Unternehmenskultur, die Innovationskraft und die Kreativität im Unternehmen sind heute noch nicht zu prognostizieren. Auf der Basis von theoretischen Grundlagen zur personellen Wertschöpfung gehen wir in diesem Beitrag anschaulich darauf ein, welchen Mehrwert die – sich wieder verstärkende – Büroarbeit am Unternehmensstandort bieten kann. Insbesondere der Faktor emergente Wertschöpfung erweist sich als Argumentationshilfe „pro Präsenzarbeit“.

Wie soll das Arbeiten nach der Pandemie aussehen?

G-Stock Studio / Shutterstock

Kaum ein Bereich der Personalführung wird derzeit so heftig diskutiert wie die Frage, in welchem Ausmaß das Homeoffice über die Pandemie hinaus weiterbestehen wird. Die Debatte in der Wirtschaft dieser Tage reicht von einem kompletten Zurückfahren jeglicher Homeoffice-Lösung nach Eindämmung der Pandemie über das systematische Ausweiten von Homeoffice bis hin zu einem eventuellen Arbeitnehmerrecht auf Homeoffice. Der Vergleich zu anderen Ländern zeigt, dass Deutschland in dieser Frage kein Vorreiter ist: In den Niederlanden beispielsweise gibt es schon seit 2016 das Gesetz über flexibles Arbeiten.

Allerdings lässt sich kein vollkommen klares Bild hinsichtlich der Vor- und Nachteile des Arbeitens von zuhause aus zeichnen. Es fällt auf, dass sich die herangezogenen Beurteilungskriterien in einem Großteil der wissenschaftlichen Studien ähneln, dass diese Kriterien jedoch den Kern des personellen Wertschöpfungsbeitrags in der Regel kaum erfassen. Als zentrales Effektivitätskriterium wird stets die Produktivität angeführt, nicht zuletzt, weil sie relativ gut quantifizierbar ist. Gab es bei der rapiden Einführung des Homeoffices zu Beginn der Pandemie noch Befürchtungen, dass die (Arbeits-)Produktivität leiden würde, ist die Beurteilung nach mehr als einem Jahr der Pandemie zumindest nicht eindeutig negativ. Einige Erhebungen sehen die Produktivität gesenkt durch erschwerte Kommunikation, durch mangelnde technische Ausstattung oder durch die fehlende Vertrautheit mit der Technik (vgl. Ferreira et al. 2021, 6), andere Erhebungen berichten Produktivitätssteigerungen.

So wurde in einer Studie des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation herausgefunden, dass 51,2 Prozent der befragten Unternehmen keine Produktivitätseinschränkungen während der pandemiebedingten Arbeit von zuhause aus erkennen konnten und dass 32,3 Prozent die Produktivität sogar als gesteigert erachteten (vgl. Hofmann/Piele/Piele 2021). Angestellte schätzen sich beinahe durchgehend produktiver ein, als die Führungskräfte ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bewerten (vgl. Süddeutsche Zeitung 2020). Stets äußern die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter den Wunsch, dass das Homeoffice auch in Zukunft als Arbeitsmodell präsent bleibe: In einer Studie der Krankenkasse DAK (2020) äußerten mehr als 75 Prozent der Beschäftigten diesen Wunsch. In Familienunternehmen sahen allerdings nicht einmal 6 Prozent der Befragten eine Steigerung der Produktivität. Es lässt sich in diesem Kontext ein Trend erkennen: Je kleiner das Unternehmen ist, desto skeptischer wird das Homeoffice mit Blick auf die Produktivität gesehen.

Doch um den optimalen Mix der Arbeitsformen für die Zukunft zu diskutieren, reicht es sicherlich nicht, sich einzig auf die Bewertung des Homeoffices zu fokussieren, sondern es scheint an der Zeit, im Lichte der pandemiebedingten Erfahrungen noch einmal bewusst die Präsenzarbeit in den Blick zu nehmen:

Denn die Nachteile des Homeoffices sind nicht gleichzusetzen mit den Vorteilen der Arbeit am Unternehmensarbeitsplatz.

Selbst wenn essenzielle Kriterien wie die Identifikation der Beschäftigten mit dem Unternehmen oder die Verankerung der Unternehmenskultur nur schwierig abzuschätzen und noch schwieriger zu priorisieren sind: Erst in der Abwägung der jeweiligen Nutzenpotenziale, aber auch der Kollateralschäden, wird möglich sein zu erfassen, wie sich alternative Arbeitsmodelle und deren Mischungen auf die personelle Wertschöpfung auswirken könnten.

Der Beurteilungsmaßstab: die personelle Wertschöpfung

Anstatt sich primär auf Output-Kennzahlen wie Produktivität zu fokussieren, unterliegt die Beurteilung von Arbeit heutzutage einer breiten prozessbezogenen Perspektive: Neben quantitativen werden auch qualitative, neben kurzfristig-operativen auch langfristig-strategische, neben harten auch weiche Kriterien herangezogen. Um ein umfassendes Bild zu erlangen, werden die häufig voneinander abweichenden Beurteilungen der Forschenden, Führenden und Arbeitenden miteinander abgeglichen. Die daraus resultierenden modernen personalwissenschaftlichen Theorien und Modelle ermöglichen eine holistische Sicht auf das Personalmanagement und die personelle Wertschöpfungslogik und zielen letztlich auf die Beantwortung der Frage ab:

Was genau sind die die Nutzenbeiträge aller Investitionen in Personal sowie in die Personalarbeit für das Unternehmen? Amortisieren beziehungsweise lohnen sich diese Investitionen, schaffen sie einen Mehrwert?

Ein Ausgangspunkt zur Bestimmung der maßgeblichen Kriterien für personelle Wertschöpfung ist das HR-Business-Partner-Modellvon Ulrich (1997). Dieses benennt vier strategische Handlungsfelder des Personalmanagements: (1) Die effiziente Durchführung von Personalprozessen, (2) die Serviceerbringung für die Mitarbeiter, (3) das Management von Wandel und Erneuerung im Unternehmen sowie (4) die Unterstützung der strategischen Unternehmensführung schaffen für das Unternehmen unmittelbar Wert. Und: Je profilierter das Personalmanagement eines oder mehrere dieser Handlungsfelder ausfüllt, desto besser kann der Rest des Unternehmens seinerseits Mehrwert erzeugen. Becker, Huselid und Ulrich (2001) haben mit ihrer spezifizierten HR-Scorecard und Scholz (2003) mit seinem Konzept der MO5-Wertschöpfungskette schon früh Vorschläge dazu unterbreitet.

In neuerer Zeit kommen Dimensionen der personellen Wertschöpfung hinzu, die mit dem Grundverständnis der Personalfunktion, ihrer „Haltung“ (Stein 2020), zu tun haben. So werden weitere Nutzenbeiträge des Personalmanagements für das Unternehmen beispielsweise durch dessen systematische Professionalisierung (vgl. Stein 2010) erschlossen; auch die Beiträge des Personalmanagements zur strategischen Risikosteuerung des unternehmerischen Geschäftsmodells, die sogenannte personalwirtschaftliche Risk Governance (vgl. Stein 2018), bietet zusätzliche Wertschöpfungspotenziale.

Konzeptionelle Erweiterung: Die zwei Bewusstseinsstufen der Wertschöpfung

Grundsätzlich vermitteln jegliche Kriterien für die personelle Wertschöpfung zunächst einmal den Eindruck, man könne diese weitgehend planen, dann im Umsetzungsprozess durch eigenes Handeln verfolgen und schließlich auf Basis von Messungen als „erreicht/nicht erreicht“ bewerten. Doch schon der kanadische Strategieforscher Henry Mintzberg hat 1978 darauf hingewiesen, dass nicht alles, was strategisch geplant (er nennt es „intendiert“) wird, auch so eintritt. Stattdessen werden Teile des Intendierten aufgrund unzähliger Faktoren nicht realisiert, andere tauchen – quasi aus dem Verborgenen (er nennt dies „emergent“) – auf. Solche unvorhergesehenen Ereignisse aus der Umwelt oder der Organisation werden idealerweise kontinuierlich in die Strategieumsetzung eingebaut. Eine schlussendlich realisierte Strategie kann damit durchaus von der ursprünglich geplanten Strategie abweichen.

Dieser Gedankengang ist auf die personelle Wertschöpfung übertragbar: Einige der Wertschöpfungsbeiträge sind relativ gut planbar und werden entsprechend umgesetzt – beispielsweise sowohl durch Büroarbeit am unternehmerischen Arbeitsplatz als auch durch Homeoffice. Andere Wertschöpfungsbeiträge entstehen „einfach so“, sind also emergent.

Die Kernfrage

Geht man davon aus, dass sowohl für die Büroarbeit am Unternehmensarbeitsplatz als auch für die Arbeit im Homeoffice durch geschickte Zielsetzungen und die Schaffung geeigneter Arbeitsbedingungen die intendiertepersonelle Wertschöpfung in Form der erwarteten Arbeitsergebnisse erreicht werden können, lautet die Kernfrage nun:

In welcher Form des Arbeitens – im Homeoffice oder vor Ort im Unternehmen – sind die Potenziale für die emergente personelle Wertschöpfung größer?

Denn Zufälle, Kontakt- und Reibungspunkte, Dynamiken und Konflikte innerhalb eines Teams können wesentliche Quellen der emergenten Personalwertschöpfung sein. Diese emergenten, stark kontext- und situationsabhängigen Faktoren stellen bislang einen blinden Fleck in der Beurteilung der Personalwertschöpfung in Bezug auf verschiedene Arbeitsmodelle dar.

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Die ungeplanten, emergenten Nutzeneffekte kollektiver Zusammenarbeit in Präsenz

Es ist zu erwarten, dass der emergente personelle Wertschöpfungsbeitrag überwiegend bei der Arbeit vor Ort entsteht. Denn obwohl isoliert für sich alleine arbeitende Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ungeplanten Dynamiken unterliegen, steigt mit zunehmender Vernetzung zu Kolleginnen und Kollegen die Dichte des Interaktionsnetzwerks, aus dem heraus weitere Emergenz resultiert. Je intensiver auf die Arbeit in Präsenz verzichtet wird, desto eher entgehen dem Unternehmen die ungeplanten Nutzeneffekte kollektiv-präsenter Zusammenarbeitsdynamiken.

Emergente Nutzeneffekte, die sich beim Einzelnen individuell einstellen, sind unter anderem:

  • Individuelle Motivation: Die neue Chance, im Homeoffice arbeiten zu können, steigert für viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer oftmals kurzfristig die Motivation. Allerdings kann sich dort langfristig ein Verlust an Fokussierung und Produktivität einstellen (vgl. Pattnaik & Jena 2020). In genau dieser langfristigen Sicht ist der wesentliche Faktor für eine andauernd hohe Motivation das Kollektiv mit seiner realen Erfahrbarkeit: Motivation benötigt immer wieder neue Aktivierung und Bestätigung und auch soziale Kontrolle von den anderen, die man grundsätzlich als Referenz zum ständigen Vergleich mit sich selbst heranzieht. Bereits die Gelegenheit, mit anderen unmittelbar darüber sprechen zu können, wie man sich gerade fühlt, ist ein zentraler Baustein der mentalen Gesundheit, die ihrerseits Grundvoraussetzung für individuelle Motivation ist. Darüber hinaus ist das Kollektiv, also die Belegschaft vor Ort, ein Motivationsfaktor, wenn es mit verbaler Kommunikation (Sprache) und nonverbaler Kommunikation (Mimik, Gestik) zur unternehmenskulturellen Sozialisation der Einzelnen beiträgt. Zentrale Instrumente einer solchen Sozialisation wie Trainings, Mentoring, gemeinschaftliche Veranstaltungen und das alltägliche Zusammenarbeiten (vgl. Asatiani et al. 2021, 66) können digital nur unzureichend nachgebildet werden beziehungsweise funktionieren im unmittelbaren sozialen Kontext besser. Ein weiterer personeller Wertschöpfungsbeitrag besteht darin, dass motivierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihrerseits zu Motivatoren werden, was wiederum positive Zusatzeffekte für die Unternehmenszielerreichung hat.
  • Individuelle Kreativität und Problemlösung: Die Nähe zur Führungsperson und zu Teammitgliedern steigert Wunsch und Engagement, dem Team oder dem Unternehmen zu helfen (vgl. Pattnaik & Jena 2020): Man will individuell nach Wegen suchen, Probleme zu lösen und das Unternehmen als Ganzes weiterbringen. Die individuelle Kreativität benötigt, neben einer herausfordernden Problemstellung und dem Freiraum zum eigenständigen Handeln, einen unmittelbaren Resonanzraum, also ein Umfeld aus Personen, die verbal oder nonverbal signalisieren, dass man mutig weitermachen könne mit neuen Ideen, Versuchen und Irrtümern – oder eben auch nicht. Das vorhandene personelle Umfeld gibt Sicherheit für den jeweils nächsten Schritt im kreativen Problemlösungsprozess und dient als – teilweise auch nur vermutete – soziale Bestätigung oder als soziales Korrektiv. Es stellt Vertrauen zur Verfügung, das in persönliches Selbstvertrauen und in Selbstwirksamkeitserfahrungen transformiert wird. Durch die Nähe von Kolleginnen und Kollegen, die Hilfestellung geben können, und durch die Führungskräfte, die Vertrauen vermitteln, entsteht bei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die Sicherheit, auch neue Wege einschlagen zu können und bei Bedarf den schnellen persönlichen Weg zu Ansprechpartnern zu suchen.
  • Individuelles Lernen: Wie Donnelly und Johns (2021, 95) zeigen, kann lediglich explizites und damit artikulierbares Wissen online weitergegeben werden. Implizites, nicht gut verbalisierbares Wissen hingegen muss vom Lernenden erfahren werden; es wird primär qua Präsenz offengelegt und dadurch für andere sichtbar und nutzbar gemacht. Arbeit in Präsenz reduziert die Gefahr der Wissensfragmentierung und des individuellen Hortens von Wissen, was beides Lernen behindert (vgl. Ferreira et al. 2021, 6). Ein Großteil des individuellen Lernprozesses geschieht vor Ort somit ganz pragmatisch durch Beobachtung und Verinnerlichung von Sicht- und Arbeitsweisen anderer. Folglich, wie Charalampous et al. (2019, 65-66) erkennen, kann sogenannte „professionelle Isolation“ aufgrund des Fehlens persönlicher informeller Netzwerke eine große Gefahr für die individuellen Lernprozesse sein. Teasley et al. (2000, 342) zeigen durch ihre Untersuchung „radikaler Ko-Lokation“, wie sie die räumliche Verdichtung von Teams in einem einzigen Raum nennen, wie wichtig die physische Nähe für das Lernen und das Lösen von Problemen ist: Durch die physische Nähe im Projektteam kann man rasch und formlos Kontakt aufnehmen zu Kolleginnen und Kollegen mit komplementären Fähigkeiten, man kann Diskussionen anderer mithören und man kann Hilfestellung bieten, wenn man beobachtet, dass ein Problem besteht. Durch die kollektive Interaktion wird somit das individuelle Lernen vorangetrieben. Zentral ist dabei die Führungsperson: Sie kann Kompetenzlücken wie auch Lernpotenziale einzelner Teammitglieder in der beiläufigen Beobachtung erkennen. Das Teammitglied selbst ist im Zweifelsfall nicht dazu in der Lage, und auch die digitale Interaktion hat hier ihre Grenzen.
  • Individuelle Karriereentwicklung: Arbeit in Präsenz ermöglicht es den Führungskräften, direkt zu beobachten, wo verborgene Talente einzelner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter liegen und wie diese entwickelt werden können. Weiterhin zeigt sich in der Arbeit in Präsenz unmittelbar, wer sich als zukünftige Führungsperson eignet: Sozialkompetenzen können in realer sozialer Interaktion erprobt und ausgebaut werden. So bietet sie den optimalen Kontext für die individuelle Karriereentwicklung. Demgegenüber zeigt sich ein signifikanter negativer Effekt der Arbeit im Homeoffice auf die Rate der Beförderungen (vgl. Bloom et al. 2014, 165). Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer könnten dazu verleitet werden, von zuhause aus zu viel zu arbeiten, um für die Führungskräfte wenigstens ein bisschen sichtbarer zu werden, was die Selbstausbeutung befördert.

Emergente Nutzeneffekte, die  im  Team oder im gesamten Unternehmen und damit kollektiv entstehen, sind darüber hinaus unter anderem:

  • Kollektive Legitimation der Führungskraft: Eine Führungskraft kann vor allem dann erfolgreich führen, wenn sie ausreichend legitimiert ist – wenn man ihr also zuspricht, sie verfüge über eine sachlich, persönlich etc. begründete Rechtfertigung, ihre Rolle auszuüben. Eine solche Legitimation findet in realer sozialer Interaktion statt, und zwar vor allem über den Weg, dass sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter untereinander Signale zur Akzeptanz der Expertise, der Professionalität und der Rollenausübung der Führungskraft senden. Wie aber soll eine Führungskraft ihre Legitimation stärken, wenn sie weder „live“ erlebt wird noch hierzu ein – zumeist beiläufiger – sozialer Austausch zwischen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erfolgt?
  • Kollektive Identifikation: Die Arbeit in Präsenz lässt den Mitarbeiter die Werte und Annahmen des Kollektivs erkennen und übernehmen. Die Sozialisation im Kollektiv vor allem in Präsenz führt zu einer Stärkung der Teamidentität, eine Erfahrung, die Technologie nicht rekonstruieren kann (vgl. Shapiro et al. 2002, 460). Das kollektive Erfolgsgefühl eines gemeinsamen Projektabschlusses stärkt den Zusammenhalt enorm. Nicht nur führt man sich einzelnen Kollegen verbunden, sondern dem gesamten Kollektiv. Der Verlust von personengebundenem Organisationswissen wird unwahrscheinlicher. Identifizieren sich die Individuen mit den Werten ihres Kollektivs, haben sie also „ihre mentalen Modelle parallelisiert“, wird weniger explizite Koordination notwendig, um alle Individuen auch ohne weitere Absprachen auf den Weg der gemeinsamen Zielverfolgung zu bringen und dort zu halten.
  • Kollektive Kreativität und Problemlösung: Digitale Treffen werden im Voraus terminiert, doch Spontanität und kollektive Kreativität lassen sich nicht im Voraus planen. Fehlt die physische Nähe der Arbeit in Präsenz, so bleibt auch das spontane Zusammentreffen aus. Fehlende Spontanität wiederum ist nachweislich eine hohe Hürde für das wechselseitige Sich-Hinterfragen sowie das Teilen von Wissen (vgl. Waizenegger et al. 2020, 434-435). Untersuchungen zeigen, dass schon ein räumlicher Abstand bei der gemeinsamen Arbeit von mehr als 30 Metern die Produktivität verringert (vgl. Teasley et al. 2000, 345). Selbst wenn es bei räumlich naher Zusammenarbeit zu Konflikten kommt, können es genau diese primär in kollektiver Präsenzarbeit entstehenden Reibungspunkte sein, die zu neuen Problemlösungen führen. Nahes Zusammenarbeiten führt zu einem „gemeinsamen kognitiven Raum“ mit hoher kollektiver Kreativität (vgl. Cirella 2021, 9). Hier werden Redebeiträge nicht wie bei der digitalen Kommunikation in einer linearen Abfolge organisiert, sondern die miteinander vernetzten Redebeiträge werden der vernetzten Problemstruktur gerecht. Das simultane Handeln im gemeinsamen Raum, das mögliche Aufschnappen von Ideen, das spontane Ein- und Austreten in Konversationen sowie das Heben gemeinsamer Synergiepotenziale führen zu einer deutlich höheren kollektiven Problemlösungskompetenz. Selbst wenn das Zusammenbringen des Kollektivs dabei geplant ist: Die Art der späteren tatsächlichen Problemlösung lässt sich kaum vorschreiben. Sie ist daher gewissermaßen intendierte Emergenz, bei der kreative Ansätze ergriffen werden können, die die Innovationskraft des Unternehmens dauerhaft steigern.
  • Kollektives Lernen: Das kollektive Lernen bedeutet die Ausrichtung verteilten Wissens aufeinander, sodass Kompetenzen optimal verteilt werden und es nicht zu ungewollten Redundanzen kommt. Hierbei beinhaltet kollektives Lernen auch Fehlschläge und negative Erfahrungen. Die Verarbeitung und Verbesserung dieser Erfahrungen treibt das Lernen voran. Im Kollektiv zu lernen, bietet den Vorteil, dass zum einen durch Kolleginnen und Kollegen eigene Fehler ausgebessert werden können, dass zum anderen aber auch das Vertrauen offensichtlich wird, dass Fehler gemacht werden dürfen. Diese Risikotoleranz und eine gesunde Fehlerkultur können aber nur unzureichend digital oder auf Textbasis übermittelt werden. Gerade bei Fehlschlägen und dem Umgang damit gibt die Körpersprache mehr Aufschluss darüber, was die Führungskraft oder ein Teammitglied fühlt. Verhaltensweisen wie „ich möchte mich entschuldigen“, „ich vergebe jemandem einen Fehler“ oder „dann lassen wir mal Gnade vor Recht ergehen“ wirken primär dann, wenn sie in einer persönlichen Begegnung ausgesprochen und zudem von der sozialen Gruppe beobachtet werden.

Fazit: Notwendige Neubewertung von Präsenzarbeit

In der Balancierung von Homeoffice mit der Präsenzarbeit im Unternehmen hat das Homeoffice noch nicht die Rolle als zentraler Referenzpunkt übernommen. Bei allen unbezweifelten Vorteilen bleiben entscheidende Limitationen: Es ist doch irgendwie grotesk, wenn Menschen im Homeoffice auf ihrem Bildschirm „Coworking-Streams“ aufrufen und dort live anderen Menschen beim Arbeiten zuschauen, nur um sich nicht einsam zu fühlen, wenn sie doch im Unternehmensbüro von einer realen Gruppenarbeitsatmosphäre profitieren könnten.

Die Präsenzarbeit nach der Pandemie wird nicht zwangsläufig der Präsenzarbeit vor der Pandemie gleichen: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben sich viel zu viele neue Kompetenzen angeeignet, als dass man sie ignorieren könnte – allerdings müssen diese nicht ausschließlich Vorzüge für die individuelle Arbeit von zuhause bieten. Folglich steht jetzt eine bewusste Neubewertung von Präsenzarbeit an: Wo ist sie „nach Corona“ interdependenter oder autonomer, risikofreudiger oder risikoaverser, schneller oder langsamer, qualitätsbewusster oder oberflächlicher etc. geworden? Lässt sich im Unternehmen die Wertschöpfung neu justieren, und bekommt hierbei die personelle Wertschöpfung die ihr zustehende Bedeutung?

Auch Führungskräfte lernten während der Pandemie neuartige Führungsstile. Vor allem mussten sie sich vor der Erwartung schützen, sie allein würden die Verantwortung für die Organisation jeglicher Arbeitsform samt der entstehenden Arbeitsbedingungen tragen.

Wenn es nun zur Rückkehr oder zumindest zur teilweisen Rückkehr von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie Führungskräften zur Arbeit in Präsenz kommt, treffen diese neuen Kompetenzen in neuer Form aufeinander. Für die (zumindest teilweise) Arbeit in Präsenz ergeben sich enorme Entwicklungspotenziale. Dabei bietet es sich an, der emergenten personellen Wertschöpfung ernsthaft Beachtung zu schenken.

Asatiani, Aleksandre, Hämäläinen, Julia, Penttinen, Esko, & Rossi, Matti (2021): Constructing Continuity Across the Organisational Culture Boundary in a Highly Virtual Work Environment. Information Systems Journal 31 (1), 62-93.

Becker, Brian E., Huselid, Mark A., & Ulrich, Dave (2001): The HR Scorecard: Linking People, Strategy, and Performance. Boston, Massachusetts: Harvard Business Press.

Bloom, Nicholas, Liang, James, Roberts, John, & Ying, Zhichun J. (2014): Does Working From Home Work? Evidence From a Chinese Experiment. Quarterly Journal of Economics 130 (1), 165-218.

Charalampous, Maria, Grant, Christine A., Tramontano, Carlo, & Michailidis, Evie (2019): Systematically Reviewing Remote E-workers’ Well-being at Work: A Multidimensional Approach. European Journal of Work and Organizational Psychology 28 (1), 51-73.

Cirella, Stefano (2021): Managing Collective Creativity: Organizational Variables to Support Creative Teamwork. European Management Review. https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1111/emre.12475.

DAK (2020): Digitalisierung und Homeoffice entlasten Arbeitnehmer in der Corona-Krise. 22.07.2020. https://www.dak.de/dak/bundesthemen/sonderanalyse-2295276.html#/.

Donnelly, Rory, & Johns, Jennifer (2021): Recontextualising Remote Working and its HRM in the Digital Economy: An Integrated Framework for Theory and Practice. International Journal of Human Resource Management 32 (1), 84-105.

Ferreira, Rafael, Pereira, Ruben, Bianchi, Isaías S., & da Silva, Miguel M. (2021): Decision Factors for Remote Work Adoption: Advantages, Disadvantages, Driving Forces and Challenges. Journal of Open Innovation: Technology, Market, and Complexity 7 (1), 70. https://www.mdpi.com/2199-8531/7/1/70.

Hofmann, Josephine, Piele, Alexander, & Piele, Christian (2021): Arbeiten in der Corona-Pandemie. Leistung und Produktivität im „New Normal“. Stuttgart: Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO).

Mintzberg, Henry (1978): Patterns in Strategy Formation. Management Science 24 (9), 934-948.

Pattnaik, Laxmiprada, & Jena, Lalatendu K. (2020): Mindfulness, Remote Engagement and Employee Morale: Conceptual Analysis to Address the “New Normal”. International Journal of Organizational Analysis 29 (4), 873-890.

Scholz, Christian (2003): Die Saarbrücker MO5-Wertschöpfungskette. In: Scholz, Christian, & Gutmann, Joachim (Hrsg.): Webbasierte Personalwertschöpfung, Wiesbaden: Gabler, 123-144.

Shapiro, Debra L., Furst, Stacie A., Spreitzer, Gretchen M., & Von Glinow, Mary A. (2002): Transnational Teams in the Electronic Age: Are Team Identity and High Performance at Risk? Journal of Organizational Behavior 23 (4), 455-467.

Stein, Volker (2010): Professionalisierung des Personalmanagements: Selbstverpflichtung als Weg. Zeitschrift für Management 5 (3), 201-205.

Stein, Volker (2018): Risk Governance als Herausforderung für das Personalmanagement. In: Surrey, Heike, & Tiberius, Victor (Hrsg.): Die Zukunft des Personalmanagements. Herausforderungen, Lösungsansätze und Gestaltungsoptionen, Zürich: vdf, 251-258.

Stein, Volker (2020): 30 Jahre HR-Transformation – Zeit für (neue) Haltung! In: Schwuchow, Karlheinz, & Gutmann, Joachim (Hrsg.): HR-Trends 2021. Strategie, Kultur, Big Data, Diversity, Freiburg: Haufe, 28-37.

Süddeutsche Zeitung (2020): Unternehmen sehen Homeoffice skeptischer als Arbeitnehmer. 15.11.2020. https://www.sueddeutsche.de/karriere/arbeit-unternehmen-sehen-homeoffice-skeptischer-als-arbeitnehmer-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-201114-99-329720.

Teasley, Stephanie, Covi, Lisa, Krishnan, M. S., & Olson, Judith S. (2000): How Does Radical Collocation Help a Team Succeed? Proceedings of the 2000 ACM Conference on Computer-Supported Cooperative Work (CSCW ‘00). Association for Computing Machinery, New York, NY, 339-346.

Ulrich, Dave (1997): Human Resource Champions: The Next Agenda for Adding Value and Delivering Results. Boston, Massachusetts: Harvard Business School Press.

Waizenegger, Lena, McKenna, Brad, Cai, Wenjie, & Bendz, Taino (2020): An Affordance Perspective of Team Collaboration and Enforced Working from Home During COVID-19. European Journal of Information Systems 29 (4), 429-442.

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